35. KAPITEL
Dieses Jahr war der Weihnachtsbaum der Hustons mit mundgeblasenen Glas-Eiszapfen und filigranem Baumschmuck aus Deutschland behängt. Außerdem war die drei Meter hohe Blaufichte mit Zimtstangenbündeln, die von rotem Taftband zusammengehalten wurden, und mit getrockneten Orangen- und Zitronenscheiben dekoriert. Lydia saß neben dem Baum und wartete auf Faith.
Die Uhr hatte bereits Mitternacht geschlagen, und obwohl Faith sich darüber im Klaren war, dass ihre Mutter nie vor dem frühen Morgen einschlief, war der nächtliche Besuch ungewöhnlich.
Lydia wusste, dass ihre Enkelkinder übers Wochenende nicht da waren, aber das konnte Faith’ Anruf vor einer Stunde nicht erklären. Sie hatte nicht gefragt, ob sie nach Great Falls kommen könne, sondern ihren Besuch einfach angekündigt.
„Du bist noch auf?“
Lydia drehte sich um und sah Joe in seinem Flanell-Morgenmantel in der Tür stehen. Er schien verstimmt, dass er heute Nacht nicht ungestört durchs Haus wandern konnte.
„Faith kommt.“
„Um diese Zeit?“ Er klang noch verstimmter. „Du hättest ihr bessere Manieren beibringen sollen.“
„Ihre Manieren sind perfekt, aber deine machen mir allmählich Sorgen.“
„Mir steht nicht der Sinn nach Gesellschaft. Sag ihr, dass ich zu Bett gegangen bin. Und sorg dafür, dass sie nicht zu lange bleibt. Wir haben morgen früh im ,Mayflower‘ ein Gebetsfrühstück.“
„Ich werde darauf bestehen, dass sie hier übernachtet.“
Er schnaubte, verschwand aber ohne weitere Kritteleien. Sie war erleichtert.
Im Haus war es still, als sie Faith’ Auto in der Einfahrt hörte. Dank Samuel konnte sonst niemand so weit vordringen. Sie öffnete die Tür, bat Faith herein, nahm ihr den Mantel ab und hängte ihn in die Garderobe, ohne dass viele Worte gewechselt wurden.
Faith folgte Lydia ins Wohnzimmer, wo winzige weiße Lichter im Baum blinkten. „Nimm Platz“, forderte Lydia sie auf. „Möchtest du etwas trinken?“
Faith lehnte ab. Sie zitterte, und Lydia ging zum Kamin, um die Gasflamme zu entzünden. Im Zimmer war es bereits warm, aber die Außentemperatur lag unter dem Gefrierpunkt. Es war Schnee gefallen, mehr sollte folgen.
„Du musst bleiben“, meinte Lydia. „Ich lass dich so spät nicht mehr nach Hause fahren. Was hast du dir nur dabei gedacht, bei diesem Wetter herzukommen?“
„Ich habe mir gedacht, dass es keinen Aufschub verträgt.“
Lydia wusste nicht, was sie antworten sollte. „Sind die Kinder gut weggekommen? Alex mit seinem Vater?“
„Sie sind beide mit David unterwegs.“
Lydia, die auf dem Weg zu dem Sofa war, auf dem Faith saß, verlangsamte ihre Schritte. „Du machst Witze.“
„Nein, Remy wollte mitfahren. Es hat einen hässlichen Zwischenfall gegeben, Mutter. Sie hat sich mit Jungen vom College herumgetrieben, jungen Männern aus unserer Straße. Ich will das jetzt nicht ausbreiten, aber sie ist okay. David hat sie aus einer üblen Klemme befreit, und sie haben sich versöhnt.“
Lydia kam zu ihr, nahm eine aus luftigem weißen Mohair gehäkelte Winterdecke von der Sofalehne und wickelte sie Faith um die Beine. „Deshalb bist du also gekommen. Kein Wunder, dass du so aufgeregt bist.“
„Mutter, du weißt noch nicht einmal die Hälfte.“
„Remy ist in Ordnung? Wirklich?“
„Ich denke schon. Und David kümmert sich um sie. Aber deshalb bin ich nicht hier.“
„Warum dann?“
„Ich bin nicht sicher, wie ich es dir beibringen soll.“
Lydias Herz schlug schneller. „Das ist die schlechteste Eröffnung überhaupt. Erzähl es mir einfach.“
Faith beugte sich vor, um Lydias Hände zu ergreifen. „Mutter, wir haben Hope gefunden.“
Pavel Quinn, Dominiks Sohn, flog noch am selben Tag nach Kanada, um seine Halbschwester zu suchen. Er kannte Leute in mehreren New Yorker Verlagen und war zuversichtlich herauszufinden, wo Hope wohnte. Hope, die jetzt Karina hieß.
