32. KAPITEL
Mitte des neunzehnten Jahrhunderts war der Oak-Hill-Friedhof in Georgetown zum Vorzeigeobjekt einer neuen Strömung in der Friedhofsarchitektur geworden. Statt übervölkerter Kirchenhöfe legte man regelrechte Landschaftsgärten an, mit gewundenen Wegen und weitläufigen Terrassen, von denen man weit in die Runde blicken konnte: die Vorläufer moderner öffentlicher Parkanlagen.
Oak Hill mit seinem Schlüsselblumenweg und seinem Veilchenweg, der neugotischen Kapelle und den Marmorstatuen war eine gut abgeschirmte Oase in Georgetown, in die man als Lebender fast ebenso schwer hineinkam wie als Toter. Aber Faith hatte hier an etlichen Begräbnissen von Kollegen ihres Vaters teilgenommen und kannte sich auf dem sechs Hektar großen Gelände gut aus.
Dottie Lee hatte ihr die Nummer ihrer Familienparzelle genannt, und mit der Hilfe eines Verwalters – den ihr Familienname genügend beeindruckt hatte, um sie hineinzulassen – fand sie den richtigen Pfad. Sie ging langsam und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, denn eine dünne Schneeschicht bedeckte den Boden, der stellenweise mit Eis überzogen war. Sie kam nur an wenigen Besuchern vorbei. Eine in einen langen Nerzmantel gehüllte Frau weinte still neben einem Trio steinerner Cherubim, die ein Grab zierten. Weihnachten war nicht für alle Menschen ein frohes Fest.
Faith erwartete nicht wirklich, Pavel hier zu finden. Er konnte überall sein, vielleicht sogar selig in den Armen einer anderen Frau liegen. Die Idee, den Friedhof zu besuchen, war ihr sehr plötzlich gekommen, aber das kümmerte sie nicht. Indem sie Dominiks Grab aufsuchte, fühlte sie sich der Lösung des Rätsels um Hopes Verschwinden einen Schritt näher.
Als sie vorsichtig den Pfad entlanglief, versuchte sie sich die aussichtslose Situation vorzustellen, die Dominik in den Tod getrieben hatte. Seine Frau und sein Sohn waren an die Westküste gezogen, aber er hätte zu ihnen reisen und sich um eine Versöhnung bemühen können. Sein Töchterchen hatte man aus dem Haus der Mutter gekidnappt, aber seit der Entführung waren erst fünf Monate verstrichen. Hatte der Verdacht, dass seiner Tochter etwas Schreckliches widerfahren war, ihn dazu gebracht, sich umzubringen?
Oder hatte er gewusst, was mit ihr passiert war?
Sie bog ab und ging an drei hoch aufragenden Laubbäumen vorbei den Hügel hinab. Sobald sie dort unten angelangt war, musste sie die Inschriften der Gräber und Kreuze lesen, aber wie sich zeigte, war das nicht nötig.
Als sie an den Bäumen vorüber war, sah sie Pavel, der fünfzig Meter vor ihr stand und zu Boden blickte, wohl auf das Grab seines Vaters.
Sofort blieb sie stehen. Sie fühlte sich wie ein Eindringling. Der Tod seines Vaters hatte ihn mit zu dem Menschen gemacht, der er war. Er hatte keine Erinnerungen an Dominik Dubrov, er trug nicht einmal seinen Nachnamen. Aber der Mann, der in einem Armengrab verscharrt worden wäre, hätte nicht diese liebenswürdige, exzentrische Dame es zu verhindern gewusst, war für Pavel wichtig.
Sie beobachtete, wie er auf seinen Hacken wippte. Er hielt eine Wollmütze in den Händen, und als er sich umdrehte und sie aufsetzte, ging Faith auf ihn zu.
Als sie ein Stück näher gekommen war, erkannte er sie. Er wirkte weder erfreut noch überrascht, nur auf der Hut. Sie wünschte, es wäre nie so weit gekommen.
„Faith?“ Pavel zog sich die Mütze über die Ohren. „Was machst du hier?“
„Dottie Lee hat mir verraten, wo dein Vater beerdigt worden ist. Ich wollte mir das Grab anschauen.“
„Es gibt nicht viel zu sehen. Ein einfacher Stein.“
„Seit wann weißt du, dass er hier liegt?“
„Als ich nach Washington zurückkam, habe ich Nachforschungen angestellt und auf Mikrofilm eine Todesanzeige gefunden. Ich hätte einen schöneren Stein machen lassen können, aber dazu hätte ich Dottie Lees Erlaubnis gebraucht.“
„Sie sollte also nicht erfahren, dass Dominik dein Vater war, ja? Aber sie war nicht überrascht, als ich es ihr heute erzählt habe.“
„Sie weiß es schon eine Weile. Sie hat mich das spüren lassen, als ich dich zum ersten Mal besucht habe, auch wenn sie es nie klar ausgesprochen hat.“
„Warum hast du es ihr nicht einfach gesagt? Du warst neugierig auf deinen Vater, und sie war mit ihm befreundet.“
„Ich dachte, mit Abwarten und Beobachten käme ich weiter.“
Faith verspürte den Impuls, den Reißverschluss seiner schwarzen Lederjacke hochzuziehen. Pavel sah aus, als könne er zehn Stunden Schlaf und eine warme Mahlzeit vertragen. Sein Vater war seiner Depression erlegen. Sie hoffte, dass der Sohn mehr Widerstandskräfte hatte.
