11. KAPITEL

Lydia und Marley trafen noch vor dem Mittag ein, zur selben Zeit wie die Blumen. Als Faith die Haustür öffnete, schien sie beides gleichermaßen zu überraschen.

Faith nahm die Blumen entgegen, einen üppigen Herbststrauß in einer versilberten Vase, begrüßte Marley und beugte sich schließlich vor, um ihre Mutter auf die Wange zu küssen. Lydia gab dem Boten ein Trinkgeld, und er zog sich zurück.

„Die sind fantastisch.“ Faith überflog die Karte und warf ihrer Mutter ein wissendes Lächeln zu. „Dads Geschmack ist exzellent. Fast so gut wie deiner.“

„Er war in letzter Zeit nicht er selbst. Ich vermute, die Blumen sind seine Art, sich zu entschuldigen.“ Lydia fragte sich, warum sie dieses Theater nicht einfach sein ließ. Faith wusste genau, dass Joe sich in seinem ganzen Leben noch nie für etwas entschuldigt hatte.

„Ich stelle sie auf den Küchentisch. Ich glaube, da ist gerade ein Fleckchen frei.“

Faith verschwand, und Marley stieg die Treppe hinauf, um das Desaster dort oben in Augenschein zu nehmen. Lydia konnte nicht genau sagen, wie alt ihre Haushälterin war. An die fünfzig wahrscheinlich. Marley war schlank und groß und verfügte über unglaublich viel Energie. In ihrer Gesellschaft fühlte sich Lydia umso müder.

Marley sprach leise, damit Faith sie nicht hörte: „Das ist kein Haus, das ist ein Fünfzehn-Jahres-Plan. Aber die Dielen sind schön.“ Marley war in Jamaika aufgewachsen, was man auch an ihrem Akzent erkannte. Eigentlich hieß sie Mary Louise, aber ihre unsterbliche Liebe zum Reggae hatte ihr diesen Spitznamen eingebracht.

„Ich habe sie abziehen lassen. Sie sind wirklich schön, nicht?“

„Wodurch alles andere noch schlimmer aussieht.“

„Marley, das hilft uns nicht weiter.“

Marley zuckte mit den Schultern. Mit Joe unterhielt sie sich fast nie, aber seiner Frau gegenüber nahm sie kein Blatt vor den Mund, da sie genau wusste, wie sehr Lydia auf sie angewiesen war.

Faith tauchte wieder auf und blieb am Fuß der Treppe stehen, um nach ihren Kindern zu rufen. Oben ging eine Tür auf, und das Getrampel auf den Stufen verriet Lydia, dass ihr Enkelsohn herunterkam. Sie überlegte, was sie zu ihm sagen sollte. Schließlich redete sie meist nur mit ihm, wenn sie sein Verhalten kritisieren wollte.

Er blieb auf der letzten Stufe stehen. „Hallo, Großmutter.“ Als er Marley erblickte, stieß er einen Jubelschrei aus. „Marley! Hi!“

„So groß, dass ich ihn gar nich wiedererkenne.“ Marley stellte sich an den Fuß der Treppe. „Siehste, schon größer als ich.“

„Oben haben wir Kätzchen.“ Diese Information galt ausschließlich Marley. „Willst du sie dir anschauen?“

„Kätzchen?“

„Kätzchen?“ wiederholte Lydia. „Faith, bist du noch bei Sinnen? Habt ihr nicht schon genug um die Ohren?“

„Die Kätzchen gehören zum Haus, Mutter.“ Faith stellte sich neben Marley. „Alex, holst du bitte Remy? Was treibt sie denn?“

„Keine Ahnung. Ihre Tür war schon zu, als wir nach Hause gekommen sind.“

„Also, dann geh sie bitte holen, ja?“ Faith wandte sich ihrer Mutter zu. „Auf dem Speicher lebt eine Katzenmutter mit ihren Kleinen. Die Kinder und ich haben sie mitten in der Nacht entdeckt.“

„Was hattet ihr mitten in der Nacht auf dem Dachboden verloren?“

„Wir wollten herausfinden, was da so gespenstisch geheult hat.“

„Ach so.“ Lydia begriff sofort. Faith brauchte nichts weiter zu erklären. Das Geisterbaby, das zurückgekommen ist, um sie alle in Angst und Schrecken zu versetzen.

