17. KAPITEL
Remy wartete darauf, dass ihre Mutter sie bestrafte. Nach der Konfrontation mit ihrem Vater hockte sie allein in ihrem Zimmer, schluchzte und drosch auf ihr Kissen ein, bis es aufplatzte und die Füllung in zarten Flocken herausrieselte. Nach ein paar Minuten vernahm sie, wie Faith das Haus betrat, und war sich sicher, dass sie gleich bei ihr auftauchen würde. Aber ihre Mutter dachte nicht daran.
Als sie sich nach einiger Zeit wieder gefangen hatte, ging Remy nach unten, um die Auseinandersetzung hinter sich zu bringen. Faith saß im Wohnzimmer und starrte ins Leere. Remy hörte Stimmen im Garten und nahm an, dass Alex und dieser furchtbare Obdachlose wieder Efeu herausrissen. Die Anwesenheit dieses Mannes war ein weiterer Beleg dafür, dass ihre Mutter – genau wie ihr Vater – völlig durchgedreht war.
Faith blickte hoch, als Remy näher kam. „Wie konntest du nur! Er ist dein Vater – trotz allem. Wie bist du nur auf die Idee gekommen, dass du das Recht hättest, ihn zu schlagen?“
„Er hat mich festgehalten.“
„Ja, ich weiß. Weil du deinen Bruder geschubst hast. Alex hat mir die ganze üble Geschichte erzählt.“
„Alex ist ein Klatschmaul.“
„Alex hat sich sehr bemüht, fair zu bleiben. Aber er konnte nicht viel zu deinen Gunsten sagen. Für dein schlechtes Benehmen gibt es keine Entschuldigung. Keine. Schluss, aus.“
Remy merkte, dass ihr hundert wichtige Fragen auf der Zunge lagen, aber sie brachte nur die profanste unter ihnen heraus: „Ich bekomme also wieder Hausarrest?“
Faith klopfte neben sich auf das Sofa. Erst wollte Remy der Einladung nicht folgen, aber als sie sah, wie sich Faith’ Miene verfinsterte, ging ihr auf, dass sie sich besser fügte. So weit von ihrer Mutter entfernt wie möglich hockte sie sich auf die Kante der Couch.
„Ich habe keine Ahnung, was ich mit dir tun soll – oder für dich“, begann Faith. „Ich weiß, dass du jede Menge Kummer hast. Ich merke, dass du auf alle böse bist. Aber wie konnte es so weit kommen, Remy? Hat dir irgendjemand in unserer Familie beigebracht, dass es in Ordnung ist, die Menschen, die dich lieben, zu beschimpfen? Hast du so ein Verhalten je bei uns zu Hause erlebt?“
Reue stieg in Remy auf. Der Ausdruck in den Augen ihres Vaters, als sie ihn geschlagen hatte, war ihr nicht entgangen. Er hatte wie jemand geguckt, der eine Massenkarambolage auf der Umgehungsstraße mit ansehen musste. Ein Teil von ihr hatte sich darüber gefreut, aber eigentlich war ihr elend zu Mute gewesen.
In diesem Augenblick waren ihr aus unerfindlichen Gründen all die Situationen eingefallen, in denen David sie auf den Schoß genommen hatte, wenn sie krank oder verängstigt gewesen war.
„Tut es dir Leid?“ fragte Faith.
Remy war klar, dass von der Antwort viel abhing. Sie wollte lügen und Ja sagen, um ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Vielleicht wäre das nicht einmal gelogen; sie wusste es nicht. Aber mit jeder Lüge, die sie erzählte, fühlte sie sich schlechter, selbst wenn die Freiheit, die sie bewirkte, ihr beschissenes Leben ein wenig erträglicher machte.