„Ich schätze, ich bin hier, um deine Geduld zu belohnen“, begann sie.
„Wie meinst du das?“
„Meine Mutter hat mir etwas mitgeteilt, das du wissen solltest. Deshalb habe ich versucht, dich ausfindig zu machen.“
„Nicht um mich zu trösten, hm?“
Sie musste sich eingestehen, dass es durchaus auch um Trost und Versöhnung ging. Sie fühlte sich diesem Mann noch immer verbunden, und zwar nicht nur aufgrund ihrer verwandtschaftlichen Beziehungen.
„Hope war nur meine Halbschwester.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust, sowohl um sich zu wärmen, als auch um sich zu schützen. „Sie war auch deine Halbschwester.“
Einen Augenblick hatte es den Anschein, als sei er zu erschöpft, um das zu begreifen. Dann machte es klick. „Mein Vater war ihr Vater?“
Faith erzählte ihm die Geschichte.
„Dann wusste mein Vater davon? Und dein Vater?“
Sie hatte ihm verschwiegen, dass Joe von Lydia erpresst worden war. Selbst das Wort kam ihr überzogen vor, wie aus einem Groschenroman. Sie vermied den Ausdruck. „Mein Vater hatte auch etwas zu verheimlichen. Es hatte nichts mit der Entführung zu tun, aber meine Mutter konnte es gegen ihn verwenden. Unter diesem Druck willigte er ein, Hope als sein Kind aufzuziehen.“
„Man fragt sich wirklich, welche der Familien verrückter war.“
„Das gibt den Ereignissen eine neue Wendung“, sagte Faith. „Die Möglichkeit, dass dein Vater Hope entführt hat, um sich zu rächen, scheidet aus. Aber vielleicht hatte er andere Gründe. Heute hat Dottie Lee mehr oder weniger zugegeben, dass sie ihm ein falsches Alibi verschafft hat. Ich glaube nicht, dass er an jenem Nachmittag bei ihr gearbeitet hat.“
Das schien ihn nicht zu überraschen. „Du meinst, er wollte Hope womöglich selbst großziehen?“
„Oder sie beschützen.“
Pavel zog die Brauen hoch. „Vor deinem Vater?“
„Meine Mutter hat meinen Vater gezwungen, Hope als sein Kind anzuerkennen. Der Senator ist kein Mann, der aufgibt, solange er noch Waffen in seinem Arsenal hat. Dein Vater hat das vielleicht erkannt.“
„Dann hätte mein Vater Hope also weggeholt, um sie vor deinem zu schützen?“
„Das wäre denkbar. Vielleicht ist ihr nach der Entführung etwas zugestoßen. Oder er hat sie nicht an sich genommen, aber musste dann erkennen, dass mein Vater sie hatte kidnappen lassen. Vielleicht fühlte dein Vater sich schuldig, weil er nichts unternommen hatte.“
Pavel wirkte noch erschöpfter als zuvor. „Wir können ihn nicht mehr fragen. Er hat das Geheimnis mitgenommen, als er das Seil über den Balken warf.“
Faith wusste, dass Pavel dieses Bild immer verfolgen würde. „Der Selbstmord irritiert mich, Pavel, nicht nur weil ein Mensch sich selbst getötet hat, sondern auch, weil ich mir keine Situation vorstellen kann, die nach einer so radikalen Lösung verlangte.“
„Trotz allem, was du weißt, kannst du dir nicht vorstellen, was ihn so deprimiert hat?“
„Die dunkle russische Seele, das gute alte Klischee? Hat dein Vater wirklich unter Depressionen gelitten? Oder hat er etwas so Schreckliches erfahren, dass er nicht mehr leben wollte? War er so verzweifelt, dass er keinen anderen Ausweg sah?“
„Es gibt einen Menschen, der die Antwort kennen könnte. Leider ist er wie vom Erdboden verschluckt.“
Faith schaute ihn verwirrt an, deshalb klärte er sie auf: „Sandor. Der Gehilfe meines Vaters. Ein entfernter Cousin, erinnerst du dich noch? Aus dem ungarischen Familienzweig.“
„Ich weiß nur, dass Sandor an den Arbeiten in unserem Haus beteiligt war.“ Faith versuchte, die Puzzlestücke zusammenzufügen. Die Entführung lag so lange zurück, und Sandor war für sie nur eine der vielen Nebenfiguren gewesen.