Wieder polterten Schritte auf der Treppe, und Alex kam zurück. „Sie ist nicht da. Und auch nicht im Badezimmer, und auch nicht auf dem Dachboden. Dann hätte sie durch mein Zimmer gemusst.“

Faith zuckte zusammen. „Ich gucke am besten selbst mal nach. Ich bin gleich wieder da.“

Lydia fragte sich, wie Faith ein Kind abhanden kommen konnte, das so groß war wie Remy, aber sie verkniff sich jeglichen Kommentar. „Lass uns anfangen“, sagte sie zu Marley. „Alex, willst du Marley beim Auspacken helfen?“

„Klar.“

Mit besorgter Miene kam Faith zurück. „Sie ist wirklich nicht da.“

„Hast du schon im Keller nach ihr gesucht?“ Lydia wusste, dass das die letzte Möglichkeit war.

„Warum sollte sie sich da unten rumtreiben?“

„Vielleicht ist sie gar nicht nach Hause gekommen“, warf Alex ein.

Der Ausdruck in Faith’ Augen gefiel Lydia nicht. „Ist sie allein nach Hause gelaufen? Von wo?“

Faith bedeutete Alex, der zu einer Erklärung ansetzte, zu schweigen. Sie wollte die Frage selbst beantworten. „Wir waren frühstücken, und sie hat sich über etwas aufgeregt. Sie ist vor uns gegangen, und zwar in Richtung Haus. Sie hat einen Schlüssel. Ich habe angenommen ...“

Lydia biss sich auf die Lippe. Sie zwang sich, ihre Tochter nicht zu belehren, dass sie jetzt mitten in der Stadt wohnten und dass Remy Schutz brauchte. Sie versuchte die Erinnerung zu verdrängen, dass vor achtunddreißig Jahren schon einmal ein Kind aus der Prospect Street verschwunden war.

„Wann ist sie los?“ Lydia warf einen Blick auf ihre Uhr.

„Wir sind seit etwa zwei Stunden zurück.“

„Und sie war wütend?“

„Remy tut sich derzeit mit allem schwer.“

„Kann sie sich verlaufen haben? Kennt sie die Straßen gut genug, um den Weg nach Hause zu finden?“

„Sie kennt die Adresse. Die Prospect Street ist nicht so lang. Selbst wenn sie die Orientierung verloren hat, muss sie nur irgendwen fragen.“

„Wir drei könnten die Straßen durchkämmen.“

„Vier!“ Alex hüpfte von der letzten Stufe auf den Boden. „Was ist mit mir?“

Lydia starrte ihren Enkel an und entdeckte etwas völlig Neues an ihm. Wie üblich wollte sie ihn gleich zum Schweigen bringen, aber der Blick, mit dem der Junge sie fixierte, hatte etwas verstörend Erwachsenes. Zum ersten Mal erahnte sie den Mann, der Alex einmal werden würde.

Sie bemühte sich, seine Unterstützung zu gewinnen. „Alex, einer muss hier bleiben, falls Remy zurückkommt. Ich glaube ehrlich gesagt, dass sie noch vor uns allen wieder da sein wird. Aber wenn sie eine von uns hier antrifft, geht sie vielleicht wieder. Du könntest uns auf dem Handy anrufen, sobald sie auftaucht. Machst du das?“

Er zog die Brauen hoch; natürlich hatte er bemerkt, dass sie ihn zu beschwatzen versuchte. „Na gut.“ Lydia berührte dankbar seine Schulter. Er war verwirrt; dass sie zu solchen Gesten im Stande war, hatte er nicht gewusst.

„Ich bin mir sicher, dass wir auf dich zählen können.“ Sie wandte sich ab und fragte sich, ob sie in ihren sechsundsechzig Jahren je etwas getan hatte, worauf sie stolz sein konnte.

Die Uni-Führung fiel aus. Eigentlich hatten sie nur mal kurz einen Blick ins Parterre von Colins Haus werfen wollen, aber nach einer weiteren kleinen Rauferei mit Bär waren sie irgendwie nicht mehr im Stande gewesen, sich zu der Besichtigungstour aufzuraffen. Selims Vater besaß ein Elektrogeschäft, und Selim hatte die Hälfte des Inventars angeschleppt, einschließlich eines riesigen Fernsehers, in dem im Augenblick eine Comedy-Serie lief, die Remys Vater zweifellos als Paradebeispiel für den amerikanischen Sittenverfall verdammt hätte. In seinem vorigen Leben jedenfalls.

Sie hing neben Colin auf einem ramponierten Sofa und schaute zwei College-Typen zu, die nach einer durchsoffenen Nacht eine Frau ins Bett zu kriegen versuchten.

