34. KAPITEL
Pavel hatte Faith Halt geben können, aber im Stillen kämpfte er mit seinen eigenen Problemen. Das Drama mit Remy, der Konflikt mit der Frau, die er allmählich wirklich liebte, und jetzt die schmerzliche Erkenntnis, dass Hope Huston, das kleine Mädchen aus den alten Schlagzeilen, ebenso sehr seine wie Faith’ Schwester war. Er hatte nicht nur einen Vater verloren, sondern auch eine Schwester, ohne sie je zu Gesicht bekommen zu haben.
Er gestand sich nur selten ein, wie sehr Dominik ihm gefehlt hatte. Er konzentrierte sich auf die wenigen positiven Aspekte seiner Kindheit. Jetzt, als er mit Faith auf Dottie Lees Schwelle stand und darauf wartete, dass Mariana die Tür öffnete, erkannte er, wie dringend er Antworten brauchte. Vor Jahren war er deswegen nach Washington gekommen, und die Sache hatte ihm nie wirklich Ruhe gelassen. Er hatte stets die Augen und Ohren offen gehalten und gehofft, dass er eines Tages die Wahrheit herausfinden würde.
„Vielleicht spielt sie nicht mit“, dämpfte Faith seine Hoffnungen. „Wir dürfen uns nicht zu viel von diesem Gespräch versprechen.“
„Es ist der nächste Schritt.“
Mariana machte auf und bat sie herein. Sie führte sie zum Sofa und holte Dottie Lee.
Pavel wollte nicht sitzen. Er tigerte auf und ab, während Faith sich an die Kissen lehnte. „Ich wüsste gern, woran mein Vater hier gearbeitet hat.“
„Er hat die ganze Rückseite des Hauses neu gestaltet“, sagte Dottie Lee, die in der Küchentür auftauchte. „Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.“
Pavel folgte ihr ins Esszimmer, und Dottie Lee deutete auf die Fenster, hinter denen der kleine Garten lag. „Das hat er gemacht. Das Haus war von der Welt abgeschirmt, und Dominik hat es für mich geöffnet. Er hat gemeint, wenn ich schon gezwungen sei, jeden Tag hier zu verbringen, würde die Welt eben zu mir kommen müssen. Und dafür hat er gesorgt. Oben ist es genauso: lauter Glas und der Fluss und nachts die Lichter der Stadt. Ich kann das Kennedy-Center sehen und mir einreden, den besten Orchestern der Welt zu lauschen. In den siebziger Jahren konnte ich das Watergate-Hotel anstarren und mir ausmalen, was in ihm vor sich ging.“
Pavel versuchte sich vorzustellen, wie sein Vater hier Dottie Lee die Welt zu Füßen gelegt hatte. „Es ist großartig.“
Sie schaute ihn an, und ihre Augen wurden feucht. „Ihr Vater war ein großartiger Mann. Ich wusste sofort, wer Sie sind. Gleich beim ersten Mal, als ich Ihr Foto auf den Wirtschaftsseiten der ,Post‘ entdeckt habe. Er hat Sie Pasha genannt, aber einmal, als er Sie mitbrachte, verriet er mir Ihren richtigen Namen. Und Sie sehen ihm natürlich ähnlich, gerade ähnlich genug, um mich auf die richtige Spur zu bringen.“
„Dann war ich als Kind hier?“
„Oh ja, er hat Sie gern vorgezeigt. Aber daran können Sie sich natürlich nicht erinnern. Ich kann Ihnen sagen, dass er furchtbar stolz auf Sie war. Er war sich sicher, dass viel in Ihnen steckte, und offensichtlich hatte er Recht.“
Faith gesellte sich dazu. „Dottie Lee, wir sind am Ende unseres Lateins angelangt. Wir haben keine Ahnung, wo wir sonst noch nach der Wahrheit über die Entführung suchen sollen.“
„Sie haben herausgefunden, dass Ihre Mutter und Dominik ein Verhältnis hatten, Faith. Wissen Sie noch mehr?“
Faith guckte Pavel an, und er zuckte mit den Schultern. Offenbar sollte sie entscheiden, wie viel Dottie Lee erfahren durfte.
„Wir wissen, dass Dominik Hopes Vater war“, sagte Faith und betete, dass ihre Mutter ihr vergeben würde.
