4. KAPITEL
Das Reihenhaus war umsichtig geplant worden. Das Erdgeschoss beherbergte ein großzügiges Wohnzimmer, das in ein Esszimmer überging. Zudem gab es eine Küche, eine Toilette und eine kleine Frühstücksnische, die allesamt nach hinten hinausgingen. Der erste Stock bestand aus einem schmalen Flur, drei Schlafzimmern und einem Bad. Das zweite Obergeschoss war ein großer Dachboden, der als Speicher diente.
Bis zum Speicher würden sie heute wohl nicht vordringen. Faith traf ihre Mutter im hinteren Schlafzimmer an.
Mit ihren sechsundsechzig Jahren war Lydia eine attraktive Frau, die regelmäßig ihr Sportstudio, ihren Imageberater und ihren plastischen Chirurgen besuchte. Ihr letztes Facelifting hatte sie um Jahre verjüngt, aber die verräterischen Spuren ihrer zynischen Weltsicht nicht auslöschen können. Selbst wenn sie lächelte, starrten einen ihre blauen Augen, die denen ihrer Tochter so ähnelten, kalt an.
Im Augenblick versuchte Lydia nicht einmal zu lächeln.
„Tut mir Leid, Mutter.“ Faith wollte ihr den Arm um die Schultern legen, aber Lydia machte einen Schritt von ihr weg.
Sie wich auch ihrem Blick aus. „Mitgefühl ist nett, aber es hilft einem nicht weiter, oder?“
„Na ja, manche Menschen glauben, dass es durchaus hilft.“
„Es kann nicht wieder gutmachen, was hier schief gelaufen ist.“
„Das können nur eine Prozession von Handwerkern und eine noch unbestimmte Menge Geld leisten.“ Als sie für ihre Mutter durchs Haus gegangen war, hatte Faith die Probleme vorläufig katalogisiert: Die Holzböden waren aufgesprungen. An den Decken befanden sich Wasserflecken. Der Putz musste ausgebessert und gestrichen werden. Tapeten mussten abgeweicht werden – vermutlich etliche Lagen –, bis die nackte Wand zum Vorschein kommen würde. Die Küche war schmutzig und so hoffnungslos veraltet, dass die meisten Geräte wohl nicht mehr funktionierten. Das Klosett in der Gästetoilette hatte keinen Sitz, das Waschbecken keinen Wasserhahn.
Und das war erst der Anfang.
„Ich bin selbst schuld.“ Lydia war derart still geworden, dass diese Äußerung alle überraschte. „Ich habe so getan, als gäbe es das Haus nicht.“
Sie schaute Faith an; das Gesicht ihrer Tochter war ihr offenbar lieber als der Anblick ungesicherter Steckdosen und zerfetzter Verlängerungskabel. An einer Wand lagen zwei nackte Matratzen. Der unverkennbare Gestank von Urin verlieh der ohnehin mehr als schalen Luft eine besonders erbärmliche Note. „Das war das Zimmer deiner Schwester.“
„Ich weiß.“
„Wie konnten diese Barbaren es nur so verunstalten?“
„Was hast du vor?“
„Einen Bauunternehmer beauftragen. Zahlen, was nötig ist. Tun, was getan werden muss.“
Faith fragte sich, ob „tun, was getan werden muss“ das Mantra ihrer Mutter war. Sie versuchte so behutsam wie möglich auf die Schwierigkeiten hinzuweisen. „Hast du dafür Zeit? Die Arbeit muss gut überwacht werden, selbst wenn du ein gutes Unternehmen findest – was nicht leicht sein wird, weil sie alle viel zu tun haben. Und wenn die Arbeit getan ist, fangen dieselben Probleme womöglich wieder von vorne an. Studenten sind nicht unbedingt die besten ...“
„Dann werde ich diesmal an Berufstätige vermieten. Wenn das Haus renoviert ist, dürfte das nicht schwer sein.“ Lydia verzog das Gesicht. „Und nein, ich habe dafür keine Zeit. Natürlich nicht. Die nächste Wahl rückt stetig näher. Mein Terminkalender ist so dick wie das Telefonbuch, obwohl dein Vater gar nicht zur Wiederwahl steht. Aber was bleibt mir anderes übrig?“
Die Antwort schien, sobald sie Faith einmal eingefallen war, ganz einfach, einfach perfekt. Sie staunte, warum weder sie noch Lydia diese Idee nicht schon früher gehabt hatte.