„Es tut mir Leid, dass ich ihn geschlagen habe“, sagte Remy schließlich. „Ich bin einfach durchgedreht. Ich will ihn nicht sehen und nicht mit ihm reden, und ich konnte nicht an ihm vorbei ins Haus. Ich hatte das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Ich habe jetzt immer das Gefühl, in einem Käfig zu hocken. Wie die blöde Ratte, die Alex gefangen hat.“
„Du fehlst ihm. Er wollte nur mit dir sprechen und dich nicht in einen Käfig stecken.“
„Mir fehlt er nicht.“
„Oh doch.“
„Du glaubst wohl, du weißt alles über mich.“
„Ich wünschte, es wäre so. Ich wünschte, ich würde das Mädchen, das ich großgezogen habe, noch irgendwo in diesem Teenager-Körper entdecken. Das Kind, das niemanden geschlagen und nicht mit schrecklichen Schimpfwörtern um sich geworfen hat. Das noch wusste, wie man anderen ihre Fehler vergibt.“
„Fehler? Was er getan hat, war schon ein ziemlich dicker Hund, nicht?“
„Es wird Zeit, dass du nicht nur um dich selbst kreist. Du bist hier nicht allein. Du bist eine von vier Personen in dieser Familie.“
„Er gehört nicht mehr dazu. Ihr lasst euch scheiden.“
„David Bronson wird immer dein Vater bleiben. Und zwischen deinem Vater und mir wird durch Alex und dich immer eine Verbindung bestehen, und durch alles, was wir in unserer Ehe gemeinsam erlebt haben. Unsere Familie hat sich verändert, aber wir gehören noch immer zusammen.“
„Du hast auf alles eine Antwort parat. Als ob du dauernd in so einem blöden Buch über Teenager und Scheidung liest und das dann runterbetest.“
Faith konnte sich nicht entscheiden, ob sie lächeln oder böse gucken sollte. „Weißt du, Schatz, ich wünschte, jemand würde dieses Buch schreiben. Ich könnte Rat gebrauchen.“
Remy fühlte, wie ihr die Luft ausging. Ihre Wut wollte nicht wieder auflodern; offenbar war der Vorrat begrenzt, und sie hatte ihr heutiges Kontingent verbraucht. So wie sie einen Augenblick lang Mitleid mit ihrem Vater verspürt hatte, bedauerte sie jetzt eine volle Minute die Lage ihrer armen Mutter.
Schließlich schüttelte Remy den Kopf. „Ich war so wütend. Ich hatte nicht vor, ihn zu schlagen. Aber als er mich angefasst hat, bin ich ausgerastet. Ich will es dir und Alex doch nicht noch schwerer machen.“
Faith wirkte erleichtert. Remy nahm an, dass sie die Zauberworte diesmal ernsthaft genug vorgetragen hatte, um ihre Mutter zufrieden zu stellen.
„Ich erteile dir keinen Stubenarrest“, antwortete Faith. „Aber es darf nie wieder vorkommen, Remy.“
„Er hat mir fest versprochen, dass er mich ab jetzt in Ruhe lässt.“
„Es fällt ihm entsetzlich schwer, dir mehr Zeit zu lassen. Er braucht seine Tochter. Das ist eine schwarze Stunde im Leben deines Vaters.“
„Ach ja? Vielleicht hätte er sich diese ganze Homosexualitätskiste vorher mal überlegen sollen.“
„Ich vermute, das hat er.“
„Ich möchte ein bisschen an die frische Luft.“ Remy stand auf.
„Vielleicht gehe ich zu Billie rüber.“
„Ich weiß nicht, ich ...“
„Also bin ich hier doch im Knast? Du musst es nur sagen, dann krieche ich zu dieser dämlichen Ratte in den Käfig. Dann habe ich wenigstens Gesellschaft. In McLean konnte ich spazieren gehen, wann immer ich wollte. Aber wenn sich das geändert hat, wie alles andere, dann teile es mir mit, okay?“
Faith schien hin- und hergerissen zu sein. Sie hatte ihre Gefühle noch nie gut verbergen können, und diese Tatsache machte sich Remy zu Nutze. „Wenn Georgetown so gefährlich ist, sollten wir nicht hier leben, oder?“
„Bitte bleib nicht lange weg, okay?“
Remy hatte ihrer Mutter Billies Telefonnummer gegeben. Vor ein paar Wochen hatte Faith mit Billies Mutter gesprochen, um herauszufinden, ob es dieser recht war, wenn Remy ab und zu nachmittags dort auftauchte. Billies Mom, die zwei Jobs nachging, hatte auf Faith offenbar einen guten Eindruck gemacht; Remy war ihr noch nie begegnet.
„Wenn ich Billie besuche, kann ich eine Stunde bleiben?“
„Ich denke schon.“
„Gut.“ Remy lief zur Tür.
„Zum Abendessen besorge ich Hühnchen und den Bohnensalat, den du so gerne magst. Aber du musst um halb sechs hier sein. Vergiss nicht, dass ich eine Verabredung habe. Deine Großmutter holt euch um sechs ab.“
David hatte ihr ein Eis kaufen wollen. Jetzt versuchte Faith sie mit Bohnensalat zu ködern. Remy kam es so vor, als würden ihre Eltern total hinter dem Mond leben.