Dottie Lee wirkte nicht überrascht. „Ihre Mutter hat es Ihnen erzählt?“
„Ja, und auch, dass mein Vater wusste, dass Hope nicht von ihm war. Wir glauben, dass Sie die Polizei belogen haben, was Dominiks Aufenthaltsort an jenem Nachmittag angeht. Wir wissen, dass er Monate später Selbstmord beging, aber den Grund dafür kennen wir nicht. Wenn er nicht in die Entführung verwickelt war, was hat ihn dazu getrieben? Er hat nicht einmal versucht, sich mit Pavels Mutter auszusöhnen. Wir hoffen, dass Sie uns weiterhelfen können.“
Als sich zeigte, dass Dottie Lee darauf nicht antworten wollte, ergriff Pavel das Wort. „Ich glaube, es gibt jemanden, der uns helfen könnte. Mein Vater hatte einen Cousin, der mit ihm zusammengearbeitet hat ...“
„Sandor“, ergänzte Dottie Lee.
„Wissen Sie, was aus ihm geworden ist? Haben Sie vielleicht eine Idee, wo wir ihn finden könnten?“
„Ob ich weiß, was aus ihm geworden ist? Aber sicher, ja. Und Sie auch, Faith. Wo er zu finden ist, lässt sich hingegen nicht so leicht sagen.“
Faith suchte Pavels Blick. Er sah, dass sie ein wenig an Dottie Lees Geisteszustand zweifelte.
„Ich kenne ihn?“ hakte Faith nach.
„Sandor ist Ungarisch für Alexander, Liebes. Heute nennt er sich Alec. Alec Babin. Sie kennen ihn als Alec den Tonnenmann.“ Dottie Lee wandte sich an Pavel. „Sie sind ihm begegnet, als Sie Faith zu Hause besucht haben. Er hat in ihrem Garten das Efeu herausgerissen.“
Faith konnte es kaum glauben. „Und meine Mutter weiß das nicht?“
„Sie müsste schon eine Menge Zeit mit ihm verbringen, um darauf zu kommen. Er hat sich sehr verändert. Eines Tages vor vielen Jahren tauchte er vor meiner Tür auf, weil er einen Gelegenheitsjob suchte. Ich habe ihm für kurze Zeit Arbeit gegeben. Eine Woche verging, bis ich erkannte, wer er war. Er ist kaum noch der alte.“
„Aber warum ist er hierher zurückgekehrt?“
„Das hat er mir nie verraten. Wir können aber sicher sein, dass es kein Zufall ist. Ich glaube einfach nicht an Zufälle.“
„Was wissen Sie noch?“ Pavels Vorrat an Feingefühl war erschöpft. Dottie Lee hatte so viel gewusst und sie so wenig.
„Sie denken wohl, ich weiß alles, was? Meinen Sie nicht, wenn dem so wäre, hätte ich längst die Behörden informiert? Ich bin zwar alt, und ich pflege vielleicht meine Schrullen, aber bitte nehmen Sie mir doch ab, dass ich mich auch dem Gesetz und Faith’ Mutter verpflichtet fühle.“
„Aber Sie haben Sandor gedeckt“, sagte Faith.
„Gedeckt vor wem? Die Polizei hat nie nach ihm gesucht. Wem hätte ich es erzählen sollen? Er ist nach der Entführung vernommen worden, war aber nie in Untersuchungshaft. Vielleicht hätte ich seine Familie ausfindig machen und über seinen Aufenthaltsort informieren sollen. Darüber habe ich nachgedacht. Aber ich wusste, dass er dann wieder untertauchen würde und ich ihn nie wieder zu Gesicht bekäme. Also habe ich den Mund gehalten und ihm Arbeit angeboten, wann immer es etwas zu erledigen gab.“
Faith erinnerte sich an ihr erstes Gespräch über den Tonnenmann. „Er hat in Ihrem Keller geschlafen.“
„Eine Weile, ja, fast jeden Winter. Auch dieses Jahr habe ich den Keller für ihn vorbereitet, aber er ist nicht gekommen. Ich habe ihn seit Wochen nicht gesehen.“
Pavel hoffte, dass Sandor die Stadt nicht ausgerechnet jetzt verlassen hatte, wo sie ihn brauchten. „Hat er Ihnen irgendwas mitgeteilt? Irgendwas, das wir wissen sollten?“
„Alles, was ich über Dominik und sein Verhältnis mit Lydia weiß, habe ich von Sandor. Ich habe Vermutungen angestellt. Sandor hat sie mit knappen Worten bestätigt. Seitdem weigert er sich, über die Vergangenheit zu reden. Ich glaube, Sandor weiß mehr, als er je jemandem verraten hat. Er und Dominik standen einander nahe. Wenn Dominik mit einem Menschen darüber gesprochen hat, dann mit Sandor.“
„Wir müssen ihn finden“, erklärte Faith Pavel, als müsse sie ihn davon erst überzeugen. Dann wandte sie sich wieder an Dottie Lee. „Haben Sie eine Vorstellung, wo er stecken könnte?“
„Er ist zwar Alkoholiker, aber noch halbwegs bei Verstand. Da er hier nicht aufgetaucht ist, hat er wohl einen besseren, wärmeren Ort gefunden.“
„Ein Obdachlosenheim?“ fragte Faith.
