23. KAPITEL
Faith hatte schon befürchtet, dass Remy sich am nächsten Nachmittag nach der Schule aus dem Staub machen würde, aber ihre Tochter wartete tatsächlich am vereinbarten Treffpunkt darauf, von ihr abgeholt zu werden. Während der Fahrt beantwortete Remy ihre Fragen äußerst einsilbig und schwieg nach Möglichkeit, aber Faith nahm es gelassen.
Alex war einen Freund besuchen gegangen und würde erst kurz vor dem Abendessen wieder zurück sein. Da sie keine anderen Verpflichtungen hatte, fing Faith an, in ihrem Schlafzimmer die Tapeten von den Wänden zu reißen. Als sie sich nach einer Stunde umdrehte, stand zu ihrer Überraschung Remy in der offenen Tür. Offenbar hatte sie ihr zugesehen.
„Das ist ja krank. Wer hat sich bloß freiwillig diese Muster ausgesucht?“
Faith, die auf einer Trittleiter stand, hatte in der Mitte der Wand bereits breite Streifen abgelöst, aber darüber, in der Höhe, die sie mittlerweile fachmännisch als „Fries“ bezeichnete, hatte sie eine stilisierte Landschaft, einen Zypressenhain bei Sonnenuntergang entdeckt.
„Krank? Mir gefällt das. Ich wünschte, ich könnte die ganze Szene retten. Ich habe es versucht, aber es sind so viele Schichten darüber gepappt, dass es aussichtslos ist.“
„Wer will schon ein Wandgemälde ganz oben an der Wand?“
„Während der Jahrhundertwende muss das in gewesen sein. Mir schwebt ein Grünton vor, mit einer Landschaft in dieser Höhe und einem einfachen Streifen entlang der Deckenkante. Ich habe im Internet eine Bezugsadresse für Reproduktionen gefunden.“
Remy schwieg so lange, dass Faith schon dachte, sie sei in ihr Zimmer zurückgekehrt, aber ein Blick über die Schulter zeigte, dass sie noch da war.
„Du magst diese alten Zeiten wirklich, was?“ meinte Remy.
„Als kleines Mädchen habe ich meinen Kleiderschrank zur Zeitmaschine ernannt. Ich bin immer hineingekrochen und habe mir vorgestellt, dass ich am Hof von Königin Elizabeth I. wäre oder gegen Attila den Hunnenkönig kämpfen würde.“
„Du? Als Soldat?“
„Man kann sich leicht einbilden, irgendwer zu sein.“
„Ich stelle mir am liebsten vor, ich wäre alt genug, um für immer von hier wegzugehen.“
„Das glaub ich sofort.“ Faith schob den Spachtel vorsichtig unter das Papier, und es gelang ihr, einen weiteren handbreiten Tapetenstreifen abzulösen.
„Die Tapete in meinem Zimmer ist auch furchtbar.“
„Ich weiß.“ Faith fuhr fort, das Papier abzureißen. Es war eine Arbeit für einen Menschen mit unendlicher Geduld und viel Zeit, und ihr mangelte es im Moment an beidem.
„Das Zimmer ist sonst aber nicht schlecht. Nachts sind die Lichter draußen echt Klasse.“
Faith wäre beinahe von der Leiter gefallen. Sie versuchte, gelassen zu klingen. „Stimmt. Du hast die schönste Aussicht.“
„Die Kätzchen sind jetzt fast alt genug, um sie zu verschenken.“
„Darüber wollte ich ohnehin mit dir reden.“ Faith hatte es mittlerweile geschafft, Gast und die Kleinen zum Tierarzt zu bringen. Sie waren gesund und hatten schon ihre ersten Impfungen hinter sich gebracht. Gast war immer noch scheu, aber die Kätzchen waren dank Alex und Remy recht zutraulich.