Sie ging bis zur Wisconsin Avenue und bog dann links ab, um zu „Lawford’s“ zu gelangen, dem Klamottenladen, in dem Enzio arbeitete. Sie wusste, dass er freitags die Nachmittagsschicht hatte, weil sie ihn letzte Woche hier getroffen hatte.
Billie Wolfgard ging auf Remys Schule und saß mit ihr im selben Naturwissenschaftskurs. Sie war zwei Jahre älter als Remy, da sie zweimal sitzen geblieben war. Billie hasste Hausaufgaben – einer der Gründe dafür, dass sie noch immer die achte Klasse besuchte. Remy tat dieses Jahr selbst nicht viel, aber die naturwissenschaftlichen Aufgaben fielen ihr leicht, und sie schaute jeden Morgen kurz bei Billie vorbei, damit diese die Lösungen abschreiben konnte. Remy hatte Alex das Versprechen abgenommen, dass er Faith nichts von diesem täglichen Abstecher erzählte.
Remy konnte Billie, die laut und überdreht war, nicht wirklich gut leiden, aber als Gegenleistung für Remys Hausaufgabendienste hatte Billie versprochen, so zu tun, als sei Remy gerade auf der Toilette oder sonst wie unabkömmlich, wenn Faith sich telefonisch bei ihr melden sollte. Danach würde Billie Remy bei Enzio zu Hause oder im Laden anrufen. Auch wenn sie nicht gut in der Schule war, reichte ihr Grips dennoch aus, um sich zu merken, wo sie die Telefonnummern notiert hatte.
Billie war die einzige Mitschülerin, die im weitesten Sinne als Schulfreundin gelten konnte. Die anderen Klassenkameraden sahen sie an, als hätte sie zwei Köpfe, und diejenigen, die nett zu sein versuchten, vergraulte sie, indem sie ihnen deutlich zu verstehen gab, dass sie kein Mitleid brauchte. Sie war Remy Bronson. Letztes Jahr war sie auserkoren worden, die Osterparade der Akademie anzuführen. Der süßeste Junge der Schule hatte sie gefragt, ob sie im Schullabor mit ihm zusammenarbeiten wollte. Bei jedem Mittagessen hatte sie mit den beliebtesten Kids am Tisch gesessen.
Jetzt war ihre einzige Freundin eine Sitzenbleiberin, die wahnsinnig laut lachte und die feste Absicht hatte, die Schule zu verlassen, sobald sie alt genug war. Willkommen in Georgetown.
Remy lief die Wisconsin Avenue entlang und achtete kaum auf die Leute um sie herum. Die Läden und Restaurants in den alten Häusern wirkten nicht sehr geräumig, ganz anders als die Geschäfte in der Einkaufspassage, wo man viel Platz hatte und alles hell und übersichtlich war. Sie wusste wirklich nicht, was ihre Mutter an der Wisconsin Avenue fand. Auf den Bürgersteigen drängelten sich die Leute, und die Läden waren klein und dunkel. Okay, die Geschäfte führten gute Sachen, aber keiner konnte sie sich leisten – sie schon gar nicht.
Als „Lawford’s“ in Sicht kam, lief sie langsamer. Sie wusste nicht, was Enzio dazu sagen würde, dass sie schon wieder hier aufkreuzte. Letzte Woche hatte er es cool aufgenommen, sie aber wie eine kleine Schwester behandelt. Einer der anderen Verkäufer hatte gekichert, als sie sich über die Preise gewundert hatte. Sie war sich vorgekommen wie das Mäuschen vom Lande aus dieser Geschichte, die ihr Vater ihr immer vorgelesen hatte. Als ihr das jetzt wieder einfiel, wurde sie traurig.
Bei „Lawford’s“ guckte sie eine Weile durchs Schaufenster, bevor sie eintrat. Aus den Lautsprechern links und rechts des Eingangs dröhnte Hip-Hop-Musik. Sie verstand den Text nicht genau, aber der Rhythmus heiterte sie etwas auf. Die Wände waren schwarz gestrichen, und schlichte Stahl-Lüster beleuchteten den Raum. Die Kleidungsstücke, viele waren aus Leder, Stretchstoffen oder glänzendem Echsenhautimitat, schimmerten unter den Fluoreszenzlampen wie Juwelen.