Dottie Lee schüttelte kurz und energisch den Kopf. „Er ist gerne allein. Aber es gibt Wohlfahrtsorganisationen in der Stadt, die Obdachlosen Hotelgutscheine anbieten. Er hat einmal so etwas erwähnt. Es sind billige Absteigen, aber sie haben Betten und Bäder. Dort könnten Sie es versuchen. Es kann aber auch sein, dass er einfach einen schöneren Keller gefunden hat.“
Pavel ahnte, was Faith durch den Kopf ging. Sie waren auf dem richtigen Weg, aber wenn sie den Tonnenmann nicht ausfindig machten, würde er sich als Sackgasse erweisen.
Faith wiederholte ihre frühere Frage: „Warum ist er zurückgekommen? Dass er ausgerechnet an Ihrer Tür geklingelt hat, kann, wie gesagt, kein Zufall sein. Es gibt eine Million Orte, an denen er sich hätte niederlassen können. Orte mit besserem Wetter und besseren Arbeitsmöglichkeiten.“
Dottie Lee führte sie zur Tür. „Er ist hier gelandet, weil er eine Botschaft für jemanden hat. Aber er hat wohl nie den Mumm besessen, es auszusprechen. Ich habe keine Ahnung, wie viele Flaschen Alkohol dieser Mann geleert hat, aber er hat in keiner von ihnen den nötigen Mut gefunden.“
In den Hotels, die sie abgeklappert hatten, wohnte der Tonnenmann offenbar nicht. Selbst wenn er da gewesen wäre, hatte Faith Zweifel, ob man ihnen das an der Rezeption gesagt hätte. Die Gäste kamen und gingen, und an die meisten konnten sich die Männer am Empfang, die jede Art von Bezahlung akzeptierten und die Schlüssel aushändigten, nicht erinnern.
In einem heruntergekommenen Restaurant in der Nähe von zwei der Hotels aßen sie zu Abend. Sie saßen schweigend an einem vor Fliegendreck strotzenden Fenster und beobachteten die Bewohner, die dort ein und aus gingen.
Sie zogen ihre Mahlzeit – Kaffee und erstaunlich gute Cannoli – in die Länge und gestanden sich ein, dass sie keine Spur von Sandor hatten.
„Wir sollten für heute Schluss machen“, meinte Pavel. „Du siehst geschafft aus.“
Das war sie, aber zugleich zu aufgedreht, um schlafen zu gehen. „Es gibt noch zwei Hotels, in denen wir fragen können.“
„Sie liegen nicht gerade in einer guten Gegend.“
„So wie dieses Restaurant. Sei froh, dass du einen alten Wagen fährst.“
„Ich habe nie etwas getan, um die Welt zu verbessern.“ Pavel starrte zum Fenster hinaus.
Sie war überrascht. „Du hast eine Suchmaschine geschaffen, die Millionen von Leuten jeden Tag benutzen.“
„Und habe damit ein Vermögen gemacht. ,Scavenger‘ spendet an Wohltätigkeitsorganisationen, und ich auch, aber ich habe eigentlich nichts getan.“
„Pavel, du solltest dich mal hören.“
Er schaute in ihre Richtung. „Es ist ein großer Unterschied, ob man ein Problem mit Geld zuschüttet oder versucht, es zu lösen.“
„Was solltest du sonst noch tun?“
„Ich könnte Jobs schaffen. Computertraining anbieten und eine Arbeitsvermittlung betreiben. Eine Einrichtung, die den Leuten den Einstieg erleichtert.“
„Bei ,Scavenger‘?“
„Nein, ich kündige zum Sommer.“
Faith war überrascht, dann beleidigt. „Das ist eine wichtige Entscheidung. Und du hast mir nichts davon gesagt.“
„Wir haben nicht mehr auf so gutem Fuß gestanden.“
Sie fummelte an der rot-weiß-karierten Plastiktischdecke herum. „Ich habe das vermisst: zu wissen, wie es dir geht und was du tust.“
„Du hast mich vermisst?“
Sie guckte ihn an. „Du setzt mich unter Druck.“
„Ich fühle mich nicht gerade wohl in meiner Haut. Ich möchte doch nur, dass du mein Ego ein bisschen streichelst.“
„Natürlich hast du mir gefehlt.“
„Was genau hat dir gefehlt?“
„So viel Futter braucht dein Ego nicht.“ Sie schaute wieder zum Fenster hinaus. Zwei Männer liefen langsam vorbei, der eine hinkte stark. Ihre Kleidung war schäbig und dünn, und der Mann, der normal gehen konnte, trug einen Rucksack auf dem Rücken. Beide sahen aus, als lebten sie schon lange auf der Straße: als hätten Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung sie zu den Menschen gemacht, die sie jetzt waren.