„Offenbar hat mein Vater ihn ausgebildet. Sandor erledigte die Routinearbeiten, mein Vater die komplizierteren Aufgaben.“
„Aber die Polizei hat ihn bestimmt befragt“, meinte Faith. „Soweit mir bekannt ist, haben sie mit allen gesprochen, die irgendwie mit unserer Familie zu tun hatten. Sie haben meine Eltern gebeten, sämtliche Hochzeitsgäste, alle Bekannten, die je eine ihrer Partys besucht hatten, und alle von Dads Wahlkampfhelfern aufzulisten.“
„Sie haben Sandor vernommen“, antwortete Pavel. „Er hat geschworen, dass mein Vater so etwas nie hätte tun können und so eine Tat nie auch nur angedeutet hat.“
„Sandor und dein Vater waren verwandt. Er könnte gelogen haben, um einen Angehörigen zu schützen.“ Sie dachte über ihre Worte nach. „Du sagst, er ist spurlos verschwunden?“
„Die Männer in meiner Familie scheinen kein großes Durchhaltevermögen zu besitzen. Sandor hat ein paar Jahre nach dem Tod meines Vaters geheiratet und zwei Kinder in die Welt gesetzt. Noch bevor sie schulpflichtig wurden, ist er ohne ein Wort fortgegangen. Seine Frau hat irgendwann wieder geheiratet, seine Kinder sind jetzt erwachsen, und bis heute weiß kein Mensch, wo er abgeblieben ist. Dass er vom FBI verhört worden ist, haben mir seine Kinder erzählt.“
„Hast du diese Angaben überprüft?“ Sie fragte nur der Form halber.
„Sandor war auch mein Verwandter. Ich hatte irgendwie den Wunsch, meine Familie kennen zu lernen. Leider wollen seine Kinder nichts mit ihm oder irgendwelchen Leuten zu tun haben, die sie an ihn erinnern.“
„Pavel, als wir uns das letzte Mal unterhalten haben, hast du behauptet, mir alles erzählt zu haben.“
Er zupfte an seiner Mütze. „An diese Sache habe ich nicht gedacht. Ich hatte gehofft, einen Cousin wiederzufinden, nicht einen Kidnapper. Nichts, was ich über Sandor erfahren habe, erscheint mir für den Fall wichtig.“
„Alles ist wichtig.“
„Das wird allmählich zur Besessenheit. Wir haben ein Leben. Ich besitze eine Firma, in der im Moment alles drunter und drüber geht, und du hast Kinder, die dich brauchen. Aber wir stehen hier in der Kälte, am Grab eines Fremden, und reden über etwas, das vor Jahrzehnten passiert ist, als könnte es unser Leben verändern.“
„Das hat es schon. Es hat nicht nur unsere Kindheit beeinflusst, sondern holt uns auch jetzt noch ein.“
„Und es beeinflusst unsere Beziehung.“
„Hatten wir eine?“ Sie hatte distanziert klingen wollen. Es gelang ihr nicht.
„Natürlich. Da war etwas zwischen uns.“
Sie wollte es abstreiten, aber was auch immer sich zwischen ihnen abgespielt hatte, es brodelte noch dicht unter der Oberfläche. Sie war nicht nur hier, um etwas über die Vergangenheit zu erfahren, sondern auch etwas über ihre Zukunft.
„Wenn jemand eine Ahnung hat, wohin Sandor verschwunden ist, dann Dottie Lee“, meinte sie. „Sie war es, die meiner Mutter Dominik empfohlen hat. Er hat vorher für sie gearbeitet. Und Sandor vermutlich auch.“
„Wird sie uns sagen, was sie weiß?“
Dottie Lee gab ihre Informationen immer erst dann preis, wenn sie glaubte, die Zeit sei reif, aber inzwischen fragte sich Faith, ob hinter dieser Zögerlichkeit wirklich nur der Wunsch einer alten Dame nach anhaltender Aufmerksamkeit stand.
Dottie Lee hatte womöglich einen gewichtigeren Grund.
Faith hob den Kopf und sah ihm in die Augen. „Pavel, sie schützt jemanden. Ich hätte das früher erkennen müssen.“
„Sie hat meinen Vater beschützt. Sie hat ihn auf ihrer Familienparzelle beisetzen lassen.“
„Dein Vater ist tot. Dottie Lee ist alt, aber sie lebt nicht in der Vergangenheit. Sie schützt jemanden, der noch lebt.“
„Deine Mutter?“
Faith überlegte, ob sie sich vielleicht doch irrte. „Lass uns einen Kaffee trinken. Ich friere. Lass uns darüber reden und eine Strategie entwerfen. Wir müssen Dottie Lee irgendwie ermutigen, uns alles zu erzählen.“
„Es ist eine Weile her, seit wir zuletzt an einem Tisch gesessen haben.“
Sie hörte, was in dem Satz mitschwang: Diese Vertrautheit hatte ihm gefehlt. Sie hatte ihm gefehlt.
Und er hatte ihr gefehlt.
„Ich habe dir nur eine Tasse Kaffee angeboten“, warnte sie ihn.
„Ich nehme an.“
An Enzios Tür hing kein Kranz; die struppigen Büsche im schmalen Gartenstreifen trugen keine Lichterketten. Jemand hatte Schneeflocken aus Metallfolie an das vordere Fenster geklebt; Remy hatte Colin im Verdacht. Er betreute Erstklässler an einer katholischen Grundschule im Zentrum, und sie ahnte, dass ein paar der Kinder die Schneeflocken gebastelt hatten. Colin redete immer von der Schulung der Feinmotorik.