„Gast kennt dieses Haus in- und auswendig. Ich weiß genau, wie sie sich fühlt. Für sie ist es komisch, dass wir jetzt hier wohnen, aber sie hat sich daran gewöhnt. Wenn wir sie weggeben würden, wäre das zu viel für sie.“
„Glaubst du, dass sie je richtig zahm wird?“
„Sie entwickelt allmählich Zutrauen. Gestern ist sie mir auf den Schoß gesprungen.“
Faith wäre am liebsten von der Leiter gestiegen, hätte die Katze gesucht und ihr einen dicken Schmatz gegeben. „Wenn du Gast behalten möchtest, ist das in Ordnung. Aber sie muss sterilisiert werden. Keine weiteren Kätzchen mehr.“
„Ich würde auch Fleckchen gerne behalten.“
Fleckchen war das Kleine mit dem Schildpattfell. Inzwischen hatten sie alle Namen. „Zwei Katzen?“
„Ich werde mich um sie kümmern.“ Remy sagte nicht ausdrücklich „bitte“, aber es schwang in ihrem Tonfall mit.
Faith war sich darüber im Klaren, dass ihre Tochter sich nur zusammengerissen hatte, um in Sachen Katzen etwas zu erreichen. Aber dass Remy überhaupt noch so umgänglich sein konnte, war schon erfreulich genug, um Faith milde zu stimmen.
„Okay?“ fragte Remy.
„Ich verrate dir etwas. Ich starte jetzt einen Bestechungsversuch. Wenn du mich beim Renovieren deines Zimmers helfen lässt, darfst du Fleckchen behalten.“
„Was hast du vor?“
Faith stieg die Leiter hinab. „Als Erstes sehen wir mal nach, wie viele Tapetenschichten wir ablösen müssen. Wenn sie alle runter sind, kannst du die Wände entweder streichen oder mit einer schönen neuen Tapete bekleben.“
„Meinst du, ich kann das?“ Remy klang skeptisch.
„Remy, ich traue dir alles zu. Ich glaube, wenn du es wirklich willst, kannst du alles schaffen. Deshalb nimmt mich dein Schulproblem ja so mit.“
„Ich möchte nicht darüber reden.“
„Dann unterhalten wir uns halt über Tapeten.“
Zehn Minuten später saßen sie nebeneinander auf dem Fußboden in Remys Zimmer, ein Kittmesser in der einen, einen Schwamm in der anderen Hand, und fingen an einer Ecke an, die Tapetenlage zu erforschen.
„Dieser Raum ist nicht viel genutzt worden. Das änderte sich erst, als deine Großmutter das Haus vermietet hat. Also dürften es nicht so viele Schichten sein wie bei mir“, erläuterte Faith.
„Wer hat das Zeug bloß ausgesucht?“ Remy schabte die oberste Lage ab. Es ging zum Glück recht leicht. Faith hatte den Verdacht, dass ihre Mutter den allerbilligsten Tapezierer von Washington beschäftigt hatte.
„Jemand, der Geld sparen wollte. Deine Großmutter.“
„Weißt du, was ich glaube? Ich nehme an, sie wollte Hopes Tapete abdecken. Sodass sie nicht jedes Mal daran erinnert wurde, verstehst du?“
Offenbar dachte Remy mehr über die Familie nach, als sie sich anmerken ließ. „Du hast bestimmt Recht, aber nicht mit dieser Schicht. Ich vermute, Hopes Kinderzimmertapete liegt um einiges tiefer. Das ist so lange her.“
„So wie ihr es um jeden Preis vermeidet, das Thema anzuschneiden, könnte man meinen, es wäre erst gestern passiert.“
„Was willst du damit sagen?“
„Also, normalerweise reden Leute nicht gern über aktuelle Probleme, über Sachen, die noch richtig wehtun. Aber in unserer Familie wird über die Entführung sogar jetzt noch nicht gesprochen.“
„Wenn ein Kind zur Welt kommt, hat man sofort das Gefühl, dass man diesen Menschen schon ewig kennt und liebt. Als meine Mutter Hope verlor, war es so, als hätte man ihr einen Arm oder ein Bein abgehackt, obwohl sie das Baby nur ein paar Tage hatte.“
„Würdest du dasselbe fühlen?“
„Ich habe keine Ahnung, ob ich das überhaupt durchgestanden hätte.“ Faith wog ihre nächsten Worte sehr genau ab. „Mutter hat damals einen Teil ihres Herzens verloren, und seitdem lässt sie keinen an den Rest heran.“
„Du glaubst, deshalb ist sie so ... Ich weiß nicht ...“
„Distanziert?“
„Fies.“
Faith musste lächeln. „Also, ich habe sie vor der Entführung natürlich noch nicht gekannt.“
Remy kicherte. „Vielleicht war sie schon immer fies.“
„Sie hält ihre Mitmenschen einfach auf Distanz. Seit wir hergezogen sind, ist es besser geworden. Ist dir das aufgefallen?“
„Vielleicht kommt es dir nur so vor, weil du sonst niemanden zum Reden hast, seit Daddy weg ist.“
Faith fand es ermutigend, dass Remy David erwähnte. „Vielleicht bin ich einfach umgänglicher geworden.“
„Aber auf mich bist du dauernd sauer.“
„Aus gutem Grund.“
Remy antwortete nicht.