Karina Gililand, eine Frau mit einem Haus, einer Familie und einem Beruf.
Trotz Lydias Protesten war Faith, nachdem sie ihr die ganze Geschichte erzählt hatte, nach Hause gefahren, um Lydia und Joe Gelegenheit zur Klärung zu geben. Lydia hatte es irgendwie geschafft, ihre Tochter zur Tür zu begleiten, sogar auf die Wangen zu küssen und sie wegfahren zu sehen. Aber es dauerte Stunden, bis sie dieses unwirkliche Gefühl loswurde. Die halbe Nacht starrte sie zitternd die Decke an. Als sie kurz vor Anbruch der Morgendämmerung einschlief, hatte sie wieder den altbekannten Albtraum, aber diesmal war die Musik sanft, und Sonnenlicht strahlte durch die Fenster. Diesmal fand sie den Weg in Hopes Zimmer, und der Säugling lag friedlich schlummernd in seinem Bettchen.
Als Lydia aufwachte, wusste sie nicht, wie sie es ihrem Mann sagen sollte, aber sie sah ein, dass Faith Recht hatte: Dieses Gespräch vertrug keine Zuhörer.
Um sieben hielt sie es nicht mehr im Bett aus. Sie zog sich einen Morgenmantel über ihr Nachthemd und ging Kaffee kochen. Marley hatte einen freien Tag, und Lydia war froh, mit ihrem Mann allein zu sein.
Um halb acht kam Joe fertig angekleidet in die Küche. Sie mussten erst um halb zehn aus dem Haus, aber wie immer würde er die nächsten zwei Stunden in seinem Büro arbeiten.
„Setz dich“, sagte sie. „Wir müssen reden.“
„Ich muss telefonieren. Geht das nicht später?“
„Nein, unmöglich.“ Sie trug ein Tablett mit dem Kaffeeservice und einem Teller mit Toast ins Frühstückszimmer, und er folgte ihr widerwillig.
„Geht es um Faith?“
„Nein.“ Lydia stellte das Tablett auf die Anrichte und schenkte sich selbst Kaffee ein, bevor sie sich umdrehte. „Nein, Joe, es geht um Hope.“
Joe nestelte an der Faltjalousie des Fensters herum, das seinem Stuhl am nächsten war. Er drehte sich um und zog die Brauen zusammen. „Was kann es da schon Neues geben?“
„Dass sie gefunden worden ist.“
Sein Ausdruck blieb unverändert. Sie wusste, dass er ihr nicht glaubte.
Lydias Knie drohten nachzugeben. Mit der Tasse in der Hand ging sie zum Tisch und sank auf ihren Stuhl. „Natürlich heißt sie nicht mehr Hope Huston. Ihr Name ist Karina Gililand. Ich habe ein Foto. Willst du es sehen?“
„Das ist doch absurd!“
Die Jalousie schlug gegen das Fenster, sein Stuhl scharrte über das Parkett. „Was versuchst du mir da unterzujubeln?“
„Die Wahrheit.“ Lydia konnte die Tasse nicht mehr halten und setzte sie ab. „Hope lebt in Kanada, wahrscheinlich in der Gegend von Toronto. Sie hat all die Jahre in Kanada gelebt. Ihre Zieheltern haben sie Karina genannt, aber sie waren viel älter als wir, und jetzt sind sie tot. Pavel Quinn hat im Internet einiges über sie herausgefunden. Karina hat einen Mann namens Bob Gililand geheiratet und mit ihm zwei Kinder bekommen, aber sie sind geschieden. Sie schreibt Kinderbücher. Faith hat sie alle. Ich habe sie sogar unseren Enkeln vorgelesen.“
„Du redest wirres Zeug.“ Joe stand auf und ging zur Anrichte, um sich Kaffee zu holen. „Warum hältst du diese fremde Frau für Hope?“
„Weil der Mann, der Hope entführt hat, Faith die ganze Geschichte erzählt hat. Pavel und sie überprüfen seine Angaben natürlich. Aber es gibt keinen Grund anzunehmen, dass er lügt. Alles passt zusammen.“
„Du würdest auch glauben, dass ein Raumschiff das Baby mitgenommen hat, wenn irgendein Idiot in Star-Trek-Uniform dir berichten würde, dass er in jener Nacht blinkende Lichter am Himmel gesehen hat.“
„Nein, Joe. Aber das hier glaube ich.“
Er warf sich auf seinen Stuhl und stellte die Tasse klappernd auf den Tisch. „Wer hat sie entführt?“
„Sandor Babin, Dominiks Cousin und Gehilfe. Dominik hatte nichts damit zu tun. Er hat es erst später erfahren.“
„Warum? Es gab keine Lösegeldforderung.“
„Weil du dem Kind nach dem Leben getrachtet hast. Zumindest glaubte Dominik das. Du bist zu ihm gegangen und hast ihm mit Ausweisung gedroht, dann hast du ihm gesagt, wie einfach man ein Baby ersticken kann ...“
„Ich – habe – nichts – dergleichen – getan!“ Joe schien außer sich vor Wut, aber sein Gehabe wirkte nicht ganz aufrichtig.