Das Haus wirkte heute nicht einladend; innen war es ebenso düster wie der schiefergraue Himmel. Einen Moment überdachte sie ihr Vorhaben. Noch war es möglich, nach Hause zu gehen und Megan anzurufen. Wenn Megans Mutter sie nicht abholen würde, konnte Remy immer noch das Taxi nehmen, das sie für später eingeplant hatte.
Sie musste das hier nicht tun.
Remy wusste nicht genau, was sie beunruhigte. Alex hatte etwas damit zu tun. Und ihre Lügen. Am Anfang war das Lügen ein Abenteuer gewesen. Indem sie sich nicht erwischen ließ, hatte sie sich bewiesen, dass sie cleverer war als ihre Eltern. Sie waren nicht die Leute, für die Remy sie immer gehalten hatte: Sie waren manchmal ziemlich dämlich.
In letzter Zeit hatte das Lügen seinen Reiz verloren. Sie war noch immer wütend, sie wollte ihnen noch immer eins auswischen, wann und wo sie konnte. Aber jetzt, da der erste Rausch vorbei war, machte es kaum noch Spaß.
Auch Enzio hatte etwas damit zu tun. Seit dem Tag, als er sie in der Küche beinahe ausgezogen hatte, waren sie nie länger als ein paar Minuten allein gewesen.
Sie erinnerte sich oft an diesen Tag: seine Hände auf ihren Brüsten, das Drängen seiner Hüften. Sie war erst vierzehn, aber viele Mädchen in ihrem Alter hatten es schon getan, und zwar mit mehr als einem.
Remy hatte bis heute dafür gesorgt, das sie nie lange mit Enzio allein war. Daran zu denken machte sie nervös, aber zugleich erregte es sie. Er war ein erfahrener Mann, und sie noch ein halbes Kind. Natürlich wusste er nicht, wie alt sie war, aber was machte das schon. Irgendwann musste sie ja mal anfangen. Ihre Eltern hatten ihr etwas vom Wert der Jungfräulichkeit erzählt, aber man musste sich nur mal anschauen, wie die beiden lebten.
Was würden sie davon halten, dass ein College-Typ mit ihrem kleinen Mädchen schlafen wollte?
Sie hämmerte mit dem Messingklopfer gegen die Tür und wartete, ob jemand öffnete. Endlich kam Enzio. Seine Augen funkelten, als er sie sah, und er zog sie hinein.
„Dein Timing ist gut“, sagte er. Er sprach sehr langsam; die Worte tröpfelten aus ihm heraus wie Wasser aus einem Hahn mit defekter Dichtung.
„Wieso?“ Seine riesigen Pupillen und das unmotivierte Grinsen irritierten sie.
„Ich habe gerade wirklich tolles Dope bekommen. Probier es gerade aus.“
„Marihuana?“ Sie versuchte, sachlich zu klingen.
„Von welchem Planeten stammst du?“ Sein Lachen wirkte ziemlich überdreht. „Hast du auf deinem Planeten denn noch nie Gras geraucht, kleine Marsfrau?“
Sie hatte nicht einmal eine Zigarette geraucht.
Er lachte wieder. „Komm, versuch’s. Ich schwebe schon über den Dächern.“
Sie fragte sich, wie das wohl wäre. Wenn sie über den Dächern schwebte, konnte sie Georgetown und alles, was im letzten Jahr passiert war, hinter sich lassen. Kein Vater mehr. Keine Mutter. Kein kleiner Bruder mehr, der jeden Atemzug verurteilte, den sie tat.
Sie ermahnte sich, kein Baby zu sein, sondern erwachsen zu wirken. „Wo hast du es?“
„Oben in meinem Zimmer.“ Ihr Blick schien Bände zu sprechen, denn er lachte wieder. „Wir lassen die Tür offen. Gott, du bist so ein Kindchen.“
Sie wollte kein Kindchen sein. Sie wollte zehn Jahre älter sein und ein anderes Leben führen. Und jetzt war sie diesem Wunschtraum so nahe wie nie zuvor.
„Dann los.“ Sie hängte sich bei ihm ein.
David lauschte, als er Faith’ Klingel betätigte, aber im Haus blieb alles still. Trotz aller Fortschritte fehlte noch vieles am und im Haus, unter anderem eine neue Türglocke. Er klopfte, lauschte, klopfte wieder, aber niemand öffnete die Tür.
Er war sich sicher, dass er Alex gesagt hatte, wann er kommen wollte, und Faith wusste es natürlich auch. Ihm schoss der Verdacht durch den Kopf, dass sie das mit Absicht tat. Hatte sie vor, ihm eine Lektion zu erteilen? Dass sie auf ihn keine Rücksicht zu nehmen brauchten, weil es seine Schuld war, dass die Familie Weihnachten nicht mehr zusammen feierte wie noch im letzten Jahr?
Nein, Faith war zu einer derartigen Racheaktion nicht im Stande.
Die Stufen waren zu vereist, um sich hinzusetzen, also begnügte er sich damit, sich an das frisch gestrichene Geländer zu lehnen. Er würde ein paar Minuten warten und dann zum Auto zurückkehren, um zu telefonieren. Er wollte versuchen, Faith auf ihrem Handy zu erreichen.