Schweigend schabten sie weiter. Als sie die oberste Schicht entfernt hatten, machten sie sich an die nächste, die ebenfalls hässlich war. Der Designer hatte sich wohl für einen Pop-Art-Künstler gehalten. Die Herzen und Blumen sollten wohl gute Laune verbreiten.
„Das schaut nach den Spätsechzigern aus – oder frühe Siebziger. Eben noch ein Beatles-Cover und jetzt schon als Tapete an der Wand.“
„Wann ist Hope geboren worden?“
„1962. Also dürfte sich noch wenigstens eine weitere Schicht zwischen dieser und der Kindertapete befinden.“
„Womit hat Großmutter dein Kinderzimmer tapeziert?“
„Wachsoldaten.“ Faith traktierte das Papier mit ihrem Messer. „Nein, das war nur ein Scherz. Ich habe Fotos gesehen. Sie war mit Teddybären in allen Formen und Größen übersät. Und als ich geboren wurde, haben uns die Leute aus ganz Virginia Teddybären geschickt. Puppen und Teddybären.“
„Wegen Hope?“
„Dein Großvater hat sie alle in Kinderkrankenhäuser verfrachten lassen, aber ich habe vor kurzem einen Zeitungsbericht darüber entdeckt. Vorher wusste ich das nicht.“
„Ich schätze, die meisten Leute waren froh, dass mit dir alles gut gegangen ist.“
„Die Menschen lieben Happy Ends.“
„Ich habe gedacht, alle Geschichten hätten ein Happy End.“
Faith war gerührt. „Du solltest die nächste Folge dieser Geschichte abwarten. Manchmal führen die holprigsten Straßen schließlich zu den allerschönsten Plätzen.“
„Das ist ja wohl superplatt, selbst für dich.“
Faith brach in Gelächter aus. „Du lässt mir nichts durchgehen.
Das muss ich dir lassen, Kleine.“
Sie kratzten und zogen, kamen sich gelegentlich ins Gehege, wenn sie sich anders setzen mussten, und lehnten sich eine Zeit lang bequem mit den Rücken aneinander. Die dritte Tapete war marineblau mit winzigen weißen Bourbonenlilien in strengen Reihen. Schlicht und strapazierfähig – sie passte besser in ein Arbeitsals in ein Schlafzimmer.
„Das ist bestimmt die letzte Schicht über Hopes Kindertapete“, meinte Faith. „Sie ist dunkel genug, um alles darunter hundertprozentig abzudecken.“
„Sie ist so dunkel, dass das Zimmer bestimmt wie eine Grabkammer gewirkt hat.“
Faith dachte, dass der Raum den beiden Menschen, deren Kind aus diesen vier Wänden gestohlen worden war, ohnehin wie eine Grabkammer vorgekommen sein muss.
Sie kratzten und schabten weiter und trugen mit einem großen Schwamm eine Speziallösung auf das Papier auf, die Faith aus ihrem Zimmer mitgebracht hatte. Die nächste Schicht sah anders aus, als sie erwartet hatten. Es war eine elegante Tapete mit smaragdgrünen und goldenen Streifen, etwas zu förmlich für ein Schlafzimmer, aber im Einklang mit der traditionellen Innengestaltung des Hauses.
