24. KAPITEL

„Ich fürchte, es hat mir hier besser gefallen, als noch alles mit Unkraut zugewuchert war. Da sah es hier zumindest grün aus.“

Faith und Lydia waren gerade zum Mühlstein hinuntergewandert, um sich Violets Inschrift anzugucken. Der Tonnenmann hatte Wort gehalten und am Vortag die letzte Efeuranke ausgerissen. Der Garten wirkte vollkommen trostlos.

„Ich weiß, es schaut schrecklich aus. Aber am Montag kommt ein Gartenbaumensch, der die toten Bäume zerlegt und ihre Wurzeln ausbuddelt. Das ist teuer, aber immerhin könnte ich mit all dem Brennholz ein paar Jahre heizen.“

„Und dann?“

„Dann pflanzen Alex und ich neue Bäume und Sträucher, die ich in einer Großgärtnerei besorge. Ähnliche Sorten, wie sie in Violets Garten wuchsen. Die Beete werde ich erst im Frühjahr mit Stauden bepflanzen, wenn ich dir und meinen Freundinnen in McLean ein paar Stecklinge abschwatzen kann. Und in diesem Herbst habe ich vor, ein paar günstige Blumenzwiebeln zu setzen.“

„Das klingt nach viel Arbeit. Bist du sicher, dass du dir das alles aufbürden willst?“

„Ich freue mich darauf, und wir brauchen einen Ort, an dem wir uns entspannen können. Übrigens hat Pavel mir versprochen, hier, wo das Glashaus gestanden hat, eine Laube zu bauen. Wenn er das tut, könnte ich Blauregen pflanzen, der im Sommer ein dichtes grünes Dach bildet.“

„Mr. Quinn verbringt viel Zeit hier und engagiert sich sehr für das Haus.“

„Er gehört nicht zu den Männern, die dafür eine Gegenleistung verlangen.“ Faith war sich nicht sicher, ob sie sich rechtfertigte oder Pavel verteidigte.

„Mir ist noch nie ein Mann begegnet, der wirklich gar nichts von einer Frau erwartet.“ Lydia wandte den Blick vom Garten ab und schaute ihre Tochter prüfend an. „Er gefällt dir sehr, nicht wahr?“

„Dafür gibt es gute Gründe. Er ist witzig, geistreich, charmant. Bei ihm muss ich mich nicht verstellen, sondern kann ganz ich selbst sein.“

„Das klingt, als würdest du von einem Border Collie sprechen.“

Faith gab den Versuch auf, ihrer Mutter etwas vorzumachen, und lachte. „Ich denke, wenn ich Pavel begegnet wäre, als ich noch mit David verheiratet war, hätte ich Schuldgefühle gehabt. Denn auch dann hätte ich mich von ihm angezogen gefühlt, trotz Ehering und so.“

„Dann verstehst du David jetzt vielleicht ein bisschen besser. Und all die anderen Menschen, die ihre Treueschwüre gebrochen haben, und sei es nur vorübergehend.“

Faith konnte nicht glauben, was sie da hörte. „Seit wann bist du eine Liberale, Mutter?“

„Was genau meinst du: Wann ich angefangen habe, eigene Gedanken und Meinungen zu entwickeln? Oder wann ich erkannt habe, dass Moral situationsabhängig ist?“

„Beides.“

Lydia hatte offensichtlich keine Lust, weiter über dieses Thema zu reden. Sie wandte sich wieder dem Garten zu und machte eine weit ausholende Geste. „Ich glaube, meine Großmutter wäre sehr zufrieden mit dir – und furchtbar unzufrieden mit mir. Ich bin so froh, dass du das alles in Ordnung bringst.“

„Dass du dieses Haus nicht haben wolltest, würde dir niemand je zum Vorwurf machen.“

„Jetzt ist es wieder ein Zuhause.“

Faith packte die Gelegenheit beim Schopfe und stellte die Frage, die sie am meisten bewegte. „Da wir gerade von einem Zuhause sprechen: Remy und ich haben angefangen, die Tapeten in ihrem Zimmer zu entfernen. Ich habe mich über die Muster gewundert, die wir gefunden haben.“

„Über Geschmack lässt sich nicht streiten.“

„Hast du eine der Tapeten ausgesucht?“

„Ich habe das Haus der Vermietungsagentur überlassen. Sie haben alle Entscheidungen getroffen.“

Faith versuchte es auf andere Weise. „Unter den neuen Schichten haben wir eine dunkelblaue Tapete und eine mit förmlichen grünen Streifen gefunden.“

„Remy wird bestimmt keine davon mögen.“

Faith war mit ihrem Latein am Ende. Wenn sie ihre Mutter nicht direkt auf das Fehlen einer Baby-Tapete ansprach, würde sie keine vernünftige Antwort erhalten.