„Was für ein Leben“, sagte Faith. „Und doch hat Sandor dafür Frau und Kinder im Stich gelassen. Warum?“
„Menschen machen schreckliche Fehler. Manchmal ist es unmöglich, zurückzukehren.“
„Vor allem, wenn in der Vergangenheit etwas vorgefallen ist, das man nicht bewältigen kann.“
„Worüber konnte er nicht hinwegkommen?“
Faith stand auf. „Lass es uns herausfinden.“
„Bist du sicher, dass du noch mehr gelangweilte Rezeptionisten erträgst?“
„Ich werde heute vermutlich sowieso nicht gut einschlafen.“
„Ich könnte dir dabei helfen.“
Trotz allem musste sie lächeln. „Hatten wir uns nicht darauf geeinigt, es langsam anzugehen?“
„Oh, ein Missverständnis. Ich habe gedacht, wir hätten beschlossen, es jetzt langsam anzugehen.“
Sie warf ihm einen strengen Blick zu und erinnerte sich gleichzeitig wohlig an einige Szenen in seinem Unterschlupf in West-Virginia.
Im nächsten Hotel saß ein vergleichsweise aufmerksamer Mann am Empfang, der ihnen aber nicht helfen konnte. Leider passte ihre Personenbeschreibung auf Tausende von Männern, die bei ihm eine Unterkunft suchten. Sie sprachen einige Gäste an, die sie in der winzigen Lobby trafen, aber keiner kannte Alec.
„Ein Hotel noch“, sagte Pavel. „Dann sind wir am Ende der Fahnenstange. Morgen können wir die Parks abklappern. Vielleicht treffen wir da jemanden, der weiß, wo Alec steckt.“
„Es würde mich nicht wundern, wenn er zum Überwintern nach Süden gegangen wäre. Das würde ich jedenfalls tun, wenn ich kein Dach über dem Kopf hätte.“
„Er hätte ja eins haben können: Dottie Lees Keller. Und ich vermute mal, dass der eher eine Einliegerwohnung als eine Rumpelkammer ist.“
„Vielleicht will er dem Tatort nicht so nahe sein.“
„Wir spekulieren über die Motive eines Menschen, den wir kaum kennen. Das führt zu nichts.“ Pavel legte ihr die Hand auf den Rücken, eine Schutzgeste, die zugleich einen Anspruch anzumelden schien.
„Also auf zum letzten Hotel, und dann machen wir Schluss.“
Die letzte Unterkunft war am besten in Schuss. In diesem Häuserblock standen einige Ladenlokale leer, und das Wohnhaus an der Ecke wurde offenbar gerade renoviert. Die Pension war ein altes Haus, in dessen Lobby es nach Reinigungsmitteln roch. Die Rezeption, auf deren Theke ein künstlicher Weihnachtsbaum mit blinkenden Lichtern stand, war verlassen.
Der Grund war offensichtlich. In einem kleinen Zimmer zur Rechten fand eine Weihnachtsfeier statt. Männer drängten sich um Tische voller Speisen, und aus einem Gettoblaster plärrten Weihnachtslieder. Helfer in Anzug und Krawatte oder Partykleidern schwatzten mit den Männern und trugen neue Speisen auf.
Faith entdeckte Alec sofort. Er stand in einer Warteschlange, und als er an der Reihe war, nahm er weiter nichts als ein Glas Punsch und einen Keks. Als er sich umdrehte, sah er sie. Einen Augenblick schien er zu erstarren. Dann kam er mit einem Ausdruck der Resignation auf sie zu.