„Wo sind die Enten und Clowns?“ Remy legte ihr Kittmesser zur Seite.
„Das ist wirklich seltsam.“ Auch Faith hielt einen Moment inne. Die Herzen und Blumen, die sie vorhin entdeckt hatten, stammten eindeutig vom Ende der sechziger oder vom Anfang der siebziger Jahre. Darunter hatten Remy und sie zwei weitere Schichten freigelegt. Das war eine Menge Tapete für nur ein Jahrzehnt. „Ich vermute mal, dass jemand eingezogen ist, der die Tapete hässlich fand und eine neue darüber geklebt hat.“
„College-Studenten?“
Schweigend gestand Faith sich ein, dass das nicht stimmen konnte. „Noch eine Schicht, dann geben wir auf. Ich bin wirklich neugierig.“
Zwei Schichten später fügten sie sich in das Offensichtliche: Hope Hustons Eltern hatten ihr geliebtes Baby in einem Zimmer einquartiert, das mit förmlichem Smaragdgrün oder strengem Mitternachtsblau tapeziert gewesen war. Keine Entchen. Keine Clowns. Keine grinsenden Teddybären.
„Wie hast du damals mein Kinderzimmer tapeziert?“ fragte Remy.
„Mit Feen und Schmetterlingen. Ich habe Wochen gebraucht, um mich für ein Muster zu entscheiden.“
„Ich hatte Baby-Tapeten. Du hattest Baby-Tapeten. Warum hatte Hope keine?“
Es war merkwürdig. Faith überlegte, ob Lydia für Hope so wenig mütterliche Gefühle aufgebracht hatte, dass sie es nicht für nötig gehalten hatte, ihr Zimmer hübsch einzurichten.
„Was würdest du sagen, wenn ich mein Zimmer schwarz streiche?“
„Ich würde Nein sagen.“
„Es ist mein Zimmer, oder?“
„Ein Zimmer, keine Höhle.“
„Und wenn ich eine Tapete nehme? Eine dunkle? Du hast dich ja auch für Dunkelgrün entschieden.“
„Das wäre in Ordnung. Aber zeig mir das Muster vorher, sicherheitshalber.“
„Was denkst du denn von mir? Dass ich eine Tapete mit aufgesprayten Banden-Graffiti haben möchte?“
„Gibt es so was?“
Remy kicherte. Faith legte ihrer Tochter den Arm um die Schultern und drückte sie rasch an sich.
Nachdem ihre Mutter nach unten gegangen war, um das Abendessen zu richten, zupfte Remy an den Tapeten herum. Jetzt, da sie wieder eine Küche hatten, versuchte Faith so zu tun, als wäre wieder alles wie früher in McLean. Als würde Remy dieses Theater nicht sofort durchschauen. Zimtschnecken und Hühnchen mit Klößen reichten nicht aus, um eine Familie zu sein. Ebenso wenig wie neue Küchenmöbel oder Tapeten. Faith spielte Mutter, Vater, Kind – so wie Remy früher mit ihren Puppen. Nur dass es bei ihnen im Moment keinen Vater gab.
Das Telefon klingelte, aber sie ging nicht ran. Es war sowieso nie für sie. Megan rief nicht mehr an, weil Remy nie gewusst hatte, worüber sie mit ihr reden sollte. Sie wollte Megan nichts von den Jungs aus der Wohngemeinschaft erzählen, weil Megan es womöglich ihrer Mutter verraten würde, die sich wiederum veranlasst sehen könnte, Faith darüber zu informieren. Wenn das geschähe, würde Remy das Haus vermutlich nie wieder verlassen dürfen.
Sie konnte sich nicht mehr erklären, warum sie sich auf die Tapeten-Aktion eingelassen und eine Weile vergessen hatte, dass ihre Mutter eine echte Plage war. Sie wohnte nicht wirklich hier und würde sich hier nie zu Hause fühlen. Sie wusste nicht, warum sie diesen Quatsch über die schönen Lichter gesagt hatte, die ihr in Wirklichkeit nur schmerzhaft bewusst machten, dass es da draußen eine Welt gab: eine Welt, in die sie fliehen würde, sobald sie alt genug war.