Er vertrieb sich die Zeit und versuchte die Kälte zu vergessen, indem er an frühere Weihnachtsfeste dachte. Vor sieben Jahren hatte Alex sein erstes Fahrrad bekommen. Stützräder hatte er abgelehnt, obwohl er ziemlich oft auf die Nase gefallen war, bevor er das Gleichgewicht halten konnte.
Vor neun Jahren hatte David für Remy ein Puppenhaus gebaut, und Faith hatte die winzigen Zimmer angestrichen und möbliert. Er fragte sich, wo das Haus jetzt wohl war, und befürchtete, dass Remy es in ihrem Bemühen, alle Spuren ihres Vaters auszulöschen, zerstört hatte. Er hatte gehofft, dass sie es einmal ihren Kindern geben würde.
Ein Windstoß ließ die Fensterläden des Reihenhauses klappern. Heute Nacht sollte es wieder schneien, und wenn Alex und er nicht bald nach Maryland aufbrachen, würden sie womöglich eine unangenehme Fahrt vor sich haben. David guckte kurz auf seine Uhr und stellte fest, dass es noch später war, als er geglaubt hatte. Er ging zu Hams Auto zurück, das er sich für den Ausflug geliehen hatte.
Auf halber Strecke entdeckte er Alex, der auf ihn zukam. Sein Sohn hielt den Kopf gesenkt, aber die roten Locken waren nicht zu übersehen. Alex schlurfte mit den Stiefeln über den Gehweg. Sein geschulter elterlicher Blick verriet David, dass seinen Sohn etwas bedrückte.
„Hey, Alex.“
Alex schaute überrascht auf, als hätte er ganz vergessen, dass David ihn abholen wollte. „Dad?“
„Wo warst du?“
Alex erwiderte nichts. David bemerkte, dass sein Sohn mit sich rang. „Alex? Ich habe am Haus auf dich gewartet.“
„Ich ... ich habe am Ende der Straße was gehört. Einen Autounfall oder so. Ich bin, äh, nur nachsehen gegangen, was da los war.“
David hatte wenig Erfahrung im Umgang von Lügen. Alex war eine ehrliche Haut, ein Kind, das die Wahrheit eher bis ins kleinste Detail nacherzählen als bewusst verzerren würde, aber es war völlig klar, das hier etwas nicht stimmte.
„Und? Hast du was entdeckt?“ fragte David.
„Nein. Alles wie immer.“
„Sie musste was erledigen. Sie hat uns – mich allein gelassen. Sie wusste ja, dass du kommst.“
„Dann ist Remy zu Hause?“
„Nein.“
„Ist sie irgendwo hingegangen?“
„Sie sollte übers Wochenende zu Megan.“
David merkte, dass er sich der Wahrheit näherte, aber es ging ihm zu langsam. Er war bis auf die Knochen durchgefroren. „Alex, wo ist Remy?“
Alex zuckte mit den Schultern. „Vielleicht hat sie den Krach auch gehört.“
„Dann hätte sie dir etwas gesagt, nicht?“
„Ich weiß nicht.“
Er wusste es wohl. David spürte das. Alex behielt etwas für sich und fühlte sich dabei sichtlich unwohl.
Sie waren am Reihenhaus angelangt, und Alex öffnete die Tür. David folgte ihm hinein und setzte seine Befragung fort. „Ein Problem mit Schwestern ist, dass man ihnen gegenüber loyal bleiben will und zugleich seinen Eltern gegenüber. Manchmal ist es schwer herauszubekommen, was wichtiger ist.“
Alex schwieg.
„Aber manchmal ist es auch ganz einfach“, fuhr David fort. „Zum Beispiel wenn du Angst hast, dass deine Schwester sich selbst in Schwierigkeiten bringen könnte.“
„Sie sagt mir nie was. Sie hält mich für einen Idioten.“ Alex ging zur Treppe und drehte sich um. „Sie hasst mich schon jetzt.“
„Das tut sie nicht. Nicht wirklich. Eines Tages werdet ihr beide gute Freunde sein.“
„Nicht, wenn ich es dir verrate.“
Alex war hin- und hergerissen. David machte es ihm leichter. „Du musst mit der Wahrheit herausrücken, Alex. Ich bin dein Vater. Du hast gar keine Wahl.“
„Ich werde Ärger kriegen.“
David dachte darüber nach. „Weil du nicht früher was gesagt hast?“ Sein Sohn nickte. „Du wusstest nicht, was du tun solltest. Aber jetzt weißt du es.“
„Remy hat eine Menge Lügen erzählt.“
David musste sich das anhören, auch wenn er gern darauf verzichtet hätte. „Worüber?“
„Wo sie hingeht, wenn sie nicht zu Hause ist. Ein paar Blocks weiter gibt es ein paar Jungs – College-Studenten, glaub ich –, und Remy besucht sie, so oft sie kann. Sie ist nach der Schule nicht zu Billie gegangen. Sondern in dieses Haus. Einer der Typen arbeitet in einem Klamottenladen, und in diesem Laden hält sie sich auch dauernd auf.“
„Sie ist jetzt in diesem Haus?“ David fragte sich, was in Faith gefahren war, dass sie Remy und Alex allein gelassen hatte.