„Und du hast das echt noch nicht gesehen?“ fragte Colin. „Das ist praktisch ein Klassiker.“

„Ne, ich kenn’s wirklich nicht.“ Remy starrte fasziniert auf den Bildschirm. Mit ihren Freundinnen hatte sie schon ein paar nicht ganz jugendfreie Filme geguckt. Sie war nicht völlig ahnungslos. Aber dieser Streifen, der sich über alles lustig machte, was man sie zu glauben gelehrt hatte, war von völlig anderem Kaliber.

Und sie schaute ihn mit einem Typen; sie saß direkt neben einem Typen und beobachtete Männer, die Frauen rumzukriegen versuchten. Colin schien sich nichts Schlimmes dabei zu denken.

„Wie alt bist du?“ Mitten in einer Szene, die in einem Stripclub spielte und ihr den Atem verschlug, wandte er den Kopf in ihre Richtung.

„Siebzehn.“ Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu. Die Lüge kam ihr ebenso leicht über die Lippen wie ihr Name.

„Oh, ich hab dich für älter gehalten. Bist du an der High School?“

Die nächste Lüge war genauso leicht. „Hm-m.“

„Dann fängt jetzt bald dein letztes Jahr an.“

„Hm-m.“ Nicht ganz so bald.

„Willst du eine Cola oder so?“ Als sie nickte, stand Colin auf und rekelte sich, dann verschwand er in der Küche. Er war süß, echt süß. Megan wäre bestimmt überrascht, dass sich ein College-Typ für sie interessierte. Sie konnte es kaum erwarten, es ihr zu erzählen. Dann fiel ihr ein, dass Megan nicht mehr in ihrer Straße wohnte.

Colin wohnte in ihrer Straße.

Ein Geräusch hinter ihr riss sie aus ihren Gedanken. Sie drehte sich um und sah einen Mann die Treppe herunterkommen. Colin hatte ihr berichtet, dass sie hier zu viert lebten. Außer Selim gab es noch einen Studenten namens Paul und einen gewissen Enzio, der die High School geschmissen hatte. Enzio war Verkäufer in einem der Klamottenläden auf der Wisconsin Avenue, und manchmal brachte er allen reduzierte Ware mit.

Der Typ, der jetzt herunterkam, trug Lederhosen mit zahllosen Reißverschlüssen und ein enges graues T-Shirt. Auf dem Treppenabsatz zündete er eine Zigarette an, klemmte sie sich aber nicht zwischen die Lippen.

„Und wer bist du?“

„Remy.“

„Die Freundin von irgendwem?“

„Ich wohne in derselben Straße. Colin und ich gucken uns einen Film an.“

„Yeah.“ Er streckte sich. „Colin schaut sich absolut alles an.“

Remy war fasziniert. Colin kam ihr vor wie eine ältere Ausgabe der Jungs, die sie kannte. Sauber geschrubbt, kurzes Haar, Klamotten von Abercrombie oder Banana Republic. Dieser Typ war völlig anders. Sein rabenschwarzes Haar hing ihm fast bis auf die Schultern, und sogar von weitem erkannte sie, dass er einen Ohrring trug. Er lächelte nicht. Er war wahrscheinlich nicht älter als Colin, sah aber aus, als sei er des Daseins bereits überdrüssig. Sie konnte das nachempfinden.

„Bist du Enzio?“ Er wirkte wie jemand, der von der Schule geflogen war.

„Yeah.“

Ihre gute Erziehung meldete sich zurück. „Nett, dich kennen zu lernen.“

„Brich dir keinen ab.“

Sie spürte, wie sich ihre Wangen röteten. Sie fühlte sich durch und durch wie vierzehn. Er kam die letzten Stufen herab und setzte sich neben sie aufs Sofa. Nachdem er kräftig an der Zigarette gezogen hatte, bot er sie ihr an.

Sie schüttelte den Kopf. Inzwischen glühten ihre Wangen wie Feuer. Das Angebot, etwas zwischen die Lippen zu nehmen, was kurz zuvor zwischen seinen gesteckt hatte, erschien ihr unerhört intim.

„Studierst du?“ Enzio schaute sich nach einem Aschenbecher um und entschied sich schließlich für einen schmutzigen Teller, der vermutlich von der Party übrig geblieben war.

„High School.“

„Sweet little sixteen, hm?“

„Ich bin siebzehn.“ Schön wär’s!