In der letzten Zeit hatte sie nur für die wenigen Stunden in der Woche gelebt, in denen sie aus diesem Georgetown-Knast abhauen und Enzio treffen konnte. Jetzt, da sie in Einzelhaft saß, war es selbst mit dieser Ablenkung von ihrem Elend vorbei.
Faith klopfte zum wiederholten Mal an ihre Tür, und Remy rang sich ein lethargisches „Herein“ ab.
„Das war Alex. Sammy und er haben ein Stück geschrieben, und sie wollen es Sammys Mutter und mir vorführen, bevor er nach Hause kommt. Möchtest du mitkommen?“
Das war so blöd, dass Remy es nicht einmal für nötig hielt, zu antworten. Sie verdrehte nur die Augen.
„Kann ich mich darauf verlassen, dass du keinen Unsinn machst?“ fragte Faith. „Es wird vielleicht ein Weilchen dauern.“
„Was zum Beispiel? Mit Streichhölzern spielen? Abflussreiniger trinken?“
„Bleib im Haus. Ich weiß nicht, wann ich wieder da bin“, sagte Faith, „aber ich erwarte auf jeden Fall, dich hier vorzufinden.“
„Sieg heil!“ Remy streckte den Arm aus.
Kopfschüttelnd zog Faith die Tür hinter sich zu.
Remy wartete, bis sie die Haustür ins Schloss fallen hörte. Dann rannte sie ans Fenster von Faith’ Schlafzimmer und schaute ihrer Mutter nach. Zurück in ihrem Zimmer, schlüpfte Remy in die Schuhe und kämmte sich das Haar – was neuerdings ziemlich schnell ging. Mit dem neuen Schnitt fühlte sie sich älter und weiser, wie ein neuer Mensch. Wie jemand, der alles tun konnte, was er wollte.
Sie schloss die Haustür und ging die Straße entlang. Sie wusste, dass Enzio heute Nachmittag frei hatte.
Enzio hatte noch immer keine Ahnung, wie alt sie war, aber sie hatte ihm und den anderen Jungs mitgeteilt, dass ihre Mutter verrückt war und von Remy erwartete, dass sie rund um die Uhr arbeitete und lernte. Sie musste ihnen schließlich irgendwas erzählen, damit sie nicht plötzlich vor der Tür standen und nach ihr fragten.
Was eine Katastrophe wäre. Enzio war Faith bereits bei ihrem Einkaufsbummel aufgefallen. Was würde sie erst sagen, wenn sie wüsste, wie viel Zeit Remy mit ihm verbrachte? Faith würde sie auf dem Dachboden einschließen, bis sie eine vertrocknete Greisin war. Dann bliebe Remy nichts weiter übrig, als ebenfalls ihren Namen in einen Dachbalken zu schnitzen.
Die Tür war nur angelehnt, als sie ankam. Sie drückte sie auf und rief laut Hallo, bevor sie eintrat. Selim war im Wohnzimmer und befestigte gerade Bärs Leine am Halsband. Er stand auf und ging auf sie zu.
„Macht ihr einen Spaziergang?“ Remy beugte sich vor und kraulte Bär am Hals.
„Wir gehen zum Kanal, um Leute zu treffen.“
„Ist Colin zu Hause?“ Sie wollte sich nicht anmerken lassen, dass sie nur wegen Enzio hier war.
„Irgendwo wird er schon stecken.“
„Enzio?“
„Yeah.“ Selim nickte ihr zu und ließ sich von Bär auf die Straße ziehen.
„Remy!“ Colin kam aus der Küche und strahlte sie herzlich an. Er war der netteste der Hausbewohner, ein Großer-Bruder-Typ, der jeden mochte und es schaffte, seinerseits von allen gemocht zu werden. „Was hast du mit deinem Haar gemacht?“
„Abgeschnitten. Gefällt es dir?“
Er lief auf sie zu, nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und betrachtete sie eingehend. „Niedlich“, verkündete er.