„Alec.“ Sie rang sich ein Lächeln ab. „Frohe Weihnachten.“
„Was tun Sie hier, Mrs. Bronson?“ Falls er Pavel erkannt oder auch nur bemerkt hatte, dass er zu Faith gehörte, ließ er es sich nicht anmerken.
„Alec, können wir uns hier irgendwo unterhalten? Ich will Sie nicht vom Feiern abhalten, aber ...“
„Ich bin hier fertig. Habe meinen Keks.“
„Möchten Sie irgendwo etwas essen?“
„Hab schon gegessen.“
„Wohin können wir gehen?“
„In mein Zimmer, denk ich. Darf nach zehn keine Gäste empfangen, aber es ist noch früh.“
„Sind Sie sicher, dass es Ihnen nichts ausmacht? Wir wollen nicht, dass Sie Ärger bekommen.“
Er ging die Treppe hinauf, und Faith folgte ihm. Pavel bildete das Schlusslicht.
Alecs Zimmer war nur unwesentlich größer als eine Gefängniszelle. Unter dem einzigen Fenster, das zur Straße hinausging, gluckerte ein Heizkörper. Eine kleine Kommode, ein Plastikstuhl, ein schmales Bett mit Wolldecke und ein Regalbrett für die sonstigen Besitztümer waren die einzigen Möbel. Aber der Anstrich war neu, und der Teppich schien höchstens ein paar Jahre alt zu sein. Der Raum wirkte spartanisch, aber sauber und halbwegs behaglich.
Alec bot Faith den Stuhl und Pavel die Bettkante an. Er selbst lehnte sich gegen die Wand. „Die alte Dame hat es Ihnen gesagt, oder?“
„Dottie Lee hat mir erzählt, dass Sie Sandor Babin sind, Dominik Dubrovs Cousin.“
Er zuckte schicksalsergeben mit den Schultern.
„Alec, das ist Pavel Quinn, Dominiks Sohn. Sie kennen ihn wahrscheinlich als Pasha.“
Zum ersten Mal schaute Alec Pavel an. „Ich weiß, wer Sie sind.“
„Seit wir uns in Faith’ Garten begegnet sind?“
„Yeah. Ihre Mutter hat Ihren Namen geändert, was?“
„Sie hat sich geschämt.“
„Gab keinen Grund dafür. Ihr Vater war ein besserer Mann als die meisten.“
„Freut mich zu hören.“
„Aber er war schwach. Liegt vielleicht in der Familie.“
„Wie das?“ wollte Faith wissen.
„Meine Familie hat Ungarn verlassen. Seine Russland. Vielleicht haben wir gelernt, uns zu verdrücken, wenn es unangenehm wird. Nur so eine Idee.“
„Mein Vater ist nicht davongelaufen, er hat sich umgebracht“, sagte Pavel.
„Wo ist der Unterschied? Ein Mann nimmt den Weg, der ihm offen steht. Und das war der einzige Ausweg, der sich ihm bot.“
„Warum?“ fragte Pavel. „Was hat ihn so in die Enge getrieben, dass ihm nur der Freitod blieb?“
„Warum wollen Sie das wissen?“ Er wandte sich an Faith. „Und Sie?“
„Pavel und ich haben eine gemeinsame Schwester“, erwiderte Faith. „Wir haben herausgefunden, dass Dominik Hopes Vater war. Wir haben auch erfahren, dass mein Vater irgendwann dahinter gekommen ist, dass Dominik das Baby gezeugt hat. Verstehen Sie jetzt, warum wir erfahren müssen, wer das Kind entführt hat? Ich habe meinen Vater im Verdacht, Pavel seinen. So können wir nicht weiter durchs Leben gehen.“
„Was wollen Sie von mir hören?“
„Alles, was Sie wissen. Alles, was uns helfen kann.“ „Vielleicht hilft es aber nicht. Vielleicht macht es alles nur schlimmer.“
„Alec“, begann Faith. „Das ist nicht Ihre Sorge. Nicht mehr. Ich glaube, Sie haben jemanden gedeckt, aber jetzt ist es Zeit für die Wahrheit. Überlassen Sie es uns, was dann geschieht.“
Er schloss die Augen und rang mit sich. „Ich brauche einen Drink.“
„Bitte, nicht jetzt“, sagte Faith.