Sie konnte Enzio nicht auf Anhieb entdecken. Ein halbes Dutzend Kunden wühlte sich durch die Kleiderständer. Eine gelangweilte Verkäuferin mit blondierten Haarstoppeln und zwei Nasenringen behielt sie, die Arme über ihrem kürbisfarbenen Bustier verschränkt, im Auge.
Remy tat so, als sehe sie sich den Modeschmuck an, während sie auf Enzio wartete. Das meiste erinnerte sie an Handfesseln und Fußketten, wie es sie auf römischen Sklavengaleeren gegeben hatte. Sie konnte sich vorstellen, dass ein goldener Armreif, der an der richtigen Stelle zuschnappte, Alex ans Bett fesseln würde.
„Hallo, meine Hübsche.“
Remys Herz schlug einen Salto. Als sie hochguckte, war Enzios Gesicht nur Zentimeter von ihrem entfernt. Er beugte sich noch ein Stückchen zu ihr hinunter und gab ihr einen besitzergreifenden Kuss, direkt auf den Mund; dann trat er einen Schritt zurück. „Was steht an?“
Auf einmal sah die Welt ganz anders aus. Sie lächelte schüchtern, froh, dass sie vom Schwesterchen zu etwas Erwachsenerem befördert worden war. Sie versuchte cool zu bleiben. „Ich hänge halt rum.“
„Ich habe was entdeckt, das dir stehen müsste.“
„Ich habe kein Geld dabei.“
Er zuckte mit den Schultern, verschwand kurz und kam mit einem limettengrünen Rock und einem Jäckchen mit strassverziertem Reißverschluss zurück. Er hielt es an ihren Körper, wobei sein Handrücken eine ihrer Brüste streifte. Der Rock war so kurz, dass er kaum ihren Schlüpfer bedecken würde. „Probier’s einfach an.“
Sie wusste, was ihre Eltern sagen würden, wenn sie sie je in einem solchen Outfit erblicken würden. Ihre Mutter trug Sachen, die aus einem Secondhand-Verkauf für Damen der besseren Gesellschaft zu stammen schienen: teure Marken, aber alles so dezent, dass sie vor jedem Hintergrund quasi unsichtbar wurden. Solche Kleidung suchte Faith auch für Remy aus, und bisher hatte Remy das nicht gestört. „Meinst du wirklich?“
„Hey, du gehörst zu mir. Du kannst alles tun, wozu du verdammt noch mal Lust hast.“
Du gehörst zu mir. Sie war mit jemandem zusammen. Mit Enzio. Da sie sich zehn Jahre älter und zehn Pfund leichter fühlte, nahm sie den Bügel und stiefelte los, um eine Umkleidekabine zu finden.
Seit sie von Pavel zum Dinner eingeladen worden war, hatte Faith sich den Kopf zerbrochen, was sie anziehen sollte. Sie hatte sich nie sonderlich für Mode interessiert. Für Ausgefallenes war sie zu zierlich, für kräftige Farben zu blond, für viel blanke Haut zu konservativ. In ihren Zwanzigern hatte sie sich auf Pastell- und Grautöne und klassischen Schick eingeschossen. Sie mochte den Stil von Queen Elizabeth, obwohl sie natürlich niemals Blumenhüte tragen würde.
Und jetzt, nachdem sie geduscht hatte, stand sie vor dem Kleiderschrank und begutachtete die beiden Kandidaten, die in die engere Wahl gekommen waren. Die konservativere Lösung bestand in einem marineblauen Prinzessinnenkleid mit roten Paspeln. Sie hatte gute rote Schuhe, ein passendes Handtäschchen und die Perlen ihrer Großmutter Millicent. Für den Fall, dass im Restaurant die Klimaanlage auf Hochtouren lief, konnte sie ein rotes Leinenjackett darüber tragen.
Die Alternative war ein lachsfarbenes Top unter einem grauen Hosenanzug. Der Anzug hatte schmale Streifen in demselben Lachston, und sie konnte ihre grauen Sandalen dazu anziehen. Das Top schien ein bisschen gewagt. Sie hatte keinen BH, dessen Träger schmaler als die des Tops waren, aber eigentlich brauchte sie auch gar keinen. Doch welche Botschaft strahlte sie mit dem Top aus? Sie würde nicht gerade einen großen Reibach an der Straßenecke machen können, aber trotzdem: Welchen Schluss würde Pavel ziehen, wenn er ihre entblößten Schultern sah?