„Ich möchte nicht niedlich sein. Kleine Leute werden automatisch für niedlich gehalten.“
„Wie willst du denn sein?“
„Umwerfend.“
Er trat zurück. „Das auch. Schaust du bloß mal vorbei?“
„Ich kann nicht lange bleiben. Hatte nur vor, schnell Hallo zu sagen.“
„Deine Mutter hält dich an der kurzen Leine, was?“
„Sie will mich nächstes Jahr auf ein gutes College schicken.“
„Wo hast du dich beworben?“
„Virginia-Universität. William-and-Mary-College.“ Remy zuckte mit den Schultern, um zu zeigen, dass das für sie keine große Sache war.
„Nicht Georgetown?“
„Wer möchte schon zu Hause wohnen?“ Remy fragte sich, was sie nächstes Jahr tun sollte, wenn sie in die High School kam und den Jungs hier vorgaukeln musste, sie ginge auf ein College. Wahrscheinlich war es verfrüht, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
„Ich muss zur Bibliothek“, sagte Colin. „Ich glaube, Enzio schwirrt hier irgendwo rum.“
„Ich such ihn und begrüß ihn kurz.“
Colin nahm einen Stapel Bücher vom Kaffeetisch mit den Wasserflecken und schob eine Pizzaschachtel sowie zwei halb leere Milchgläser beiseite, um seinen Notizblock freizuschaufeln. Er legte ihn oben auf den Stapel, eilte zur Haustür und schlug sie hinter sich zu.
Remy fragte sich, ob Paul, der vierte Mitbewohner, der sich fast immer bei seiner Freundin aufhielt, ausnahmsweise ebenfalls zu Hause war oder ob Enzio und sie allein waren.
„Was ist das hier für ein Lärm?“ Enzio kam die Treppe herunter, mit nacktem Oberkörper. Er streckte sich, als wäre er gerade aufgewacht.
„Colin kann eine Tür offensichtlich nicht vernünftig zumachen.“
„Wo sind Selim und der Köter?“
„Sind schon vor Colin weg.“
Enzio ließ sich auf dem Treppenabsatz nieder, offenbar zu schlapp, um den Weg fortzusetzen. „Und was treibst du hier?“
„Ich wollte nur mal vorbeischauen. Kann nicht lange bleiben. Meine Mutter würde ausrasten, wenn sie wüsste, dass ich hier bin.“
„Warum lässt du dir das von ihr gefallen?“
„Sie füttert mich durch. Und nächstes Jahr ziehe ich eh aus.“
„Ich hab was für dich.“
Remy stand jetzt am Fuß der Treppe, lehnte sich gegen den Pfosten und sah zu ihm hoch. „Yeah?“
„Ich hol’s.“ Er reckte sich noch einmal und ließ seine Brustmuskeln spielen. „Bin gleich wieder da.“
Ihre Neugier wuchs. Wenn Enzio ihr wirklich etwas mitgebracht hatte, hieß das, dass er an sie dachte, wenn sie nicht da war. Wie großartig! Sie fühlte sich wunderbar und hatte den Eindruck, an einem Wendepunkt in ihrem Leben zu stehen, als ereigne sich plötzlich eine Wende zum Besseren.
„Hier.“ Er nahm je zwei Stufen auf einmal und warf ihr eine grell pinkfarbene Plastiktüte von „Lawford’s“ zu. Remy fing sie auf und blickte hinein. Unter einem Knäuel Seidenpapier lagen der limettengrüne Rock und das Jäckchen mit dem Strass-Reißverschluss.