Alecs Gesicht war starr vor Anspannung. „Was Sie erzählen, sind alte Hüte für mich. Ich weiß eine Menge mehr als das.“
Als er nicht fortfuhr, ermutigte sie ihn: „Verraten Sie es uns? Bitte?“
Er blieb so lange still, dass Faith schon fürchtete, er wolle nicht antworten. Dann hub er an: „Ihr Vater hat Dominik gefunden, und sie haben sich gestritten, während Ihre Mutter noch im Krankenhaus lag.“
„Was ist passiert?“ wollte Pavel wissen.
„Dominik ist zum Krankenhaus gegangen und hat sich hineingeschlichen, um das Baby zu sehen, und das hat jemand dem Senator verraten, nur dass er damals noch kein Senator war, nur Kongressabgeordneter. Dominik hat gesagt, der Mistkerl hätte Leute dafür bezahlt, zu beobachten, wer in der Säuglingsstation auftaucht.“
„Was ist geschehen, als mein Vater Dominik zur Rede gestellt hat?“
„Er hat ihm mit Ausweisung gedroht. Und Dominik hat geglaubt, dass er tatsächlich in der Lage wäre, ihm so etwas anzutun. In Russland, in Ungarn war so etwas einfach. Die Machthaber konnten tun, was ihnen gefiel. Leute aus unserer Familie mussten sterben, nur weil jemand aus der Regierung es so wollte. Die Regeln haben sich jeden Tag geändert, je nachdem, wer sie gemacht hat.“
„Hat er sich deshalb umgebracht? Aus Angst vor einer Deportation?“ fragte Pavel.
„Das glaube ich nicht. Vielleicht wenn eine Verhandlung gedroht hätte, bei der er keine Chance auf einen Freispruch sah ...“
„Meine Mutter hat versprochen, ihn – wenn nötig – zu beschützen!“ rief Faith.
„Das war nicht das Einzige, was der Senator ihm mitgeteilt hat.“ Alec schlug die Augen auf und blickte Faith unentschlossen an.
„Alec, ich will die ganze Wahrheit“, meinte sie. „Ich weiß schon, dass mein Vater zu einigem fähig ist. Nicht nur im Guten.“
Als er weiterredete, senkte er die Stimme. „Er hat gedroht, dem Baby was anzutun.“
„Fahren Sie fort.“
„Er hat Dominik gesagt, dass er nur eingewilligt habe, Hope anzuerkennen, weil er keine andere Wahl hatte. Und dass Babys schlimme Dinge zustoßen können. Manchmal sterben sie einfach so, ohne erkennbaren Grund. Manchmal sieht es so aus, als hätten sie einfach nicht mehr weitergeatmet. Fast als hätte ihnen jemand ein Kissen aufs Gesicht gelegt und gedrückt und gedrückt ...“
Er setzte sich auf den Boden, zog die Knie ans Kinn und schlang die Arme um seine Beine. Er fing an, vor und zurück zu wippen.
Faith bemerkte erst, dass sie weinte, als ihr die Tränen über die Wangen rannen. Die Drohung war dem, was Joe Lydia eröffnet hatte, zu ähnlich, um an Alecs Worten zu zweifeln. „Alec, hat mein Vater Hope getötet?“
Mit geschlossenen Augen wiegte er sich weiter hin und her. „Dominik, er konnte nicht zu Ihrer Mutter gehen und es ihr erzählen. Sie hatte ihn gewarnt, dass der Senator ihm gefährlich werden konnte, falls er herausfand, dass Dominik Hopes Vater war, aber sie nahm an, das Kind wäre sicher. Es gab keinen Beweis für das Gespräch zwischen dem Senator und Dominik, und Dominik hatte Angst, dass Ihre Mutter glauben würde, er hätte sich das ausgedacht, um sie dazu zu bringen, ihren Mann zu verlassen.“
„Also hat er Hope entführt“, stellte Pavel fest. „Weil er keinen anderen Ausweg sah?“
Alec öffnete die Augen. „Was wissen Sie über Ihren Vater? Meinen Sie, er hätte das Baby mehr geliebt als die Mutter? Glauben Sie, er hätte Mrs. Huston das antun können?“
„Was ist also passiert?“ drängte Faith.
„Ich habe mitbekommen, wie sehr er litt. Er konnte sich zu nichts durchringen.“ Alec suchte Faith’ Blick. „Also habe ich ihm die Entscheidung abgenommen. Ich habe Hope geholt.“
Faith starrte ihn an. Sie war des Rätsels Lösung so nah gewesen, ohne es zu ahnen. Sie war sich völlig sicher gewesen, dass entweder sie oder Pavel dieses Zimmer als Kind eines Kidnappers verlassen würde.