Lydia fixierte ihn. Sie wollte ihm glauben. Sie liebte Joe Huston nicht. Sie mochte ihn nicht einmal. Aber mehr als alles andere wollte sie glauben, dass Joe nie vorgehabt hatte, ihre Tochter umzubringen, und dass Dominik ihn missverstanden hatte.
Wie konnte sie sich sonst verzeihen?
Sie beendete ihre Geschichte, wobei sie ihn nicht aus den Augen ließ. „Sandor hat erfahren, was du Dominik erzählt hast, und hat die Initiative ergriffen. Er behauptet, er habe um Hopes Leben gefürchtet.“
„Wo ist dieser Mann jetzt?“
„Obdachlos. Zerstört. Die Entführung hat ihn nicht mehr losgelassen. Wir alle ...“ Sie kämpfte mit den Tränen. „Wir alle haben so darunter gelitten. Sogar du, Joe.“
„Was soll das heißen?“
„Ich habe jahrelang gedacht, du wärst dafür verantwortlich. Das weißt du. Du hast Dinge gesagt, die diesen Verdacht genährt haben. Du weißt, was das für unsere Ehe bedeutet hat. Dieses Haus ist eine Festung. Wir hatten nie eine Chance.“
„Wir haben getan, was wir tun mussten.“
„Jetzt müssen wir noch etwas tun. Wenn Karina Gililand wirklich Hope ist, müssen wir es der Öffentlichkeit mitteilen. Dieses Geheimnis wird ans Licht kommen wie alle Geheimnisse. Sobald wir mit ihr in Verbindung treten, wird es jemand herausfinden. Wir müssen sicherstellen, dass diese Geschichte wahrheitsgetreu und mit Feingefühl verbreitet wird.“
Joe sprang auf, noch bevor sie geendet hatte. „Wir werden uns, verdammt nochmal, nicht mit ihr in Verbindung setzen, und wir werden keinem etwas davon verraten! Willst du deine Affäre vor aller Welt ausbreiten? Deine Beziehung zu Dubrov? Herumposaunen, dass dein Baby unehelich war? Das lässt du gefälligst sein, Lydia. Du lässt diese Frau in Ruhe!“
„Ich lasse mich nicht davon abhalten, sie kennen zu lernen. Sie ist mein Kind, mein kleines Mädchen! Es ist mir egal, dass das schwer zu erklären sein wird. Wenn sie mich kennen lernen will, möchte ich ihre Mutter sein. Ich lasse mich nicht länger von ihr fern halten.“
„Du? Du! Alles dreht sich um dich. Was ist mit meiner Karriere?“
„Wir müssen uns genau überlegen, wie wir die Geschichte erzählen, und wem. Wir ...“
Joe war zu aufgebracht, um zuzuhören. „Wenn ich gewollt hätte, dass alle Welt über Hope Bescheid weiß, hätte ich längst die Wahrheit gesagt!“
„Dazu hattest du keinen Grund. Du wolltest nicht, dass die Leute erfahren, dass ich eine Ehebrecherin bin ...“ Lydia sprach nicht weiter, denn der Gesichtsausdruck ihres Mannes verwirrte sie. Seine Wut war abgeflaut, und er wirkte plötzlich, als sei er vor etwas auf der Hut. Einen Moment lang wurde sie unsicher und überlegte, was es mit seinen unbeherrschten Worten und seinem Stimmungsumschwung auf sich hatte.