„Enzio!“ Sie zog die Jacke heraus, die zwar ein bisschen zerknittert war, aber immer noch fantastisch aussah. Sie hielt sie an ihre Brust. „Das hat bestimmt eine Menge gekostet, oder?“
Er zuckte mit den Achseln. „Nicht der Rede wert.“
„Es ist der Rede wert. Ich weiß noch, was auf dem Preisschild stand.“
„So eine Tussi hat es gekauft und dann zurückgegeben. Und dann habe ich vergessen, es wieder an die Stange zu hängen. Kapiert?“
„Willst du damit sagen, dass du nichts dafür bezahlt hast?“
„Mir kam’s so vor, als hätte sie es schon getragen, bevor sie es zurückgebracht hat.“
Sie kannte sich mit so etwas nicht aus, nahm aber an, dass Enzio wusste, was er tat. „Also, dann vielen Dank!“
„Zieh’s an.“
Sie schaute ihn an. „Jetzt?“
„Yeah. Ich will dich nochmal darin sehen.“
Remy warf einen kurzen Blick auf ihre Jeans und ihr T-Shirt. „Ich weiß nicht.“
„Du kannst das Bad benutzen, um dich umzuziehen. Es dauert doch nur eine Minute.“
„Ja, okay.“ Sie ging ins Badezimmer neben der Küche. „Bin gleich zurück.“
Ein paar Minuten später stand sie in dem winzigen Raum und zerrte an dem Rock, der kaum ihren Po bedeckte. In diesem Outfit fühlte sie sich seltsam – sie erkannte sich selbst kaum wieder.
Als sie herauskam, war Enzio in der Küche gerade damit beschäftigt, Kaffee zu kochen. Er schien fast ausschließlich von Kaffee zu leben und roch ständig danach. Immer, wenn ihre Mutter eine Kanne aufsetzte, musste Remy an ihn denken. Sie dachte oft an ihn.
„Was meinst du?“ Sie warf sich in Pose, eine Hand auf der Hüfte, eine hinter dem Ohr.
„Süßes Kindchen.“ Er musterte sie. „Zieh den Reißverschluss ein bisschen runter und zeig mir mehr Haut.“
Rasch legte sie die Hand auf die Strassleiste. „Ich finde es so genau richtig.“
Er lachte und lief auf sie zu. „Wir sind heute schüchtern, was? Ich schenke dir etwas Tolles, und du willst mich noch nicht einmal dein Schlüsselbein angucken lassen?“
Sie lachte nervös und fühlte sich kindisch. „Bleib stehen, dann tu ich’s.“
„Klar. Ich habe gute Augen.“
Sie zog den Schieber herunter, bis er zwischen ihren kleinen Brüsten hing. Sie hatte T-Shirts, die weniger Haut bedeckten, aber es fühlte sich eigenartig an, den Reißverschluss unter Enzios Blicken zu öffnen.
„Wovor hast du solche Angst? Hat dich noch nie jemand nackt gesehen?“
„Nein, und daran wird sich auch nichts ändern.“
Er lächelte, ohne seine Zähne zu zeigen. „Du hast die High School als Jungfrau absolviert? Ist das nicht ein neuer Weltrekord?“
„Na ja, noch bin ich nicht fertig mit der High School.“
„Da hast du Recht.“ Sein Lächeln wurde breiter. „Komm her, kleines Mädchen. Beweise Enzio deine Dankbarkeit.“
Remy wusste, dass sie dem Spuk spätestens jetzt ein Ende bereiten sollte, bevor die Situation endgültig außer Kontrolle geriet. Sie musste die aufregendste Sache, die sie je erlebt hatte, hier abbrechen.
Doch stattdessen machte sie einen Schritt auf ihn zu, dann noch einen. Seine Arme glitten um ihre Taille, und er zog sie an sich. Dann beugte er sich vor und knabberte an der Oberkante ihres Ohrs. „Warum hast du dir die Haare abschneiden lassen?“
„Ich weiß nicht.“ Es kam ihr vor, als wären ihre Knie aus Gummi.
„Damit ich das hier tun kann?“ Er presste Lippen und Zunge an ihr Ohr, arbeitete sich die Wölbung hinunter, zupfte am Ohrläppchen. „Und das?“
„Kann ... sein ...“
Er küsste ihren Hals. Eine Hand schob sich unter die Jacke und bahnte sich langsam ihren Weg nach oben. Zunächst streichelte er ihr nur den Rücken, dann glitten zwei Finger unter ihren BH, und bevor sie wusste, wie ihr geschah, war der Verschluss offen. Blitzschnell presste er die Hand auf eine Brust.