„Sie sollte zu Megan. Alles war vorbereitet, aber sobald Mom weg war, hat sie Megan angerufen und behauptet, dass ihr schlecht ist. Dann hat sie ihr Zeug genommen und ist die Straße runtergelaufen. Ich habe lange gewartet und gehofft, dass sie wieder rauskommt, aber sie ist noch da.“
„Warst du bis eben da?“
„Ich bin ihr gefolgt, nur um zu sehen, ob sie lügt. Sie meinte, ich hätte mich verhört und sie würde Megans Mom an der Straßenecke treffen, aber sie hat nicht die Wahrheit gesagt.“
Davids Befürchtungen wuchsen rasch. „Deiner Mutter hast du nichts von alldem verraten?“
Alex blickte auf den Boden. „Mom weiß nichts. Sie achtet streng auf Remy, aber Remy lügt, und Mom möchte ihr glauben. Ich wollte ihr was sagen, aber ich befürchtete, dass Remy dann richtig ausflippen würde.“
„Mach dir keine Sorgen. Du hast jetzt das Richtige getan. Komm, wir holen sie ab.“
„Du willst jetzt da hin?“
„Hat deine Mutter ihr Handy dabei? Ruf sie gleich an. Sie muss nach Hause kommen.“
Alex ging zum Telefon in der Küche. Als er zurückkam, schüttelte er den Kopf. „Es klingelt nur lange, und dann habe ich ihre Mailbox dran.“
„Hast du eine Nachricht hinterlassen?“
„Ja, aber das klappt nicht. Es klappt nie.“
David legte Alex den Arm um die Schulter und bugsierte ihn zur Tür. „Auf geht’s.“
Draußen lief Alex in die Richtung von Hams Auto. David fragte sich, um wie viele Minuten er seine Tochter verpasst hatte. Wenn er etwas früher gekommen wäre, hätte er sie dann gesehen?
Sie überquerten eine Straße, dann noch eine. Am Anfang des nächsten Häuserblocks verlangsamte Alex seine Schritte. „Es ist das graue Haus.“
Das Haus wirkte etwas verwahrlost, so wie das von Faith früher. Ansonsten war es ein typisches Georgetown-Reihenhaus. „Bist du dir sicher?“ fragte David.
„Ich habe sie schon früher hier reingehen sehen. Und ich habe hier eine halbe Ewigkeit gewartet.“
„Okay. Lauf jetzt nach Hause. Und versuch noch mal, deine Mom zu erreichen. Bleib in der Nähe des Telefons, falls sie zurückruft.“
„Du willst nicht, dass ich mitkomme?“
„Nein, ich werde deine Schwester da rausholen und sie nach Hause bringen.“
Erleichtert machte Alex sich auf den Rückweg.
David sammelte Mut für die Konfrontation. Dann klopfte er an die Tür und wartete, aber niemand machte auf. Frustriert klopfte er noch einmal und drehte dann den Türknauf. Aber die Tür war abgeschlossen.
Er ging zurück auf den Bürgersteig. „Remy!“ rief er zum Vorderfenster hinauf.
„Kann ich Ihnen helfen?“
David drehte sich um und erblickte einen jungen Mann, der den Gehweg entlangkam. In den Sekunden, bevor der junge Mann vor ihm stehen blieb, registrierte David blondes Haar und ebenmäßige Gesichtszüge: ein normaler, harmlos wirkender Student.
„Suchen Sie jemanden?“ Der junge Mann lächelte höflich und schien etwas misstrauisch zu sein.
„Meine Tochter ist in diesem Haus.“
„Tochter?“
David streckte die Hand aus, obwohl er den Knaben lieber am Kragen gepackt und durchgeschüttelt hätte. „David Bronson. Remy Bronsons Vater.“
„Colin Fitzpatrick.“ Colin ließ die Hand sinken. „Sie sind ihr Dad? Ich dachte, ihr Vater sei tot.“
„Das lässt sie die Leute gern glauben. Ist sie hier?“
„Ich weiß es nicht. Ich war fast den ganzen Tag in der Bibliothek. Sie könnte bei Enzio sein. Sie hängen viel zusammen rum.“
„Falls Enzio nicht ebenfalls vierzehn ist, haben wir ein Problem.“
„Vierzehn?“
David spürte, dass die Verblüffung nicht gespielt war: Colin war wirklich erschrocken. „So ist es. Vierzehn. Wenn sie Ihnen etwas anderes erzählt hat, dann war das eine Lüge.“
„Sie hat gesagt, dass sie kurz vor dem High School-Abschluss steht.“
„Und das haben Sie ihr abgenommen?“
„Sie ist klein, aber sie wirkt sehr reif. Warum sollte sie lügen?“
„Weil sie wusste, dass Sie sie nach Hause geschickt hätten, wenn Sie erfahren hätten, dass sie in die achte Klasse geht.“
„Achte Klasse!“ Jetzt schien Colin ernsthaft alarmiert zu sein.