„Woher kennst du Colin?“

„Bär hat mich auf dem Gehsteig angefallen.“

„Das ist mal was Neues.“ Enzio griff nach der Fernbedienung und fing gerade an zu zappen, als Colin zurückkam.

„Hey, wir haben uns da gerade was angeguckt.“ Colin reichte Remy eine Dose Cola und nahm Enzio die Fernbedienung weg. „Verzieh dich, Castellano.“

„Wieso?“

Colin grinste Remy an. „Weil ich sie zuerst gesehen habe.“

Enzio stand auf und langte nach seiner Zigarette. „Gibt’s in diesem Müllhaufen irgendwas zu essen?“

„Kalte Pizza.“ Colin nahm seinen Platz wieder ein.

Enzio lief nicht in die Küche, sondern zur Haustür, und Remy drehte sich um, um ihn beim Hinausgehen zu beobachten. Als sie zufällig aus dem Fenster blickte, entdeckte sie ihre Großmutter, die auf der Straße stand und angestrengt um sich schaute, als suche sie etwas.

Oder jemanden.

Enzio trat hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. Von oben kommentierte Bär sein Verschwinden mit heftigem Gebell. Ins Sofa gekauert, spähte Remy weiter vorsichtig aus dem Fenster – so unauffällig, wie es eben ging. Als Lydia lange genug verschwunden war, stand sie auf.

Sie versuchte einen lockeren Tonfall anzuschlagen. „So Leid es mir tut, ich muss los. Meine Mutter fragt sich bestimmt schon, wo ich abgeblieben bin.“

„Ruf sie doch an. Das Telefon muss hier irgendwo rumstehen.“

„Sie verlässt sich darauf, dass ich ihr heute beim Auspacken helfe. Wird Zeit, dass ich anfange.“

„Jetzt habe ich dir die Uni doch nicht gezeigt.“

„Ich lebe ja ganz in der Nähe. Wir sehen uns bestimmt.“

Colins Blick wanderte zum Bildschirm zurück. Einer der Typen in dem Film hatte es endlich geschafft. „Ja, okay. Soll ich dich nach Hause begleiten?“

Das war Kinderkram. Außerdem fand sie es besser, dass er nicht wusste, in welchem Haus sie wohnte – dann konnte er auch nicht plötzlich dort auftauchen. „Nein. Guck ruhig weiter fern.“

„Wenn wir wieder mal ‘ne Party feiern, komm vorbei.“

„Ja, klar.“ Sie ging zur Tür und lugte hinaus. Lydia war ein paar Häuserblocks weiter gelaufen. In die andere Richtung schien die Luft rein zu sein. Ihr war klar, dass sie sowieso Ärger bekommen würde, aber wenn jemand sie zu allem Überfluss aus diesem Haus kommen sähe, stünden ihr weitaus größere Unannehmlichkeiten bevor.

Sie huschte hinaus auf den Gehweg und machte sich auf den Heimweg. Sie hatte bloß einen Spaziergang unternommen. Wenn sie schon in dieser Gegend leben musste, hatte sie ein Recht zu erfahren, wie es hier ausschaute. Sie hatte nichts Schlimmes getan. Sie war kein kleines Kind mehr.

Sie übte ihre Antworten ein, denn ihr war klar, dass sie zur Rede gestellt werden würde. Außerdem überlegte sie, wann sie Colin Fitzpatrick und Enzio Castellano wohl wiedersehen würde.

Remy war seit mehr als zwei Stunden verschwunden. Faith versuchte sich einzureden, dass es keinen Grund zur Sorge gab. Sobald Remy sich beruhigt hätte, würde sie den Weg nach Hause finden. Sie war wütend und wollte beweisen, dass sie Faith genauso verletzen konnte, wie sie verletzt worden war.

Doch Faith schaffte es nicht, sich zu beruhigen. Sie stellte sich vor, wie Remy mutterseelenallein und völlig kopflos durch Georgetown irrte. Das Mädchen war viel zu durcheinander, um noch auf der Hut zu sein, und stellte somit eine leichte Beute für jeden Perversen dar.

In der Nähe der Ecke M Street und 33. Straße blieb Faith stehen und zückte ihr Handy. Zwar hatte Alex versprochen, sich zu melden, aber sie konnte nicht warten. Sie lehnte sich gegen ein Schaufenster und wählte ihre neue Nummer.

„Gibt’s was Neues?“ fragte sie, als Alex abhob.