Lydia blickte auf ihre Uhr. „Ich muss nach Hause. Heute Abend bekommen wir Besuch. Eine Meute wohlhabender Wähler, die dein Vater beeindrucken will. Eine gemütliche kleine Zusammenkunft von sechzig bis achtzig Personen.“

Faith wunderte sich, dass Lydia angesichts dessen nicht längst zu Hause war und bei den Vorbereitungen allmählich in Panik geriet. Sie erinnerte sich, dass ihre Mutter früher schon bei deutlich kleineren Partys von Migräneattacken heimgesucht worden war, weil sie zu hart gearbeitet und sich zu viele Sorgen gemacht hatte.

„Du bist natürlich eingeladen“, sagte Lydia. „Ich habe vergessen, dir das auszurichten.“

„Erzähl doch nichts. Der Senator hat seit dem Stromausfall kein Wort mehr mit mir gewechselt.“

Lydia schwieg einen Moment. „Er lässt sich nicht gern belehren. Er schmollt noch.“

„Er hat sich an dem Abend danebenbenommen.“ Faith hielt kurz inne. „Aber ich werde mich mit ihm versöhnen. Deinetwegen. Der Kinder wegen.“

„Leiden Alex und Remy unter dem Streit?“

Faith bezweifelte, dass ihre Kinder überhaupt etwas davon mitbekommen hatten. Joe verhielt sich distanziert, sodass er in ihrem Leben nur eine Randfigur war.

Ich leide darunter“, meinte Faith. „Familien müssen zusammenhalten.“

„Eine Plattitüde, die man in Frage stellen sollte, wie all die anderen Plattheiten in unserem Dasein.“

„Bitte?“

„Ich muss nach Hause, um die Vorbereitungen zu beaufsichtigen.“ Lydias Blick fiel auf die Hecke, die die Grenze zwischen Dottie Lees Garten und Faith’ Grundstück bildete. Dottie Lee tauchte gerade aus ihrem Haus auf. „Da ist diese Frau. Höchste Zeit zu gehen.“

„Früher wart ihr Freundinnen.“

„Bleib hier und rede mit ihr, wenn du willst.“ Lydia küsste Faith auf die Wange. „Ich freue mich darauf, diesen Garten wieder blühen zu sehen.“ Sie marschierte auf die Kellertreppe zu.

Faith schlenderte zur Hecke hinüber, als Dottie Lee ihr zuwinkte, und trat durch die Lücke in den Nachbargarten. Hier wirkte alles gepflegt und dezent. Es gab dichte immergrüne Pflanzen, künstlerisch angelegte Kiespfade und ein schmales, erhöhtes, rechteckiges Becken, das von Lilienbüscheln umrahmt wurde. Außerdem stand dort auch noch eine Steinskulptur, die ein kleines Mädchen darstellte, das sich über das Wasser beugt, um sein Spiegelbild zu bewundern.

„Das bin ich, erkennen Sie mich?“ sagte Dottie Lee und zeigte auf das Mädchen. „Mein Vater hat sie in Auftrag gegeben, als ich drei war.“

„Sie ist mir noch gar nicht aufgefallen.“ Faith war nicht zum ersten Mal in Dottie Lees Garten, aber bisher hatten sie immer über andere Dinge gesprochen.

„Was für ein Anachronismus ich doch bin: verbringe mein ganzes Leben im selben Haus. Lasse die Welt zu mir kommen.“ Dottie Lee klang dabei keineswegs unzufrieden.

„Haben Sie je woanders wohnen wollen?“

„Ach, einmal vielleicht. Ich bildete mir ein, jemanden zu lieben, und zog in Erwägung, ihm nötigenfalls bis ans Ende der Welt zu folgen.“

„Aber Sie haben es nicht getan?“

„Es gab ein kleines Problem: seine Frau.“

„Ich weiß nie, wann Sie es ernst meinen.“

„Ich meine es immer ernst.“ Dottie Lee ließ sich auf einer Bank nieder, von der man auf die riesigen Rhododendren blicken konnte, und machte eine einladende Geste. „Ich habe mitbekommen, dass Ihre Mutter da war.“

„Sie musste leider gerade gehen.“

„Meine Liebe, Ihre Mutter hat seit Jahren kein Wort mehr mit mir gewechselt. Sie hat Angst, dass ich zu viel weiß.“

Faith’ Herzschlag beschleunigte sich. „Und was wissen Sie?“

„Das habe ich Ihnen doch schon gesagt.“

„Nicht genau. Sie haben nur angedeutet, dass Sie von etwas Kenntnis haben, das die Laufbahn meines Vaters beenden könnte.“

„Ich habe mein ganzes Leben in der Prospect Street verbracht. Ich lebte schon hier, bevor Ihre Mutter und Ihr Vater hergezogen sind. Ich habe viele Dinge gehört und gesehen, aber was das Schlimmste ist: Ich erinnere mich an alles. Der Fluch eines wachen Geistes.“

Faith fühlte sich wie in einem Ratespiel. Dottie Lee rückte die Informationen nicht einfach so heraus. Faith musste immer Fragen stellen, und zwar die richtigen. Sie wusste aus Erfahrung, dass Dottie Lee auf allgemeine Fragen ebenso allgemeine Antworten gab.