Sie spürte Pavels Hand auf der Schulter. „Sie, Alec?“ fragte er.
„Es war leichter, als die Zeitungen es hingestellt haben, denn ich hatte mich gut vorbereitet. Ich habe mich durch die Hintergärten zum Haus geschlichen. Mit Dominiks Schlüssel habe ich die Kellertür geöffnet. Das Baby hat geschlafen und schlief weiter, als ich es aus dem Bett nahm. Ihre Mutter hat Klavier gespielt. Es lief alles wie am Schnürchen, auch nachdem ich die Tür wieder geschlossen hatte. Ich kannte eine junge Mutter, die sich bereit erklärte, das Baby fortzuschaffen, als sie von der Sache erfuhr. Ich wusste, dass auf sie Verlass war, und ich hatte eine neue Heimat für das Baby gefunden.“
„Wo?“ fragte Pavel.
„Meine Familie kam über Kanada in dieses Land. Wir kannten ein ungarisches Paar in Ontario, das ein Kind wollte, aber kein eigenes haben konnte. Sie hatten es schon viele Jahre versucht. Damals waren sie schon fast alt genug, um Großeltern zu sein. Gefälschte Papiere ließen sich leicht besorgen. Sie wussten, wen sie um eine neue Geburtsurkunde angehen und wie viel sie zahlen mussten, damit es schnell ging. Wir alle hatten Erfahrung mit falschen Papieren. Ohne die wäre meine Familie nie nach Amerika gelangt.“
Er redete jetzt schneller, als habe er lange auf die Gelegenheit gewartet, das alles auszusprechen, und fürchte, die Zeit werde nicht reichen. „Meine Freundin hat Hope über die Grenze gebracht, indem sie die Geburtsurkunde ihres eigenen Kindes vorzeigte, und das kleine Mädchen der kanadischen Familie übergeben. Sie erzählte ihnen, das Kind sei unehelich, die Mutter minderjährig, und ihre Eltern würden sie enterben, wenn sie je Wind davon bekämen. Sie hat gesagt, die Mutter sei rechtzeitig weggegangen, um das Kind heimlich zur Welt zu bringen, und niemand könne etwas darüber herausfinden. Sie wünschten sich so sehnlich ein Kind, dass sie keine Fragen stellten.“
„Kanada?“ Pavels Hand lag schwer auf Faith’ Schulter.
„Ich wusste, wenn ich Hope in den Vereinigten Staaten unterzubringen versuchte, würde man sie finden. Ich habe es für Dominik getan. Er war mein bester Freund, fast wie ein Bruder. Ich habe es getan, um seine Tochter zu beschützen, und weil er selbst es nicht tun konnte.“
„Und Sie haben nie mit jemandem darüber gesprochen? All die Jahre nicht?“
Alec hörte auf hin und her zu wippen. „Nein, aber Dominik wusste es. Er hat zwei und zwei zusammengezählt.“
„Und sonst kannte niemand die Wahrheit, außer Ihrer Helferin? Nicht einmal die Leute, bei denen das Kind aufwuchs?“
„Warum sollte ich es irgendwem verraten? Ich wusste, dass es richtig war. Ich war mir sicher, einen Mord verhindert zu haben. Sie war ein Baby, nur ein kleines Baby. Dominiks Baby. Sie hatte doch ein Recht zu leben.“
„Aber es hat an Ihnen genagt, nicht?“ sagte Pavel. „So wie es an meinem Vater nagte, bis er sich umgebracht hat.“
„Als er es herausgefunden hatte, ging ihm auf, dass es keine zufrieden stellende Lösung gab. Hope war in Sicherheit, aber Mrs. Huston wurde fast verrückt vor Sorge. Ihr Vater ist schließlich an Kummer gestorben. Er konnte mich nicht der Polizei übergeben. Ich war sein Cousin. Er konnte Mrs. Huston nichts sagen. Er konnte Hope nicht zurückbringen, denn er teilte meine Angst um ihr Leben.“
„Also hat er sich umgebracht“, konstatierte Pavel.