Sie war ein siebenunddreißigjähriger Grufti.
Sie entschied sich für das Top – und dafür, das Jäckchen bei absolut jeder Temperatur anzubehalten.
Remy kam nach Hause, rief einen kurzen Gruß und ging gleich ins Esszimmer. Alex hatte schon früher zu Abend gegessen. Die Aussicht, den Abend im Haus seiner Großeltern zu verbringen, bereitete ihm wenig Freude, aber Lydia hatte versprochen, dass er auf dem Weg nach Great Falls eine DVD ausleihen durfte. Er hatte sich schon für „X-Men“ entschieden, dessen Handlung – mutierte Jugendliche lernen, ihre außergewöhnlichen Kräfte zu beherrschen – ihn ungemein ansprach. Wenn seine Großmutter sich diesen Film bis zum Ende mit anguckte, würde sie in Alex’ Ansehen ungemein steigen.
Lydia traf ein und kam die Treppe hoch, um ihre Tochter zu begrüßen. Faith befestigte gerade ihre goldenen Ohrstecker, und Lydia setzte sich aufs Bett und schaute ihr zu.
„Du solltest dir die Haare schneiden lassen“, sagte sie. „Nicht kurz. Lass es nur in Form bringen und stufig schneiden.“
„Ich sehe aus, wie aus der letztjährigen ,Vogue‘ entsprungen, was?“
„Eher wie ein Model aus der ,Vogue‘ von vor zehn Jahren.“
Faith blickte zu ihrer Mutter hinüber und entdeckte, dass sie lächelte. „Na, danke schön. Du tust was für mein Selbstbewusstsein.“
„Du bist nicht einmal vierzig und außerdem hübsch und schlank.“ Sie machte eine Kunstpause. „Und du musst nicht mehr all die frommen Christinnen Amerikas repräsentieren – und auch nicht den rechten Flügel der Demokraten. Du kannst einfach du selbst sein.“
Faith konzentrierte sich darauf, den zweiten Ohrstecker zu befestigen. „Ich kann ich selbst sein, hm?“
„Genau.“
„Das Problem ist nur: Das war ich.“
„Du musst dich neu erfinden.“
Als ihre Mutter gegangen war, bürstete Faith ihre unmodische Pagenfrisur und fragte sich, ob Lydia etwas wusste, von dem sie keine Ahnung hatte. Vielleicht war dieser Abend der erste Schritt auf dem Weg zu ihrem neuen, besseren Selbst.
Um halb sieben brach sie auf. Sie hatte bequeme Schuhe angezogen und trug die Sandalen sowie eine Gemüsepastete, die sie bei „Dean and Deluca“ auf der M Street gekauft hatte, in der Hand. Sie ließ sich Zeit, genoss das abendliche Nachlassen der Hitze, das Leben und die Geräusche auf den Straßen und ihres neuen Viertels. Obwohl noch immer Temperaturen um die dreißig Grad herrschten, hingen bereits die ersten Erntekränze an den Eingangstüren.
Schließlich erreichte sie Pavels Haus, das wie eine fröhliche, stark geschminkte Frau inmitten trauriger Witwen wirkte. Er hatte die Farben klug gewählt: Sie passten sich dem Geschmack der damaligen Zeit an, waren aber keineswegs zu grell. Sie überlegte, ob Pavel sich selbst auch so sah: etwas anders als die Nachbarn, kreativer, auffälliger, weniger angepasst, aber immer noch – gerade noch so – Teil des Mainstreams.
Wenn sie schon dabei war: Was würde ihr Haus dann über sie verraten? Gefangene der Tradition? Ein enges Blickfeld mit begrenztem Horizont? Hoffentlich nicht. Die Sache ließ sich auch von einem anderen Standpunkt betrachten: gut integriert in die Familie und die Nachbarschaft, Teil der Geschichte. Eine Hüterin der Flamme. Damit konnte sie gut leben.