Sie überlegte, welche der Informationslücken, die nach ihrem kurzen Gespräch mit Lydia verblieben waren, Dottie Lee schließen könnte. „Gestern bin ich auf etwas Interessantes gestoßen. Soll ich es Ihnen erzählen?“

„Ich habe sonst nichts vor.“

„Remy und ich haben die Tapeten in ihrem Zimmer untersucht. In Hopes ehemaligem Kinderzimmer.“

„Ja?“

Faith überlegte, ob sie der Sache nicht zu viel Bedeutung beimaß. „Es gibt etliche Schichten. Wie man es bei so einem alten Haus erwarten darf.“

„Und?“

„Keine der Tapeten passte zum Kinderzimmer eines kleinen Mädchens. Alles war sehr dunkel und streng, als hätte niemand das Zimmer für ein Baby hergerichtet. Verstehen Sie das?“

„Verstehen? Sie meinen, ob ich ein Zimmer neu tapeziert hätte, wenn ich Nachwuchs erwartet hätte?“

„Nein. Ob es Sie – angesichts des Charakters meiner Mutter – nicht erstaunt, dass sie das Zimmer nicht neu gestaltet hat. Sie erledigt ihre Weihnachtseinkäufe im Juli. Im August werden die Geschenke verpackt. Im September entscheidet sie sich, welcher Baumschmuck verwendet wird und wo jedes Teil hinkommt. Im Oktober ist das Weihnachtsfest fertig geplant.“

„Die Frau, die Sie kennen, ist nicht dieselbe, die ich gekannt habe.“

„Wollen Sie damit sagen, dass sie nicht immer so ein Zwangscharakter gewesen ist? Ich verstehe ja, dass Hopes Entführung sie verändert hat, aber ich kann nicht glauben, dass sie außer Stande war, ein Kinderzimmer herzurichten. War sie krank?“ Faith zögerte. „Depressiv? Hat sie das Haus schon gehasst, bevor Hope verschwunden ist?“

„Wir sollten diese Fragen der Reihe nach angehen.“

„In Ordnung. War sie krank? Hat sie das Zimmer deshalb nicht neu tapeziert?“

„Ich erinnere mich nicht, dass die Schwangerschaft mit Komplikationen verbunden war. Keinen organischen jedenfalls.“

Dieser Nachsatz schien auf etwas hinzudeuten. Faith hakte nach. „Dann war sie also niedergeschlagen? Hat es sich um eine schwierige Schwangerschaft gehandelt, weil meine Mutter unglücklich war?“

„Manchmal kann man am meisten von denjenigen erfahren, die von der Sache direkt betroffen sind.“

„Dottie Lee, die Entführung meiner Schwester ist eine offene Wunde.“

Dottie Lee schwieg einen Augenblick. „Sie war nicht glücklich, liebe Faith. Ich nehme an, die Schwangerschaft war keine gute Zeit für sie.“

Faith wusste, wenn sie sich einfach nach dem Grund erkundigte, würde Dottie Lee ausweichend antworten. Sie musste die Frage anders formulieren. „War sie wegen meines Vater unglücklich? Wegen all der Verpflichtungen, die mit seinem Amt verbunden waren?“

„Wie kommen Sie darauf, dass seine Arbeit die Ursache war?“

Faith fiel etwas ein, worüber sie in der Bibliothek gestolpert war. Für eine der vielen mühsam zusammengezimmerten Reportagen, die sie überflogen hatte, waren einige Freunde der Familie von einem Journalisten, der sich offensichtlich auf der verzweifelten Suche nach einem Skandal befunden hatte, befragt worden. Das Bild ihrer Eltern, das sich aus dem Artikel ergeben hatte, war Faith merkwürdig vorgekommen. Sie waren nur selten ausgegangen. Lydia schien den Gesellschaftstrubel von Washington nicht zu mögen und hatte sich nur daran beteiligt, wenn es unumgänglich gewesen war. Außerdem hatte Joe, der Lydia anfangs stolz herumgezeigt hatte, ihr offenbar nahe gelegt, sich während der Schwangerschaft zurückzuziehen. Als sie das gelesen hatte, war Faith das alles wie ein Hirngespinst eines Pressemenschen vorgekommen, der eine Titelseite füllen musste. Jetzt war sie sich dessen nicht mehr so sicher.