„Hmmm ... Gut.“
Remy war so schockiert, dass sie keine Ahnung hatte, was sie tun sollte. Alles war so schnell gegangen. Eben hatte sie noch überlegt, was seine Lippen da taten, und jetzt zwickten seine Finger schon ihre Brust.
„Ich denke ...“
„Nicht denken, Baby.“ Mit seiner freien Hand drehte Enzio ihren Kopf und küsste sie auf den Mund. Er drückte sie gegen den Kühlschrank. Seine andere Hand zog den Reißverschluss von innen langsam weiter auf. Bald war das Jäckchen ganz offen, und er massierte mit beiden Händen ihre Brüste.
Ihr war ganz schwindelig von den vielen Empfindungen. Die wärmsten Hände, die sie sich vorstellen konnte, pressten sie sanft gegen kaltes Metall. Seine Zunge drängte sich zwischen ihre Lippen, und seine Hüften gerieten in Bewegung. Sie wollte sich aus seiner Umklammerung befreien und sich zugleich stärker an ihn schmiegen.
Sie rang noch immer mit diesen widerstrebenden Gefühlen, als die Haustür zuschlug.
„Fuck!“ Enzio machte einen Satz zurück.
Remy griff nach dem Reißverschluss. Kaum hatte sie die Jacke hastig geschlossen, betrat auch schon Colin die Küche. „Ich habe ein Buch vergessen. Enz, hast du das Buch über den Korea-Krieg gesehen, das ich gelesen habe?“ Er blieb stehen und blickte Remy an. „Hattest du das eben auch schon an? Wie konnte mir das nur entgehen?“
Remy war sich sicher, dass ihre Wangen rot leuchteten und Enzios Lippen und Hände eine neonfarbene, blinkende Spur auf ihr hinterlassen hatten.
„Ich habe ihr die Klamotten geschenkt“, sagte Enzio. „Was hältst du von den Sachen?“
Colin wirkte überrascht. Skeptisch guckte er erst Remy, dann Enzio an. „Du hast ihr das geschenkt?“
„Nichts Besonderes. Im Laden ist es aussortiert worden, und ich dachte, Remy würde es stehen.“
Colin wirkte noch immer etwas beunruhigt. „Klar. Du schaust gut aus, Remy. Klasse.“
„Ich muss nach Hause.“ Sie fühlte sich ungemein geschmeichelt. „Ich zieh mich besser um. Meine Mutter hat was gegen kurze Röcke.“
„Vielleicht hat deine Mutter gar nicht so Unrecht“, meinte Colin.
Enzio suchte in seiner Hosentasche nach Zigaretten. „Misch dich nicht ein.“
Colin zuckte mit den Schultern.
Remy machte sich aus dem Staub. Im Badezimmer zog sie erst ihre Jeans hoch, bevor sie den Rock abstreifte. Ihre Finger zitterten so sehr, dass sie den BH-Verschluss fast nicht zubekommen hätte. Als sie das Bad verließ, war Colin schon wieder weg, und Enzio stand rauchend an der Spüle.
„Zu dumm, dass ich schon wegmuss.“ Sie war sich nicht sicher, ob das der Wahrheit entsprach, aber es klang jedenfalls cool.
„Nächstes Mal achten wir drauf, dass er uns nicht stören kann.“
Nächstes Mal. Diese Option brachte alle Stellen, die er berührt hatte, wieder zum Glühen. Gleichzeitig jagte sie ihr einen gehörigen Schrecken ein.
„Danke für die Klamotten“, sagte sie.
„Heb sie auf und zieh sie nächstes Mal wieder an, wenn wir allein sind.“
Sie lächelte – oder versuchte es zumindest.
Als sie auf den Gehweg trat, keimte in ihr für einen kurzen Augenblick die Hoffnung auf, dass ihre Mutter bereits zu Hause sein würde und sie ihr Rede und Antwort stehen müsste und ihr alles sagen könnte, was passiert war. Aber als sie dort eintraf, war alles still.
Sie setzte sich an das Klavier ihrer Ururgroßmutter und fing an, ein Lied zu spielen, das sie gelernt hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war.