Pavel kam heraus, um sie zu begrüßen. Sie fragte sich, ob er am Fenster auf sie gewartet hätte. Er stand auf seiner Vortreppe, ganz Herr des Hauses, und grinste. „Entschuldigung, junge Frau, möchten Sie vielleicht eine Führung?“
Sie spielte mit und hielt sich den Zeigefinger ans Kinn. „Ich weiß nicht. Gibt es auch unheimliche Orgelmusik?“
„Nur auf besonderen Kundenwunsch.“
Sie öffnete ein niedriges Eisentürchen und lief die Stufen hinauf. „Ich will das volle Programm. Musik, Fledermäuse, Gespenster.“
„Unsere Gespenster sind handzahm.“ Er beugte sich vor und küsste sie auf die Wange. „Sie beschämen mich, Faith. Jetzt muss ich mein Sportsakko ausgraben.“
Tatsächlich sah Pavel bereits ziemlich gut aus. Er trug gebügelte, khakifarbene Hosen, und sie hätte wetten mögen, dass er sein blaues Hemd kurz vorher vom Wäschereibügel abgenommen hatte. Er war rasiert und hatte etwas kürzeres Haar. Ein klein wenig sehnte sie sich nach seinen unförmigen T-Shirts.
Er dirigierte sie hinein. „Wow!“ Sie machte ein paar Schritte zurück, um einen Gesamteindruck zu gewinnen.
Sie holte tief Luft und zitierte aus dem Kopf: „Flecke und Risse an den Fenstern stören mich nicht, Alles Hohe und Herrliche steht dahinter und gibt mir Zeichen, Ich deute das Versprechen und warte geduldig.“ Nach einer Pause fügte sie hinzu: „Walt Whitman. ,Grashalme‘. Ich habe das Gedicht in der High School für einen Wettbewerb auswendig gelernt. Er muss von diesem Haus geredet haben.“
„Ich bin beeindruckt. Ich erinnere mich nur an ein halbes Dutzend schmutziger Limericks.“
„Bitte tragen Sie sie nicht vor.“
„Nicht gleich am Anfang des Dates.“
Sie schaute sich im Haus um. Es hatte zwar eine zentrale Empfangshalle, deren geschwungene Treppe vor ihnen lag, war aber asymmetrisch, sodass die Zimmer zu beiden Seiten verschieden groß und unterschiedlich geschnitten waren. Zu ihrer Linken erstreckte sich ein runder Salon, das Erdgeschoss eines Turmes, der mindestens über zwei weitere Etagen verfügte. Im Salon standen kaum Möbel, außer einem antiken Harmonium, das von zwei großen Kerzenständern flankiert wurde.
Pavel zeigte darauf. „Ihre Orgelmusik.“
„Spielen Sie?“
„Keinen Ton.“
Wenn sie nach rechts guckte, blickte sie in ein großes, rechteckiges Zimmer mit einem Kamin und gemütlich-maskulinem Mobiliar aus Leder und dunklem Walnussholz. Auf dem Boden lag ein Orientteppich in Rot- und Goldtönen. Die Gestaltung dieses Raumes war offenbar bereits abgeschlossen. Die Tapete hatte ein elegantes, dezentes Goldstreifenmuster. Die Mahagoni-Wandtäfelung war auf Hochglanz poliert.
„Hier habe ich angefangen“, sagte Pavel und führte sie ins Zimmer. „Mir war klar, dass ich einen Ort brauchte, an den ich mich zurückziehen konnte, wenn es nichts mehr zu tun gab. Die Täfelung und alles andere waren mit sechs Schichten weißer Farbe überzogen, aber immerhin hatte niemand das Holz herausgerissen. Ich habe es mein ,Tafel des Tages‘-Projekt genannt.“
Sie erkannte, dass die Instandsetzung Monate gedauert haben musste.
„Irgendjemandem hatte wohl die Höhe des Raumes nicht gefallen. Deshalb war die Decke abgehängt. Darunter entdeckte ich diesen schönen Stuck. Der Gips war zwar rissig, aber die Rosette und das Kranzgesims ließen sich gut ausbessern und neu streichen.“
Sie folgte seinem Blick und bewunderte die kunstvoll verschlungenen Weinranken, gehalten von geflügelten Cherubim, die irgendwie dennoch zu den maskulinen Möbeln passten.
„Der Kamin war zugemauert worden und der Sims verschwunden, aber die gusseiserne Brennkammer gab es noch. Ich habe mir ähnliche Häuser angeschaut und entdeckte dann diesen Kamin in London. Der Stein ist Derbyshire-Marmor. Der Sims stammt aus einem Haus, das nur wenig älter ist als dieses. Wie finden Sie ihn?“
„Großartig. Das ganze Zimmer ist sehr schön. Hier kann man sich entspannen und man selbst sein.“ Sie guckte sich neugierig um.