„Ich weiß, dass sie während der Schwangerschaft nicht viel unternommen hat. Wenn sie nicht krank war, hatte sie vielleicht das dringende Bedürfnis, sich ein Nest zu bauen. Aber andererseits hat sie ihrem Kind gerade kein Nest gebaut.“

„Nein, allerdings nicht. Bis Joe und sie das Baby aus der Klinik geholt haben, war dieser Raum das Arbeitszimmer Ihres Vaters. Ich glaube, sie haben wirklich nur ein Bettchen und eine Wiege hineingestellt.“

„Wollten sie kein Kind? Ist es das? War Hope ein Missgeschick?“

„Ich habe nicht in diesem Haus gewohnt – vor allem habe ich nicht in ihrem Ehebett geschlafen.“ Faith versuchte sich aus dem, was sie wusste, und dem, was sie sich zusammenreimen konnte, ein Bild zu machen. „Mit meinem Vater kommt man nur schwer aus. Es war sicher nicht leicht, sich an ihn zu gewöhnen. Und dann noch ein Baby ... Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass meiner Mutter ihr Kind so egal war, dass sie kein Kinderzimmer eingerichtet hat.“ Plötzlich fiel ihr etwas ein, und sie blickte hoch. „Es sei denn, meine Eltern hatten so ernsthafte Eheprobleme, dass Hope eine unwillkommene Verbindung darstellte. Vielleicht betrachtete meine Mutter Hope als Scheidungshindernis.“

„Lydia hat nie von Scheidung gesprochen.“

„War sie unglücklich genug, um sich eine zu wünschen?“

„Ihrer Mutter gefiel es, die Frau eines Kongressabgeordneten zu sein. Sie ist in einer Politikerfamilie aufgewachsen. Sie wollte die glücklichen Jahre ihrer Kindheit wieder aufleben lassen, in der sie lauter interessante und wichtige Leute kennen gelernt hatte. Nein, es gibt andere Wege, sich von den Fesseln einer Ehe zu befreien.“

Faith hatte keine Ahnung, was sie darauf antworten sollte.

Dottie Lee stand auf. „Haben Sie sich mal Fotos von Ihrer Mutter angeguckt, Liebes? Als sie frisch verheiratet war?“

Eigenartigerweise hatte Faith das ausgesprochen selten getan, sodass sie sich nur an wenige Aufnahmen erinnerte. An die Entführungsfotos natürlich. Fotos von ihrem Vater mit bedeutenden Politikern. Eines mit Präsident Kennedy, einige Jahre vor seiner Ermordung. Ein anderes mit dem jungen Nixon während seines erfolglosen Wahlkampfes um das Gouverneursamt in Kalifornien. Lydia konnte man auch auf diesen Fotos entdecken, aber sie wirkte eher wie eine Komparsin.

Dottie Lee wartete Faith’ Antwort nicht ab. „Lydia war eine reizende junge Frau. Ich habe nie begriffen, warum sie sich für Joe Huston entschieden hat. Sie war schön, gebildet, stammte aus einem guten Stall und verfügte über ausgezeichnete Kontakte. Sie hätte bessere Männer haben können. Tut mir Leid, dass ich das so drastisch ausdrücke, aber so war es. Ich nehme an, sie hat in Ihrem Vater mehr gesehen, als wirklich da war. Aber es gab andere Männer, die ein Auge auf sie geworfen hatten. Einige davon wichtiger und würdiger als er.“

Auch Faith erhob sich von der Bank. „Wollen Sie damit behaupten, dass sie eine Affäre hatte? Oder gerne gehabt hätte? Mit einem Kollegen meines Vaters?“

„Ich sage weiter nichts, als dass sie eine attraktive junge Frau war, die in einer Ehe festsaß, die unter keinem sehr glücklichen Stern stand. Eine Schwangerschaft könnte ihre Perspektive durchaus noch weiter verschlechtert haben.“

Faith versuchte, sich ihre Mutter in dieser Zeit vorzustellen. Sie hatte ihre Mutter immer für fast geschlechtslos gehalten: eine Frau, der körperliche Gunstbezeugungen offenkundig nicht behagten, die ihrem Enkelsohn die Hand schüttelte und jedes Mal erstarrte, wenn man sie umarmte. Hatte sich Lydia, enttäuscht von der Ehe, anderswo mehr versprochen? Hatte sie in den Armen eines anderen Mannes Trost suchen wollen – eine Hoffnung, die sich mit ihrer ungewollten Schwangerschaft zerschlagen hatte?