„Ich will, dass sie da rauskommt – und zwar auf der Stelle.“
Colin suchte in seiner Tasche nach dem Schlüssel. Wortlos steckte er ihn ins Schloss. „Warum haben Sie dem Spuk nicht längst ein Ende gemacht?“
„Ich wusste nichts davon. Sie hat uns alle angelogen.“
„Sie ist ein nettes Mädchen.“ Colin war verwirrt.
Es dauerte ewig, bis die Tür aufging. Trotz der Kälte hatte David feuchte Hände. Wenn Enzio Colin ähnlich wäre, würde vermutlich alles glatt laufen. Aber davon durfte man nicht ausgehen.
„Hören Sie, Remy und ich stehen etwas auf Kriegsfuß“, sagte David. „Sie wird sich weigern, mich zu begleiten. Aber sie muss es, also halten Sie sich da bitte raus.“
„Hier bleiben kann sie bestimmt nicht.“ Colin rüttelte am Schloss, und es sprang auf. Im Flur rief er ihren Namen. „Remy!“
Alles blieb still.
„Ich gehe hoch in Enzios Zimmer und sehe nach“, meinte Colin.
„Ich komme mit.“
Colin schien beunruhigt zu sein. „Ich weiß nicht, was sich zwischen den beiden abgespielt hat. Einmal bin ich nach Hause gekommen, und, also ...“
„Also was?“ hakte David nach.
„Mir kam es so vor, als hätte sich die Lage ziemlich aufgeheizt und zugespitzt, und ich war froh, dass ich so hineingeplatzt bin. Ich habe Enzio später gefragt, aber er entgegnete, das sei Quatsch, und sie sei doch unser Hausmaskottchen oder so.“
„Also los.“
Colin nahm immer zwei Stufen auf einmal. „Hey, Remy, hier will dich jemand sprechen.“ Vor einer verschlossenen Tür blieb er stehen. „Enzio, bist du da drinnen?“
David war nicht so höflich. Er drehte den Knauf, aber die Tür war abgeschlossen. „Remy! Ich bin’s, Daddy. Bist du da?“
Er vernahm so etwas wie einen gedämpften Schmerzensschrei. Mehr brauchte er nicht. Er schob Colin zur Seite und rammte den Absatz seines Schuhs gegen die Tür. Einmal, zweimal. Der dritte kräftige Tritt fuhr ihm zwar durch die Wirbelsäule, tat aber seine Wirkung.
Die Tür flog auf. Das Zimmer war dunkel, aber er sah Remy, die auf einer Matratze am Boden lag, und einen geschmeidigen jungen Mann, der in der Ecke stand und sich die Hosen hochzog.
Wie er das Zimmer durchquert hatte, wusste er nicht mehr. Eben hatte er noch in der Tür gestanden, jetzt packte er Enzio an den Schultern und schleuderte ihn an die nächste Wand.
„Hey!“ Enzio versuchte sich loszureißen, aber David hielt ihn fest. „Hey, wir haben gar nichts getan, Mann.“
David stieß Enzio so fest nach hinten, dass sein Kopf an die Wand knallte und er benommen zu Boden sank. David ließ ihn los und kniete sich neben die Matratze. Remy zog ihre Bluse herunter und schluchzte.
„Daddy ...“ Sie stürzte sich in seine Arme. David drückte sie an sich und strich ihr übers Haar.
„Es ist vorbei, Schatz. Es ist nichts passiert.“ Er war sich nicht sicher, ob das stimmte, aber er wünschte sich heiß und innig, dass es wahr wäre.
„Sie ist vierzehn!“ Colin hockte neben Enzio am Boden und schüttelte ihn.
„Remy, erzähl mir, was hier passiert ist“, sagte David. „Ich muss wissen, ob ich die Polizei rufen soll.“
Sie schluchzte so sehr, dass er Sorge hatte, ob sie überhaupt sprechen konnte. Sie stammelte: „Wir – sind hochgekommen, um – zu kiffen. Ich – ich – wir haben ein paar Joints geraucht. Ich – vielleicht bin ich – eingeschlafen. Und als ich aufgewacht bin – hat er mich – ausgezogen.“
David spürte einen Stich im Herzen. „Hat er dich vergewaltigt, Remy?“
„Nein. Er hat versucht – meinen Slip –“ Sie schluchzte. „Seine Hände waren – überall, dann hast du gerufen – und er hat mir befohlen – still zu sein – und ich habe dich gerufen, aber du hast es nicht gehört –“
Enzio versuchte Colin wegzudrücken. „Die kleine Schlampe! Sie hat behauptet, dass sie achtzehn ist. Woher sollte ich wissen, das sie erst vierzehn ist?“
David schloss die Augen. „Raus mit ihm, Colin. Bevor ich mich vergesse.“
„Es war mein Fehler. Es war mein Fehler!“ Remy klammerte sich noch stärker an David.
Er streichelte ihr Haar und redete beruhigend auf sie ein, während Colin Enzio aus dem Zimmer bugsierte. Dass sie an ihrer Lage eine Mitschuld trug, ließ sich nicht leugnen. Sie hatte alle belogen, und diese Lügen hatten sich gegen sie gewandt.