Sie ging es vorsichtig an. „Im Auto hast du gesagt, dass das Haus eines Tages mir gehören wird.“
„Erzähl mir nicht, dass du es sofort verkaufen wirst. Davon will ich nichts hören.“
„Vermach es mir jetzt. Lass mich die Sache übernehmen.“
Lydia runzelte die Stirn. „Sieh dich doch um, Faith. Ich habe keine Ahnung, was die Renovierung kosten wird. Du kannst sie dir nicht leisten. Du kannst es dir nicht einmal leisten, eine Wohnung für euch zu mieten.“
„Ich könnte es mir leisten, dieses Haus zu besitzen. Die Kinder und ich können während der Arbeiten hier wohnen. Ich kann sogar einiges selbst erledigen, um Geld zu sparen.“
Jetzt packte sie die Aufregung. Zum ersten Mal seit acht Monaten verspürte sie Begeisterung, und sie genoss das Gefühl. „Ich kann streichen und tapezieren. Ich kann Schränke lackieren und vielleicht auch den Boden neu versiegeln. Und ich kann vor Ort bleiben, um die anderen Arbeiten im Auge zu behalten und dafür zu sorgen, dass sie gut erledigt werden.“
„Du willst in Georgetown wohnen? Mit den Kindern?“ Lydia klang, als hätte Faith ihren Umzug in die Äußere Mongolei angekündigt.
Faith dachte einfach weiter laut nach. „Ich bräuchte nicht einmal sofort ein Auto. Das Busnetz des öffentlichen Nahverkehrs ist nicht schlecht. Und ich müsste mir nicht sofort einen Job suchen. Wenn wir keine Miete zu zahlen brauchen, können wir mindestens ein Jahr vom Erlös des Haus- und Cottageverkaufs leben und trotzdem noch etwas fürs College zurücklegen. Ich kann den Kindern helfen, sich einzuleben und zur Ruhe zu kommen. Sie ...“
„Wie willst du sie zur Schule bringen?“ Lydia machte eine Pause. „Du planst doch nicht etwa, sie von der Akademie zu nehmen?“
Remy und Alex besuchten eine Privatschule mit kleinen Klassen und einem traditionellen Erziehungsansatz. Dort, unter lauter Kindern aus der selben Gesellschaftsschicht, wurden die Werte und religiösen Überzeugungen, die ihnen ihre Eltern vermittelt hatten, sorgsam gefestigt. Bis zu Davids Coming-out hatte Remy sich in diesem streng reglementierten Umfeld sehr wohl gefühlt – anders als Alex.
Als Faith nichts erwiderte, durchquerte Lydia das Zimmer und fuhr mit dem Finger über ein Fensterbrett, von dem der Lack abblätterte. Jenseits des schmalen, überwucherten Hintergartens entdeckte Faith den Whitehurst Freeway, aber auch den schimmernden Potomac, und bei Nacht mussten die Lichter von Rosslyn geradezu atemberaubend aussehen.
„Ich kann nicht glauben, dass du auch nur in Erwägung ziehst, sie von ihren Freunden und Lehrern zu trennen. Sie haben bereits ihren Vater und ihr Zuhause verloren.“
„Sie haben David nicht verloren.“ Faith sprach weiter, bevor ihre Mutter etwas einwenden konnte. „Und der Rest des Schuljahres an der Akademie war schwer genug für sie: all das Gerede und das Mitleid. Überall sonst wäre das, was passiert ist, ignoriert oder schnell ad acta gelegt worden, aber nicht dort, nicht ...“
„Menschen vergessen. Es wird besser werden.“
„Mag sein, aber vielleicht wird es Zeit für Remy und Alex, zu entdecken, dass die Welt nicht das kleine Nest ist, das wir für sie gebaut haben. Vielleicht war es genauso verkehrt, sie so abzuschirmen, wie es gewesen wäre, sie allen erdenklichen Einflüssen auszusetzen. Sie waren nicht darauf vorbereitet, die Sache mit David zu verarbeiten. Ich war nicht darauf vorbereitet.“
„Von allen Leuten solltest du doch am besten wissen, dass die furchtbarsten Dinge geschehen, wenn man am wenigsten damit rechnet. Du bist mit diesem Wissen groß geworden und solltest es nie vergessen.“
Diesmal entschloss sich Faith, mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg zu halten. „Nach Hopes Entführung hast du eine Festung um dein Leben errichtet und mich darin aufgezogen. Ich bin voller Furcht vor der großen, schlechten Welt groß geworden. Ich habe einen Mann geheiratet, der mir das Leben bieten konnte, an das ich gewöhnt war. Ich habe nie irgendetwas in Frage gestellt. Und jetzt stürzt der Schutzwall ein, und das Tor steht offen. Aber wenn die Kinder und ich zu dir und Dad ziehen, werden die Mauern wieder intakt sein. Noch höher sogar.“