Und hatte das alles womöglich etwas mit Hopes Entführung zu tun?

Dottie Lee zupfte ein totes Blatt von einer Stechpalme ab. „Die Behörden haben sich bemüht, Ihre Schwester und ihren Entführer zu finden, und sind gescheitert. Was lässt Sie glauben, Sie könnten die Wahrheit herausfinden?“

Faith war sich nicht sicher, ob sie das wirklich wollte.

Dottie Lee klopfte sich die Hände ab. „Ihnen wird nicht gefallen, was Sie entdecken. Geheimnisse sind nie geheim, weil sie so schön sind, dass man sie mit niemandem teilen mag. Geheimnisse sind hässliche, widerspenstige kleine Unwesen, und wenn man sie erst einmal aufgedeckt hat, verfolgen sie einen bis ans Lebensende.“

„Na ja, sie verfolgen uns ohnehin.“

„Sie werden allmählich klüger, Faith. Allein das mitzuerleben macht das Leben in diesem alten Körper schon etwas erträglicher.“

Die Party war ein Erfolg, was Lydia nicht überraschte. Im Laufe der Jahre hatte sie ein Partyservice-Team zusammengestellt, das wusste, was sie wollte und wo man das bekam. Caterer, Floristen und Fensterputzer gaben ihr Bestes und erhielten dafür großzügige Trinkgelder. Das Reinemachen und die letzten Vorbereitungen wurden von Marley überwacht, sodass Lydia erst im allerletzten Augenblick auftauchen und alles abnicken musste. Sie arrangierte schon lange keine Blumen mehr um und quälte sich nicht mehr mit der Wahl zwischen Sektschalen und -flöten. Schon vor langer Zeit hatte sie unter schmerzlichen Umständen gelernt, welche Dinge wirklich zählten – und wie schwer es war, ohne sie zu leben.

„Gut gemacht, wie immer, Lydia. Ich glaube, es hat allen gefallen.“ Joe hatte seinen Anzug ausgezogen und trug nun einen Pyjama, der allerdings fast ebenso festlich wirkte. Das Leder seiner Pantoffeln war so gepflegt, als hatte er vor, sich damit auf dem Senatsparkett zu bewegen – dabei befand er sich auf dem Weg in sein Arbeitszimmer, wo er die halbe Nacht damit verbringen würde, Gesetzesvorlagen durchzuarbeiten und alle möglichen Mitarbeiter seines Stabs anzurufen.

„Freut mich, dass du zufrieden bist.“ Lydia knipste das Licht im Speisesaal aus, aus dem bereits alle Silbertabletts und Cocktailhappen geräumt worden waren.

„Gehst du jetzt ins Bett?“ Als sie nickte, machte er keine Anstalten, sie umzustimmen, sondern nickte seinerseits knapp und machte sich auf den Weg in sein Arbeitszimmer.

Sie schaltete überall das Licht aus, überprüfte die Alarmanlage und das Außenlicht und rief im Gästehaus an, um Samuel zu informieren, dass alles in Ordnung war und sie sich zur Nachtruhe zurückzogen.

Als sie im Schlafzimmer war, schloss Lydia die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen, als wolle sie jemanden daran hindern, ihr zu folgen. Natürlich tat das niemand. Sie konnte sich nicht erinnern, wann Joe sie das letzte Mal beehrt hatte. Irgendwann vor seinem Herzinfarkt. Lange, lange davor. Für den jungen Joe war Sex sehr wichtig gewesen, aber als seine Laufbahn in Schwung gekommen war, hatte sein Appetit rasch nachgelassen. Sie hatte sich das als eine Art Triebsublimierung erklärt und war nicht traurig darüber gewesen.

Ohne groß nachzudenken, schminkte sie sich ab und putzte sich die Zähne. Nachdem sie ihr Nachthemd übergestreift hatte, stellte sie sich ans Fenster und schaute zum Wäldchen, das ihr Anwesen vor neugierigen Blicken vollständig abschirmte. Irgendwo bellte ein Hund und wurde zur Ordnung gerufen. Sie meinte, in der Ferne ein Flugzeug zu hören, und als sie die Ohren spitzte, vernahm sie das Wispern der TV-Nachrichten, die Joe in seinem Arbeitszimmer laufen ließ. Er arbeitete stets bei eingeschaltetem, auf laut gestelltem Fernseher – vielleicht gaben ihm die Nachrichten beim Diktieren seiner Memos über irgendwelche entlegenen Formalitäten das Gefühl, im Zentrum der politischen Macht zu sitzen.