Dann begriff sie es.
Mit zitternden Knien erhob sie sich. „Du meinst gar nicht mein Verhältnis, nicht wahr? Du wusstest, wer sie geholt hat. Die ganze Zeit über wusstest du, wo sie war und wie es sich abgespielt hat. Joe, du wusstest es!“
„Natürlich nicht. Ich habe über dich und Dubrov gesprochen und ...“
„Du Lügner!“ Sein Zorn war nichts im Vergleich zu ihrem. „Du wusstest, dass mein Baby lebte. Du wusstest, wo! Und du hast es mir verschwiegen! Du hast dich an meinem Leid geweidet. All die Jahre hast du zugeguckt, wie ich innerlich vor die Hunde gegangen bin, wie sich mein Herz in Eis verwandelt hat. Du Dreckskerl!“
Er leugnete es nicht. Auf seinem Gesicht machte sich so etwas wie Befriedigung breit. „Du hattest es verdient, nach dem, was du mir angetan hast. Ja, ich wusste es, weil Babin ein Idiot war. Er hat ein Heiligenbildchen verloren, als er sich an diesem Tag über Hopes Bettchen gebeugt hat. Die ungarische St. Elisabeth, Schutzheilige der armen Leute. Ist das nicht herrlich? Ich habe es zwischen der Matratze und dem Rahmen gefunden, als du unten warst und die Polizei angerufen hast. Ich bin Sandor Babin begegnet, als er das Reihenhaus angestrichen hat. Ich wusste, dass seine Familie aus Ungarn stammte und er Dominiks Cousin war. Er hätte ebenso gut seine Visitenkarte hinterlassen können.“
Lydia sank auf ihren Stuhl. Sie starrte den Mann an, mit dem sie seit fast vierzig Jahren verheiratet war. Sie hatte ihn selbst dann nicht verlassen, als er den Präsidenten ermorden lassen wollte, und später, als sie fürchten musste, dass er an der Entführung ihrer Tochter beteiligt gewesen war. Sie war bei ihm geblieben, hatte ihm ein Kind geboren und im Wahlkampf geholfen. Und die ganze Zeit über hatte er sie kaltblütig gequält. Er hatte ihr den Fehltritt nie vergeben und seine Schuld nie eingesehen. Er hatte sich einfach gerächt.
„Du kannst nicht im Senat bleiben. Auf keinen Fall“ sagte sie schließlich.
„Hast du den Verstand verloren? Willst du alles zerstören, wofür wir gearbeitet haben?“
„Ja, das möchte ich. Du bist ein schlechter Mensch, und ich lasse nicht zu, dass du weiter Schaden anrichtest. Dein Herzinfarkt kam wie gerufen, Joe: ein guter Vorwand für deinen Rücktritt. Und die Öffentlichkeit wird einen Teil von Hopes Geschichte erfahren. Wie viel, das hängt davon ab, ob du dich still zurückziehst. Wenn du dich wehrst, wenn du dich an deinen Stuhl klammerst, dann werde ich den Medien verraten, dass du die ganze Zeit über wusstest, wo Hope war, sogar als du vor laufenden Kameras an die Entführer appelliert hast.“
„Niemand wird dir glauben.“
„Schon möglich. Aber dann werde ich sie über deinen Kennedy-Plan informieren, und daran wird niemand zweifeln. Ich habe, wie du weißt, Beweise.“
Er versuchte es mit einer weiteren Drohung. „Du hast diese Beweismittel all die Jahre zurückgehalten. Die Konsequenzen würden dich ebenso treffen wie mich. Auch dich würden sie teeren und federn.“
Ihr Lächeln kam ihr neu und strahlend vor, der erste in einer langen Reihe von Glücksmomenten in den Jahren, die ihr noch blieben. Die innere Leere war wie weggeblasen. Der Rest ihres Lebens lag vor ihr.