„Nein. Marley ist zurück. Sie meint, Remy kommt nach Hause, wenn sie hungrig ist.“

Faith hätte das nur zu gern geglaubt. „Ruf mich aber wirklich an, sobald du was hörst, okay?“

„Klar. Mach ich.“

Faith wusste nicht weiter. Sie hatte sich bereits bei Sally, Megans Mutter, erkundigt, ob Remy vielleicht mit der Bitte an sie herangetreten war, abgeholt und nach McLean zurückgebracht zu werden. Doch Sally hatte verneint, aber versprochen, sich sofort zu melden, wenn sie etwas hörte. Auch Faith’ Anrufe bei den Familien zweier weiterer von Remys Freundinnen waren erfolglos verlaufen.

Fehlte noch David.

Remy hatte sich bestimmt nicht an ihren Vater gewandt. Da war sich Faith sicher. Ganz gleich, wie sehr ihre Mutter ihr momentan auf die Nerven ging, ihren Vater hasste Remy eindeutig noch mehr. Aber David war Remys Vater, und als solcher hatte er das Recht, von ihrem Verschwinden zu erfahren. Was, wenn ihr wirklich etwas zugestoßen war?

Faith rang mit sich. Sollte sie ihn anrufen? Sie hatte die Nummer von Hams Wohnung. David besaß kein Handy mehr; genau genommen hielt Faith den Apparat in der Hand, der einmal ihm gehört hatte – ein schon jetzt als hoffnungslos altmodisch geltendes Gerät. Aber sie konnte ihn bei Ham erreichen oder, wenn er nicht da war, eine Nachricht hinterlassen. Ihr war völlig klar, dass sie genau das tun musste.

Schweren Herzens suchte sie in der Handtasche nach ihrem Adressbüchlein. Sie wählte die Nummer und wartete. Ein ohrenbetäubendes Störgeräusch drang aus dem Hörer. Beim zweiten Versuch war die Verbindung in Ordnung.

Hams Stimme schien höher als die von David zu sein und klang etwas nasaler. Sie wusste, dass sie mit dem Mann sprach, der ihrem Mann zum Coming-out verholfen hatte.

„Ich möchte bitte mit David Bronson sprechen.“ Ihren Namen nannte Faith nicht.

„Tut mir Leid, er ist gerade nicht da. Kann ich etwas ausrichten?“

Sie war drauf und dran, das Gespräch zu beenden. Die ganze Situation ging ihr gegen den Strich; niemand hatte sie darauf vorbereitet. Niemand hatte ihr beigebracht, wie sie mit dem Mann reden sollte, der der Lover ihres Gatten war.

„Hallo?“ fragte Ham in die Stille.

Sie versuchte, geschäftsmäßig zu klingen. „Hier spricht Faith Bronson. Ich wollte David sagen, dass Remy verschwunden ist. Sie ist noch nicht lange weg, aber ich dachte, er sollte es wissen.“

„Verschwunden?“ Hams Stimme überschlug sich.

Sie wollte ihm die Sache nicht erläutern. Er gehörte nicht zur Familie, ganz gleich, wie David zu ihm stand. „Bitten Sie David einfach, mich anzurufen, wenn er zurückkommt. Dann ist sie vielleicht schon wieder aufgetaucht.“

„Ich werde ihn ausfindig machen.“

„Nein, das ist nicht nötig. Es handelt sich nicht um einen Notfall. Sie ...“

„Faith, bitte. David ist ihr Vater. Er möchte es sicher sofort erfahren.“

Sie konnte sich nicht entsinnen, sich mit Ham irgendwann darauf geeinigt zu haben, einander mit dem Vornamen anzureden. Sie wollte ihm mitteilen, dass er sie Mrs. Bronson nennen sollte, aber auch dieser Name schien nicht mehr zu passen.

„Tun Sie, was Sie für richtig halten“, sagte sie nach einer längeren Pause. „Er kann mich auf dem Handy erreichen.“

„Ich weiß, es ist ein schwacher Trost, aber es tut mir Leid, dass ich Ihren Kummer mitverursacht habe, Faith. Ich hoffe, dass wir einmal Freunde sein können.“

Eine Million sarkastischer Antworten gingen ihr durch den Kopf. Sie wählte die höflichste Variante und legte einfach auf. Das Telefon gegen die Brust gepresst, schloss sie die Augen. Als es klingelte, drückte sie vollkommen benommen die Annahmetaste.

Alex meldete sich. Zwischen dem permanenten Rauschen und Knacken verstand sie gerade noch, dass Remy zurück war.