Ihre Liebe war verblüht, kaum dass sie begonnen hatte. Bereits nach der kurzen Hochzeitsreise und den ersten gemeinsamen Wochen in ihrem Haus war ihr aufgegangen, wie schrecklich sie sich geirrt hatte. Sie hatte Halsstarrigkeit für Stärke gehalten, Gerissenheit für Intelligenz, Besessenheit für Idealismus. Sie hatte niemanden gehabt, der ihr in den ersten Krisen mit Rat und Tat zur Seite stehen konnte. Naiv, wie sie gewesen war, hatte sie die Donnerwetter in ihrer Ehe einfach durchzustehen versucht, aber diese Stürme hatten ihr jeden Halt und jede Orientierung geraubt.

Und dann war plötzlich Dominik Dubrov aufgetaucht.

Die Arme vor der Brust verschränkt, betrachtete sie die Kiefern am Waldesrand, die der Mond mit einem goldenen Schimmer überzog. Irgendwo jenseits ihrer filigranen Zweige lag das Leben, das sie hätte führen sollen, ein Dasein voller Zärtlichkeit und Nähe und gemeinsamer Werte. Dieses Leben war immer etwas zu weit weg gewesen, knapp jenseits der Bäume oder Wolken oder der Reichweite ihrer Fingerspitzen.

Aber eine Ahnung davon hatte sie doch erhalten, und sie dachte oft an diese Zeit.

„Dominik, ich, also, ich bin überrascht.“ Lydia schob eine goldblonde Strähne hinter ihr Samtstirnband, mit dem sie sich bei der Hausarbeit die Haare aus dem Gesicht hielt. Sie hatte nicht damit gerechnet, Dominik heute zu sehen. „Haben Sie angekündigt, dass Sie heute kommen? Ich dachte, Sandor wollte sich um die Tapete kümmern.“

Dominik Dubrov trat von einem Fuß auf den anderen, was bei ihm jedoch kein Zeichen für Verlegenheit war. Er war ein selbstbewusster, höflicher Mann, dem es nicht an Selbstvertrauen mangelte. Obwohl er über wenig Geld und nicht sehr viel Bildung verfügte, hegte er keinerlei Zweifel daran, dass die Hausbesitzer, die ihn engagierten, sich für den Besten entschieden hatten. Dottie Lee Fairbanks hatte ihr erklärt, dass für die Renovierungsarbeiten am Hustonschen Reihenhaus eigentlich nur ein Mann in Frage komme, nämlich Dominik, und Lydia musste ihr beipflichten.

Dominik presste eine Wollmütze gegen seine Brust; vermutlich hatte er sie gerade erst abgenommen, bevor er klopfte. Fasziniert beobachtete sie, wie seine breiten Hände das cremefarbene Gewebe zwickten und streichelten: ganz sanft, als zupfe er an den Saiten einer Laute.

„Sandor hat noch woanders zu tun, aber ich bin in Miss Fairbanks Haus schon fertig.“ Er sprach mit Akzent; seine Stimme hatte einen leicht gutturalen Klang. Sein Englisch war passabel, doch die Vermutung lag nahe, dass sich sein Denken noch in irgendeiner slawischen Sprache abspielte. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie ihr College-Russisch an ihm ausprobiert, aber er hatte nur gelächelt.

Dominiks Lächeln war bemerkenswert: ein wenig schief und absolut unwiderstehlich.

„Wollen Sie, ich fange heute mit den Tapeten im hinteren Raum an? Ich kann ausmessen und vorbereiten.“

Joe mochte die Tapete in dem Zimmer, das er als Arbeitszimmer ausgewählt hatte, überhaupt nicht. Er fand Grün widerlich und behauptete, ihm werde schwindelig, wenn er den ganzen Tag diese breiten Streifen ansehen müsse. Sie hatte unzählige Musterbücher nach Hause geschleppt, und endlich hatte er sich widerwillig für eine marineblaue Tapete mit winzigen Bourbonenlilien entschieden, die symmetrisch in Reih und Glied marschierten.

Drei Monate waren sie erst verheiratet, und schon hatte sie Joes Manie, alles bis ins Kleinste zu kontrollieren, gründlich satt.

Lydia trat zur Seite, um Dominik hereinzulassen. „Was auch immer Sie vorhaben, es ist mir recht. Ich bin dabei, die Zierleisten anzustreichen.“

„Macht Ihnen das Spaß?“

„Ich würde gerne alles selbst machen. Ich wollte schon immer ein Haus einrichten. Als ich klein war, sind wir so oft umgezogen ...“ Ihr fiel auf, dass sie drauf und dran war, einem Handwerker ihr Leben zu erzählen.