Lydias Stimme klang noch kälter als sonst. „Es tut mir Leid, dass du unsere Hilfe als Gefängnisstrafe auffasst.“
„Das habe ich nicht gesagt.“ Faith trat neben ihre Mutter ans Fenster. „Hör mal, lass uns ehrlich sein. Du willst nicht, dass wir bei euch wohnen. Die Kinder machen dich verrückt, und bis sie die Pubertät hinter sich haben, wird es nicht besser werden. Zu alledem möchtest du die Verantwortung für dieses Haus loswerden. Übergib sie mir.“
„Ich will nicht, dass meine Enkelkinder hier leben. Du weißt, was in diesem Haus passiert ist.“
„Auf dem Haus liegt kein Fluch. Das Haus ist eine Katastrophe, aber verhext ist es nicht. Hier ist etwas Furchtbares geschehen, aber das ist lange her. Das Leben geht weiter.“
Lydia verschränkte die Arme. „Kurz nach ... Bevor ich einsehen musste, dass Hope für immer verschwunden war, wollte ich alles abreißen lassen. Es dem Erdboden gleichmachen und ein neues Haus bauen. Aber das ging natürlich nicht. Schon damals hätten mich die Denkmalpfleger einen Kopf kürzer gemacht. Dann plante ich, es zu verkaufen. Wir brauchten Geld, um unser Grundstück in Virginia zu bezahlen. Aber damals wollte niemand am Tatort der berühmten Huston-Entführung leben.“
Faith erinnerte sich daran, dass das Haus von O. J. Simpson nach dem Verkauf abgerissen worden war. Und Nicole Simpson war nicht einmal dort ermordet worden.
Lydia schaute ihre Tochter an. „Also habe ich es behalten. Obwohl die Stadtführer zweimal am Tag eine Horde Leute anschleppten, die auf dem Gehweg standen und glotzten. Obwohl ich es nur an Studenten vermieten konnte. Und irgendwann, als ich wusste, dass Hope nie zurückkehren würde, wollte ich es auch nicht mehr verkaufen.“
„Vielleicht braucht das Haus wieder eine Familie als Bewohner. Ich bin mir sicher, dass das Leben in der Stadt für Remy und Alex eine große Chance wäre. Am Anfang wären sie vielleicht nicht glücklich und möglicherweise ist es ein Fehler, sie hierher zu bringen, aber bei so vielen Veränderungen – fällt eine weitere da noch ins Gewicht? Wir wären unabhängig und täten dir einen Gefallen. Du musst mir das Haus nicht gleich überschreiben, wenn du dich noch nicht festlegen willst. Lass uns einfach hier wohnen, bis wir wieder Tritt gefasst haben.“
„Eventuell ist es für dich steuerlich aber nicht von Vorteil, wenn ich dir das Haus vor meinem Tod überschreibe. Ich muss das mit meinem Anwalt besprechen.“
Trotz einer Vielzahl von Bedenken wurde Faith noch euphorischer. „Das ist eine gute Idee.“
„Dein Vater wird nicht einverstanden sein. Ich hätte eine Hypothek aufgenommen, um das Haus in Stand zu setzen, und die Mieteinkünfte zur Abzahlung verwendet. Ich garantiere dir, dass er keinen Finger krümmen wird, um dir zu helfen.“
„Ich brauche seine Hilfe nicht“, sagte Faith.
„Joe hat kein Mitspracherecht, was euren Einzug angeht.“ Lydia lächelte grimmig. „Das Haus gehört mir. Sein Name steht nicht auf der Urkunde. Wenn ich mich entschließe, es euch zu überlassen, bleibt ihm nichts anderes übrig, als es zur Kenntnis zu nehmen.“
„Ich will mich nicht zwischen euch stellen.“
Lydia schwieg.
Faith schaute sich in dem Raum um, der einst Hopes Kinderzimmer gewesen war. „Dieses Haus verdient eine zweite Chance. Es ist lange genug bestraft worden. Es hat etwas Besseres verdient als Bierbesäufnisse und Gettoblasterlärm. Wenn du mich lässt, kann ich es wieder in ein Zuhause verwandeln.“
„Ich werde es vermutlich verkraften, wenn dir das gelingt.“ Lydia klang fast so, als bereite ihr der Gedanke an Joes Missbilligung Freude.
„Es sieht so aus, als hätten wir eine Abmachung.“
Faith spürte die Hand ihrer Mutter auf der Schulter. Kurz. Leicht. Diese Berührung, die womöglich sogar als Trost gemeint war, überraschte sie mehr als alles andere an diesem Tag.