„Ich habe meine Töchter, Joe, und vier Enkelkinder, die mich brauchen. Sie müssen mich nicht wählen. Ich muss nicht um sie werben. Ich muss nur zu ihnen gehen. Ich habe alles, was ich brauche, und mehr, als ich je für möglich gehalten hätte, und du wirst an meinem Leben nicht mehr teilhaben. An dem Tag, an dem du dein Amt niederlegst, reiche ich die Scheidung ein.“
Pavel hatte den Winter in Washington immer für kalt gehalten. Er hatte auch – theoretisch zumindest – gewusst, dass es in Toronto noch kälter sein würde. Er war nach dem Zwiebelschalen-Prinzip gekleidet, und als äußerste Schicht hatte er eine Jacke gewählt, die für den Skiurlaub in West-Virginia angeschafft worden war. Aber es gab nicht genügend Kleidung auf der Welt, um gegen den beißenden kanadischen Wind anzukommen. Im Flugzeug hatte ein stolzer Bürger von Toronto ihm freudestrahlend erklärt, dass diese Stadt das Schlachtfeld war, über dem die arktische Kaltluft aus dem Norden mit den warmen, feuchten Luftmassen vom Golf von Mexiko zusammenprallte.
Mutter Natur hatte den Krieg erklärt, und Pavel war Pazifist.
Der Himmel war dunkel, als er sich zum Park Hyatt im historischen Yorkville begab, eingehüllt in den gesamten Inhalt seines Koffers. Er kannte das Hotel, denn bei seinen Geschäftsreisen übernachtete er immer dort, und Karina wohnte in der Nähe der Universität, also in derselben Gegend. Er war durch einen Trick an ihre Adresse gekommen, und denselben Kunstgriff wollte er einsetzen, wenn er sie anrief.
Er checkte ein und genehmigte sich eine lange, heiße Dusche im schmucken, mit Marmor ausgekleideten Badezimmer. Nach zehn Minuten war er so weit aufgetaut, dass er ohne Zähneklappern sprechen konnte. Er trocknete sich ab und wickelte sich in einen Bademantel, griff aber nicht gleich zum Telefonhörer. Faith’ Abschiedsworte vom Flughafen klangen ihm in den Ohren.
„Verschreck sie nicht, Pavel. Lern sie erst ein bisschen kennen. Werdet warm miteinander. Dann kannst du ihr erzählen, dass ihr ganzes Leben auf einer Lüge aufgebaut ist.“
Er hatte hinzugefügt: „Und dass sie gnadenlos von der Presse gehetzt werden wird, sobald die Sache rauskommt.“
„Und dass meine Mutter sie braucht. Dass ihr Herz brechen wird, wenn Hope ... Karina sie zurückweist.“
„Wenn sie mich zum Essen einlädt, sollte uns das durch die Vorspeise bringen.“
Faith’ musste lachen. „Ich würde ja mitkommen. Wirklich. Aber wir wollen sie nicht abschrecken.“
„Du bist diejenige, die verschreckt ist.“
Sie nickte.
Auch Pavel war nervös. Er war immer allein gewesen, und meistens hatte ihm das nichts ausgemacht. Seine familiären Erfahrungen waren nicht gerade berauschend: ein Vater, der sich aufgehängt, und eine Mutter, die sich zu Tode gesoffen hatte. Entfernte Cousins, die nichts mit ihm zu tun haben wollten, und jetzt deren obdachloser Vater, der vielleicht für immer untertauchen würde.
Sandor – Alec der Tonnenmann – war klug genug gewesen, Washington zu verlassen. Nach ihrer Unterhaltung hatten Pavel und Faith ihm alles Gute gewünscht, und Pavel hatte dem alten Mann jeden Cent aus seinem Portemonnaie sowie seine mörtelbekleckste Rolex zugesteckt. Auf dem Heimweg waren Faith und er übereingekommen, die Behörden nicht früher über Karina zu unterrichten als unbedingt nötig. So hatte Alec einen guten Vorsprung, bis die Sache in die Nachrichten kam. Pavel war sich sicher, dass sie den Mann nie wiedersehen würden.
Pavel fragte sich, ob er auch die verwandtschaftliche Beziehung zu Karina in den Sand setzen würde. Als Sohn und als Cousin hatte er versagt. Er war für keine Frau je die „bessere Hälfte“ gewesen. Was für einen Bruder würde er abgeben? Und allem voran: Würde sie ihm eine Chance geben, das herauszufinden?
Er gab sich einen Ruck, ergriff den Hörer und wählte die Nummer, die er Karinas Literaturagentin entlockt hatte.
Ein Kind ging an den Apparat: seine Nichte, wie er annahm. Ihre Stimme war hell und süß, und als sie den Hörer fallen gelassen hatte, kam sie noch einmal zurück und entschuldigte sich. Dann holte sie ihre Mutter.