„Ich bin als Kind auch gereist. Ich verstehe.“

Er drückte sich an ihr vorbei und achtete darauf, ihren Rock dabei nicht zu streifen, was ihm nicht leicht fiel, denn er war ein großer Mann. Dabei trug sie alte Sachen. Das hätte sie ihm mitteilen können, aber seine Umsicht gefiel ihr. In den ersten Wochen seiner Arbeit im Haus hatte sie Dominiks Gegenwart als etwas störend empfunden. Er war ein Mann und zudem ein Fremder. Aber im Laufe der Zeit war eine gewisse Nähe entstanden – schon weil sie beide sich den ganzen Tag allein im Haus aufhielten.

Lydia machte sich auf den Weg in die Küche. „Ich wollte mir gerade ein Glas Wasser holen. Möchten Sie auch etwas?“

Dominik folgte ihr. Vor einer Woche hatte er die Küchentapete entfernt und die Wand grundiert. Dann hatte sie alles sonnengelb gestrichen und in der Ecke ein Tellerregal mit handbemalter italienischer Keramik aufgehängt. Auf der Arbeitsfläche, neben den kobaltblauen Vorratsgefäßen, hockte ein Majolika-Hahn. Joe hatte heftig gegen das Hähnchen protestiert, aber in diesem Punkt war Lydia unnachgiebig gewesen.

„Puut-putt-putt-putt.“ Während Lydia ein Eiswürfelgefäß aus dem Gefrierfach holte und es unter den Wasserhahn hielt, um die Würfel besser herauslösen zu können, tat Dominik so, als kitzele er den Kehllappen des Hahns.

„Gefällt er Ihnen?“ Lydia drückte das Eis auf ein frisches Geschirrtuch.

„Sehr gut. Man soll lächeln, oder?“

„Ich wünschte, Sie könnten meinem Mann das klar machen.“ „Ein ernster Mann?“

„Bierernst.“

Dominik lehnte sich gegen den Arbeitstisch und schaute zu, wie sie einige Eiswürfel in zwei Gläser füllte und darauf Leitungswasser laufen ließ. Es kam ihr so vor, als würde er fast den gesamten Platz in der Küche einnehmen. Er hatte breite Schultern und lange, muskulöse Beine. Seine Haare und seine Augen waren schwarz und wirkten wild. Deshalb hatte man den Eindruck, dass es sich bei seinem guten Benehmen während der Arbeit lediglich um die Kehrseite von etwas Dunklerem handelte. Er hatte eine rosige Haut, hohe Wangenknochen und sehr ausgeprägte Züge. Seine Nase war etwas krumm und sah äußerst verwegen aus.

Sie konnte sich Dominik Dubrov gut als Kosaken vorstellen, fest im Sattel sitzend, mit dem Säbel an der Seite und einer Fellmütze auf dem Kopf, wie er über die weiten Steppen Russlands jagte.

„Ein Mann, der nicht im Stande ist zu lächeln, kann auch nicht lieben“, sagte er.

„Altes russisches Sprichwort?“

„Nein, beides macht einen glücklich.“

Lydia reichte ihm ein Glas und eine Serviette, falls er es abstellen wollte. „Manchmal kommt es mir so vor, als müsse man sich dafür schämen, wenn man sich über irgendetwas freut.“

„Manche Leute können mit glücklichen Menschen nicht umgehen.“

Unweigerlich musste sie an Joe denken.

„Sind Sie glücklich?“ Sie wusste nicht recht, warum sie ihm diese Frage stellte. So etwas fragte eine Frau ihren Handwerker nicht. Aber im Laufe der letzten Wochen hatte sie allmählich aufgehört, Dominik als bloßen Auftragnehmer zu betrachten. Er strahlte eine ruhige Klugheit aus, und dahinter spürte sie noch etwas anderes, etwas, das sie nur als „animalischen Magnetismus“ bezeichnen konnte – ein Ausdruck, mit dem „Photoplay“ oder „Silver Screen“-Stars wie Marlon Brando und den verstorbenen James Dean belegten, der aber auch auf Dominik zutraf.

„Ich habe einen Sohn. Mein Pasha macht mich glücklich.“

„Ein kleiner Junge! Wie alt ist er?“

„Zwei. Ein Satansbraten – sagt man so?“

„Ja, das ist eine gute Bezeichnung.“ Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass Dominik verheiratet war. Er trug keinen Ring, aber das war nicht ungewöhnlich für einen Mann. Joe hatte sich entschieden, einen zu tragen, aber vermutlich nur, weil er so auf seine Wähler solider und vertrauenswürdiger wirkte.