„Okay, das war der Blick in die Zukunft. Jetzt schreiten wir durch die Gegenwart in die Vergangenheit.“
Eine halbe Stunde lang zeigte er ihr alles, was es noch zu tun gab. Zuletzt landeten sie in Pavels Küche. Hier hatte er sich für das einundzwanzigste Jahrhundert entschieden: Arbeitsplatten aus schwarzem Granit, Küchengeräte aus Edelstahl, Schränke aus Kirschbaumholz. Nur der schwarz-weiße Fliesenboden, der vermutlich aus den fünfziger Jahren stammte, störte den Gesamteindruck ein wenig.
Die Fenster gingen auf die umlaufende Veranda hinaus, von der aus man in einen Garten mit – wenn auch nicht sehr fantasievoll – in Form geschnittenen Büschen gelangte.
„Also, was sagen Sie?“ Pavel breitete stolz die Arme aus. „Ich habe inzwischen fließend Warm- und Kaltwasser. Ich besitze Küchengeräte und verfüge über diverse Arbeitsflächen.“
„Ich bin grün vor Neid.“
„Als Nächstes kommt der Boden dran. Ich will Parkett legen.
Wahrscheinlich entscheide ich mich für Kirsch- und Walnussholz. Dann bin ich hier fertig.“ Während sie sich auf einem Hocker am frei stehenden Arbeitstisch niederließ, öffnete er den Kühlschrank und holte eine Champagnerflasche heraus. Er hielt sie hoch. „Ich dachte, das sollten wir feiern.“
„Was genau?“
„Freundschaft. Häuser. Georgetown. Für Champagner gibt es immer einen guten Grund.“
„Ich habe eine Pastete mitgebracht.“ Sie angelte die Plastiktüte aus ihrer Handtasche und streckte sie ihm entgegen. Als er danach griff, berührten sich ihre Finger, aber er zog die Hand nicht weg.
„Wissen Sie, das ist das erste Mal, dass eine Frau, der ich das Haus zeige, mich nicht entgeistert fragt, warum ich das alles selbst mache.“
„Ich kann mir vorstellen, warum. Was täten Sie, wenn irgendwelche Heinzelmännchen es über Nacht fertig renovieren würden? Verkaufen? Woanders von vorn beginnen? Sie möchten diese innere Spannung aufrechterhalten. Sie wollen, dass es wirklich Ihr Haus ist, wenn es fertig ist. Liege ich da richtig?“
„Sie haben ein paar der Fehler entdeckt, die ich bei der Renovierung gemacht habe. Außerdem gibt es noch ein paar ungelöste Probleme, von denen ich nicht weiß, wie ich sie lösen soll.“
Sie bemerkte, dass ihre Finger einander noch immer berührten und dass weder sie noch Pavel die Absicht hatte, diesen Zustand zu ändern. „Ich habe aber auch einige handwerkliche Meisterleistungen entdecken können. War Ihr Vater Heimwerker? Haben Sie sich viel von ihm abgeschaut?“
„Ich habe meinen Vater nie kennen gelernt, und meine Mutter hat nie wieder geheiratet.“
„Das tut mir Leid.“
Er zuckte mit den Schultern. „Auch sie lebt nicht mehr. Das war einer der Gründe, warum ich von der Westküste weggezogen bin. Ich hatte dort keine Familie mehr und dachte, Freunde könnte ich überall finden.“
„Aber nicht solche Freunde wie die, mit denen man aufgewachsen ist. Die Sorte, die mit einem durch dick und dünn geht.“
„Besitzen Sie solche Freunde?“
„Nachdem David mich verlassen hatte, habe ich sie mir vom Leib gehalten.“
„War das eine zu persönliche Frage?“ Er nahm die Pastete und holte Teller aus dem Schrank. Sie sah zu, wie er Cracker auf das Tablett schüttete, auf das er die Pastetenschachtel gestellt hatte. Während er den Korken aus der Flasche zog, unterdrückte sie den Impuls, die Cracker hübsch und ordentlich zu arrangieren.