Während er warten musste, räusperte er sich zweimal und stellte fest, dass seine Nervosität allmählich in Panik überging. Als Karina sich meldete, räusperte er sich noch einmal.
Karina klang zum Glück anders als Faith. Er war sich nicht sicher, ob er das verkraftet hätte; womöglich wäre er dann sofort mit der Tür ins Haus gefallen. Stattdessen stellte er sich als Präsident von „Scavenger“ vor, der in Toronto Geschäftliches zu erledigen hatte. Dann ließ er die geplante Lüge vom Stapel.
„Wir möchten eventuell eine Website für Kinder gestalten. Einen sicheren Ort, an dem sie Spiele spielen, online Bücher lesen und etwas über Computer lernen können.“ Er fand die Idee wirklich nicht schlecht und nahm sich vor, sie später mit Alex zu diskutieren.
„Ihr Name kam uns in den Sinn“, fuhr er fort, „als wir über mögliche Berater nachgedacht haben, und Ihre Agentin meinte, das könnte Sie durchaus reizen.“
Sie antwortete in einem sanften Tonfall; offenbar hatte sie es nicht nötig, sich aufzuplustern. Sie klang nicht wie eine Frau ohne Selbstbewusstsein, sondern wie eine, für die das nie ein Problem gewesen war. „Mary Ann hat Ihren Anruf schon angekündigt.“
Pavel war froh, dass diese Fremde ihm den Weg geebnet hatte. „Es tut mir Leid, dass das so plötzlich und so kurz vor Weihnachten passiert, aber diese Reise hat sich kurzfristig ergeben. Und jetzt sitze ich hier und habe am Abend nichts vor. Können wir uns vielleicht zum Abendessen in meinem Hotel treffen?“
So früh konnte sie nicht, da sie für ihre Kinder sorgen musste, aber sie versprach ihm, später auf einen Drink in die Dach-Lounge des Hotels zu kommen, falls die Nachbarin zum Babysitten bereit war. Er versprach ihr prasselndes Kaminfeuer und einen tollen Blick über die Stadt. Als er auflegte, dachte er schon darüber nach, was er sagen würde. Er hatte viel Zeit, das auszuarbeiten.
Vier Stunden später saß er strategisch geschickt auf einem Sofa in der Nähe des riesigen Kamins und behielt die Tür im Auge. Jetzt kam sie herein. Sie war kleiner, als er erwartet hatte, aber doch größer als ihre Schwester. Ihr Haar war länger als auf dem Foto, eine dunkle, lockige Mähne, die fast ihre Schultern berührte. Sie hatte ein marineblaues Strickkleid an, das bis auf ihre dunklen Stiefel reichte, und trug einen einfachen Stoffmantel über dem Arm. Als er aufstand, kam sie auf ihn zu und reichte ihm die Hand.
„Mr. Quinn?“
„Pavel.“ Die Wärme ihrer Hand machte ihm Mut. Sie setzte sich neben ihn. „Diese Dach-Lounge ist angeblich das Wasserloch der wohlhabenden Schriftsteller unserer Stadt. Unnötig zu erwähnen, dass ich selten herkomme.“
„Kinderbücher sind keine Goldmine?“
„Nur wenn man einen Harry Potter erfindet.“ Sie schien sich in ihrer Haut absolut wohl zu fühlen und schaute ihn erwartungsvoll an.
Seine ausgetüftelte Überleitung löste sich in Luft auf. „Karina, ich habe Ihnen am Telefon nicht ganz die Wahrheit gesagt.“
Sie zog eine sorgfältig gezupfte Braue hoch. „Nicht? Haben Sie mir denn über Ihre Person die Wahrheit gesagt?“
„Ich bin wirklich der Präsident von ,Scavenger‘, nicht irgendein verrückter Stalker. Aber mein Anliegen ist nicht geschäftlicher Natur, sondern privat.“
Sie fixierte ihn kurz und wagte dann ein Lächeln. „Sind wir verwandt, Pavel?“
Er konnte sich nicht entsinnen, wann er das letzte Mal geweint hatte. Vielleicht bei der Beerdigung seiner Mutter, vielleicht auch nicht. Aber jetzt füllten sich seine Augen mit Tränen. Im Moment konnte er nicht sprechen, also nickte er.
Sie legte ihre Hand auf seine, die warme, weiche Hand einer Schwester. „Ich habe erwartet, dass einmal jemand kommt. Warum hat es so lange gedauert?“