„Mit nur einem Jahr hat er angefangen, sehr viel zu reden.“

Mit Kindern kannte sich Lydia nicht wirklich gut aus, aber da Dominik stolz klang, musste das wohl früh sein. „Und ich nehme an, jetzt plappert er pausenlos?“

„Und ich plappere auch zu viel. Im Schlafzimmer ist niemand?“

„Nein, Sie können hineingehen.“

Er hielt ihr das Glas hin. „Danke.“

„Dominik, was glauben Sie: Bindet ein Kind Mann und Frau stärker aneinander?“

Die Frage schien ihn nicht zu überraschen. „Das meinen die meisten.“

„Was meinen Sie?“

Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich. „Manche Ehen, die können durch nichts gerettet werden, durch gar nichts.“

Sie spürte, dass er über seine eigene Ehe sprach, und fühlte sich seltsam erleichtert. Sie gehörte nicht zu den Leuten, die sich am Elend anderer Leute weideten, aber zu wissen, dass Dominik ähnliche Probleme hatte wie sie, gab ihr das Gefühl, ihm noch näher zu sein.

„Ich vermute, meine Ehe mit Joe würde durch ein Baby auch nicht besser.“

Er überlegte kurz, bevor er antwortete. „Sie sind nicht glücklich, Mrs. Huston?“

„Lydia. Nennen Sie mich doch bitte beim Vornamen. Wir kennen uns doch jetzt schon einige Zeit.“

Er zuckte mit den Schultern, ein gewaltiges Schauspiel seiner Muskelmassen.

„Ich bin nicht glücklich.“ Sie fragte sich, was sie ihm heute noch alles anvertrauen würde.

„Sie sind jung. Das Zusammenleben ist neu für Sie. Sie werden sich daran gewöhnen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe einen Fehler gemacht und weiß nicht, wie ich ihn ausbügeln kann. Ich will keine Scheidung, aber ich möchte auch nicht verheiratet bleiben.“ Tränen traten ihr in die Augen. Vielleicht war es leichter, so etwas einem fast Fremden zu beichten. Vielleicht lag es einfach daran, dass Dominik da war, als sie jemanden zum Reden brauchte.

Vielleicht lag es auch einfach daran, dass Dominik eben Dominik war.

„Scheidung ist nicht möglich?“ hakte er nach.

„Ich halte nichts von Scheidungen. Ich finde, man muss zu den Entscheidungen stehen, die man getroffen hat.“

„Da bin ich einer Meinung mit Ihnen. Meine Frau ist katholisch, für sie kommt das sowieso nicht in Frage.“

„Wir sind ja ein großartiges Gespann.“

„Ich wollte nicht neugierig sein.“

„Und ich wollte Ihnen nicht die Ohren voll heulen.“ Die Redewendung irritierte ihn offensichtlich, und Lydia musste lachen. „Jetzt habe ich aber genug über mich geredet.“

Eine Träne ließ sich nicht länger zurückhalten und glitt über ihre Wange. Dominik stellte sein Glas ab und fing die Träne mit einer Fingerspitze auf. Sie schloss die Augen, und er strich ihr sacht über die Wange, um Lydia zu trösten.

„Es tut mir Leid.“ Sie schluckte. „Ich weiß nicht, was heute mit mir los ist.“

Sie spürte seine Arme an ihrem Rücken, starke, besänftigende Arme. Er zog sie an seine Brust, damit sie sich besser fühlte. Ihn nun ihrerseits zu umarmen kam ihr vollkommen natürlich vor – so als sei sie mit ihm verheiratet und nicht mit diesem Mann, der sie nach einem ungeduldigen Tätscheln von sich geschoben hätte.

Sie lehnte den Kopf an seine Schulter und wollte den Tränen freien Lauf lassen, aber ihr Kummer hatte sich offenbar schon gelegt; er war einem anderen Gefühl gewichen.

Sie bemerkte, wie ein Schauder durch Dominiks Körper lief und in ihr eine ganz ähnliche Welle der Erregung auslöste. Er fühlte sich großartig an, und das ging weit über Trost hinaus.

Sie musste sich von ihm lösen, bevor es zu spät war. Sie hatte keine Angst vor Dominik. So stark er auch war, er würde sie niemals bedrängen.

Sie hatte vielmehr Angst vor sich selbst.

Keiner der beiden rührte sich. Schließlich blickte sie hoch. Mit halb geschlossenen Lidern schaute er sie an. Er ließ sie nicht los, verstärkte seine Umarmung jedoch auch nicht. Er stand ruhig da und wartete darauf, dass sie ihm sagte, was zu tun war.

Welten taten sich ihr auf.

Jetzt blieb Lydia, die seit neununddreißig Jahren keine derart leidenschaftliche, mit brennendem Verlangen erfüllte Umarmung mehr erlebt hatte, nichts anderes übrig, als sich selbst Trost zu spenden. Sie schlang die Arme um ihren Körper und lehnte die Stirn ans Fenster.