Als sie sich beruhigt hatte, half er ihr, ihre Kleidung zu ordnen und die Schuhe anzuziehen. Dann legte er ihr den Arm um die Schulter, und sie standen auf. Er nahm ihren Mantel, erkannte ihren Rucksack auf dem Boden neben der Tür und griff nach ihm. „Schaffst du die Treppe?“
Sie nickte. „Es tut mir Leid, Daddy. Es tut mir Leid ...“
„Ich weiß. Lass uns hier verschwinden.“
Unten trafen sie nur Colin an. Er wirkte fassungslos, wohl weil er sich für das, was passiert war, mitverantwortlich fühlte.
„Wo ist Ihr Mitbewohner?“ wollte David wissen, während Remy an seiner Seite leise schluchzte.
„Er ist gegangen.“
„Ich werde Anzeige erstatten, wenn er nicht hier auszieht und die Prospect Street verlässt.“
„Ich werde dafür sorgen. Den kann sowieso keiner leiden.“
„Sie können ihm ausrichten, dass ich am Montag vorbeikomme, um das zu überprüfen. Wenn sein Zeug dann noch hier ist, melde ich das, was heute passiert ist, als versuchte Vergewaltigung einer Minderjährigen.“
„Er wird weg sein.“ Colin warf Remy einen Blick zu. „Hey, Remy, alles in Ordnung?“
Sie weinte nur lauter.
„Sie ist ein gutes Mädchen“, sagte Colin zu David. „Sie hat nur so getan, als wäre sie älter. Ich nehme an, sie hat nicht geahnt, wozu so ein Spielchen führen kann.“
„Jetzt weiß sie es.“ David drückte seine Tochter fester an sich. „Lass uns gehen, Schatz.“
„Wirst du es ... Mom erzählen?“
„Du weißt, dass ich das muss.“
„Sie wird mich hassen! Sie wird mir nie wieder ein Wort glauben.“
„Sie wird dich nicht hassen.“ Glaubwürdigkeit war ein anderes Thema. Er zog Remy den Mantel an und knöpfte ihn zu, wie er es Hunderte von Malen getan hatte, als sie klein war. Dann führte er sie zur Tür.
Draußen schien die frische Luft sie zu beleben. Sie keuchte, als die Kälte ihr ins Gesicht schlug, auch ihr Kopf wurde offenbar wieder klar. Als sie am Reihenhaus angekommen waren, hatte sich ihr Schluchzen gegeben.
Die Tür war nicht abgeschlossen. David drückte sie auf und schob Remy vor sich her. Faith stand mit Pavel Quinn in der Diele. „Remy?“ fragte sie.
Remy fing wieder an zu weinen. Faith ergriff Remys Hände und legte sie an ihre Wangen.
„Remy, was ist los? David, geht es ihr gut?“
Es ging ihr nicht gut, und das würde noch lange Zeit so bleiben. Aber zum ersten Mal war David sich absolut sicher, dass sie sich irgendwann besser fühlen würde.
„Sie ist gerade noch so davongekommen“, sagte er. „Sie hat dich belogen und mit ein paar Typen vom College rumgehangen, die ein Stück die Straße hoch wohnen. Und sie hat den Jungs hinsichtlich ihres Alters etwas vorgemacht. Einer hat sie beinahe vergewaltigt.“
Faith stieß einen Schrei aus und drückte Remy an sich. Remy wehrte sich nicht. David warf Pavel einen Blick zu. Wut stand in den Augen dieses Mannes, und David erkannte in ihm einen Verbündeten. In einer anderen Epoche hätte Pavel jetzt sein Revolverhalfter umgeschnallt, um Remy zu rächen.
„Ich habe dafür gesorgt, dass er wegzieht.“
Pavel nickte. „Das will ich ihm auch geraten haben.“
„Wie ist das passiert?“ fragte Faith. Sie wollte die Antwort von Remy hören, aber David legte ihr die Hand auf die Schulter.
„Ich werde dir alles erzählen. Ehrenwort. Sie kann das jetzt nicht noch einmal durchleben.“
„Sie sollte doch zu Megan fahren. Ich dachte, sie wäre da. Dann bin ich nach Hause gekommen, und Alex hat mir gesagt ...“
David unterbrach sie. „Remy und Alex fahren jetzt mit mir in die Hütte.“
Faith schaute ihn an. „Nein, sie ist nicht in der Verfassung, David. Sie kann nicht ...“
Remy löste sich von ihrer Mutter. „Ich gehe mit Daddy.“ Sie schlang die Arme um ihren Körper, als wolle sie sich selbst trösten. „Das ... möchte ich jetzt gern.“
„Okay. Das sehe ich.“ Faith strich Remy das Haar aus der Stirn. „Die Hütte ist jetzt das Beste für dich. Soll ich noch ein paar wärmere Sachen in deinen Rucksack werfen?“
„Danke.“ Remy schniefte.
David legte seiner Tochter die Hand auf die Schulter. „Warum wäschst du dir nicht schnell das Gesicht, während Mom für dich packt?“
„Du wartest so lange?“
„Ich bin ziemlich gut darin, auf dich zu warten“, meinte David. Ihre Blicke trafen sich. Ein Lächeln zitterte auf ihren Lippen und erstarb. Der Anfang war gemacht.