„Ich bin so erzogen worden, dass man alles für sich behält“, sagte sie, als er wieder vor ihr stand. Sie hatte eine Eingebung: „Hey, ich könnte für die CIA arbeiten. Ich habe die nötigen Qualifikationen. Dass mir das nicht früher eingefallen ist!“
Pavels Nasenflügel blähten sich, und sie lachte. „Ich mache bloß Spaß. Außerdem hat Davids Coming-out mich wahrscheinlich meinen Unbedenklichkeitsstatus gekostet.“
„Darüber können Sie schon Witze reißen?“
„Nicht über Davids Situation. Er wird nie wieder solch eine Arbeit finden, wie er sie früher hatte. In der Politik pflegen so genannte Freunde einfach über einen hinwegzusteigen, wenn man tief gefallen ist.“
„Sie müssen sich schon intensiv mit allem auseinander gesetzt haben, wenn Sie sich Sorgen um ihn machen können.“
„Und zu allem Überfluss vertraue ich mich auch noch einem Mann an, den ich kaum kenne. Ich schätze, ich bin nicht mehr die Tochter meines Vaters.“
Pavel goss Champagner in zwei Kristallglas-Flöten. „Erzählen Sie mir ein bisschen mehr, wenn Sie möchten.“
„Worüber?“
„Über Ihren Vater. Irgendwas sagt mir, dass Sie sich gerade erst warm reden.“
Sie nahm ihr Glas zwischen die Handflächen. „Wissen Sie, warum er mich Faith genannt hat?“
„Nein, aber wahrscheinlich hat alle Welt damit gerechnet, dass nach Ihnen eine kleine Charity die Reihe fortsetzt.“
„Heute war ich in der Georgetown-Bibliothek und habe die Bibliothekarin gebeten, mir einige Artikel über Hopes Entführung zu kopieren. Und wissen Sie, wie die erste Überschrift lautete?“ Sie prostete ihm zu. „Hope is lost.“
„Aua.“
„Dass mein Vater mich Faith genannt hat, war so etwas wie eine Verlautbarung: Selbst wenn man die Hoffnung verloren hat, kann man sich immer noch auf den Glauben stützen.“
„Das darf doch nicht wahr sein.“
„Er hat es natürlich nie zugegeben, aber ich trage diesen Namen natürlich nicht zufällig. Er war ein Mann, auf den sich die Wähler verlassen konnten. Nichts konnte Joe Huston umwerfen. Einen Mann, der an seinem Glauben festhielt. Ein rechtschaffener Mann.“
„Der es einem aber schwer macht, ihn zu lieben.“
Dem konnte sie nicht widersprechen. „Die Chancen, dass als Nächstes Charity an der Reihe gewesen wäre, standen schlecht. Barmherzigkeit jeglicher Art lag meinem Vater fern.“ Sie nahm einen Schluck Champagner und fügte hinzu: „Genau wie der Gedanke an ein drittes Kind, um ehrlich zu sein. Er hat sich zweimal als Vater versucht, ist beim ersten Mal grandios gescheitert, fand den zweiten Anlauf unerquicklich und lästig und hat keinen dritten Versuch unternommen.“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie je unerquicklich und lästig waren.“
„Stellen Sie sich vor, wie sich der Senator erst gefühlt hätte, wenn seine Tochter ein normaler Mensch geworden wäre: jemand mit einem eigenen Willen.“
„Sie haben einen eigenen Willen, Faith.“
„Noch nicht sehr lange.“ Sie lächelte, um ihm zu signalisieren, dass man sie deswegen nicht zu bedauern brauchte.
„Und wohin hat Ihr eigener Wille Sie geführt?“
„In die Küche eines Fremden, vor dem ich mein Leben ausbreite.“
Er stützte dicht vor ihr seine Ellbogen auf. „Glauben Sie, dass Sie eines Tages wieder glücklich sein werden?“
Sie wollte erneut lächeln, etwas Pfiffiges oder Kluges sagen, aber es ging nicht. Er musterte sie mit einem besorgten Blick, und obwohl sie ihn nicht sehr gut kannte, ahnte sie, dass das für ihn ungewöhnlich war.
Offenbar interessierte er sich ernsthaft für sie. Sie spürte, wie er ihr näher kam, obwohl er sich überhaupt nicht bewegte. Er schien ihrer Antwort große Bedeutung zuzumessen – genauso wie sie.
Sie beugte sich über den Tisch und neigte den Kopf. Sanft küsste sie seine Lippen, und der Kuss dauerte länger, als sie erwartet hatte, ein Kuss, der als Bestätigung gedacht war, sich aber zu einer Frage auswuchs.
Seine Lippen waren warm und schmeckten nach Champagner, und das Einzige, was sie an diesem Kuss störte, war die Granitplatte, die sie daran hinderte, mehr von Pavel zu spüren.
Sie ließ sich wieder auf ihren Hocker sinken und lächelte. „Ich glaube, dass ich im Moment ziemlich glücklich bin.“