Faith ließ das keine Ruhe. „Und trotz alledem haben Sie noch immer geglaubt, eine gute Tat vollbracht zu haben? Dass es richtig war?“
Er versuchte sich zu verteidigen. „Ja, ich war mir sicher.“ Er zog die Stirn kraus. „Dann bekam ich selbst Kinder. Eines Tages schaute ich sie an und begriff, was ich getan hatte. Und dann fing ich an zu trinken.“
Es gab viele offene Fragen, aber eine kam Faith wichtiger vor alle anderen. Doch sie traute sich nicht, sie zu stellen. Noch nicht.
„Und warum haben Sie sich dann niemandem anvertraut?“ wollte Pavel wissen. „Warum haben Sie sich nicht selbst angezeigt, als Ihnen aufging, wie viel Schaden Sie angerichtet hatten?“
„Glauben Sie, es wäre so einfach gewesen?“
„Ich will nur Antworten“, sagte Pavel.
„Ich hielt den Senator noch immer für zu gefährlich. Hope war inzwischen ein kleines Mädchen, ein hübsches kleines Ding, und glücklich. So glücklich bei ihren neuen Eltern. Sie waren nicht reich, aber sie sahen in ihr ein Gottesgeschenk und gaben ihr alles, was sie hatten. Wenn ich der Polizei also erklärt hätte, wer sie war und was ich getan hatte, hätte ich eine glückliche Familie zerstört, um eine unglückliche wiederherzustellen. Wie hätte ich das tun können? Letzten Endes konnte ich gar nichts tun. Genau wie Dominik.“
Faith wusste, dass diese Geschichte sie monatelang beschäftigen würde. Jahrelang. Aber eine Frage war noch unbeantwortet. Die wichtigste von allen. Endlich stellte sie sie. „Alec, wo ist Hope jetzt? Bitte verraten Sie es uns. Es wird Zeit, für Klarheit zu sorgen. Sie ist jetzt achtunddreißig: Niemand kann ihr etwas tun.“
„Sie lebt. Sie ist glücklich.“ Alec verfiel in Schweigen.
„Bitte, ich habe eine Schwester“, sagte Faith. „Sie wissen nicht, was sie mir bedeutet. Hope hat eine Schwester ...“, sie warf einen Blick auf Pavel, „... und einen Bruder, und es ist nicht Ihre Aufgabe, sie abzuschirmen. Sie ist alt genug, um die Wahrheit zu erfahren und zu entscheiden, was sie mit ihr anfangen will.“
Er saß regungslos da und dachte nach. Faith wagte kaum zu atmen. Schließlich stand er auf und ging zur Kommode. Aus der obersten Schublade holte er einen Stapel ordentlich gefalteter Kleidung und etwas, das darunter gelegen hatte. Dann stopfte er die Kleidung zurück und drehte sich um.
„Ich habe ein Foto.“ Er reichte es Faith.
Mit zitternden Händen griff sie nach dem Bild. Sie erwartete, ein Baby zu sehen, das Baby, das sie nur aus alten Zeitungen kannte. Stattdessen blickte eine Erwachsene sie an, eine schöne Frau mit braunem, gelocktem Haar. Mit einem Körper, der verriet, dass sie lieber gut aß als Diät hielt, mit einem herzlichen Lächeln und warmen dunklen Augen. In den Armen hielt sie zwei kleine Kinder, einen Jungen und ein Mädchen.
„Das ist Hope?“ Sie konnte ihre Augen nicht von dem Foto abwenden, das ihr seltsam vertraut vorkam. Sie spürte, wie Pavel näher kam, um ebenfalls einen Blick darauf zu werfen. „Das ist meine Schwester? Aber ich kenne dieses Foto irgendwoher.“
„Sie schreibt Kinderbücher. Ich gehe manchmal in einen Buchladen und gucke sie mir an. Das habe ich von einem Buchumschlag abgerissen.“
Faith schaute hoch. „Nicht Karina Gililand?“
„Das ist sie.“
„Faith?“ Pavel nahm ihr das Foto aus der Hand. „Weißt du etwas über sie?“
„Als die Kinder klein waren, habe ich ihnen ihre Bücher vorgelesen. Wir haben sie alle. Ich habe sie sogar beim Umzug mitgenommen, um sie eines Tages meinen Enkelkindern zu schenken. Sie liegen auf dem Dachboden.“ Sie legte die Hände auf ihre Wangen. „Auf meinem Dachboden. In einer Ecke, direkt unter dem Balken, in den meine Großmutter ihren Namen eingeritzt hat.“
Sie fing wieder an zu weinen. Als Pavel sie in die Arme nahm, war nicht ganz klar, wer von ihnen beiden mehr Trost brauchte.