26. KAPITEL

Es tat ihr nicht Leid, obwohl all ihre Instinkte ihr sagten, dass sie den Vorfall eigentlich bedauern sollte. Nicht, weil sie rechtlich noch immer eine verheiratete Frau war. Nicht, weil sie sich immer an die Spielregeln gehalten hatte, die andere für sie aufgestellt hatten. Nicht einmal, weil sie nun mit den Konsequenzen fertig werden und mit Pavel klären musste, in was für einem Verhältnis sie nun eigentlich zueinander standen.

Es tat ihr nicht Leid, weil sie so unglaublich glücklich war. Und obwohl sie ein Leben lang ihr Recht, sich als Frau zu fühlen und ihre Sexualität auszukosten, in Frage gestellt hatte, war sie sich jetzt sicher, dass sie dieses Glück verdiente.

Sie war an diesem Morgen am äußersten Rand von Pavels Bett erwacht; sein Arm hatte über ihren nackten Brüsten gelegen, und seine Knie hatten ihr ins Kreuz gedrückt. Dass er sich so breit gemacht hatte, überraschte sie nicht.

Nach dem ersten Schreck war ihr bewusst geworden, dass sie sich dafür niemals schämen würde: nicht für die Nacht, die sie mit ihm verbracht hatte – und vor allem nicht für ihr wieder hergestelltes Selbstvertrauen.

Denn welche Frau könnte noch an ihrer Attraktivität zweifeln, wenn solch ein Mann sie begehrte? Und ihr ging es nicht anders. Einst hatte sie sich eingebildet, sich zu David hingezogen zu fühlen. Jetzt wusste sie es besser.

„Faith?“

Faith blickte hoch und begriff, dass Lydia ihr eine Frage gestellt hatte. Am Nachmittag war sie nur eine knappe halbe Stunde vor ihrer Mutter und den Kindern zu Hause eingetroffen, gerade noch rechtzeitig, um sich umzuziehen und alle Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter zu löschen, damit niemand merkte, dass sie den ganzen Vormittag nicht daheim gewesen war.

„Tut mir Leid. Ich habe letzte Nacht nicht gut geschlafen. Ich bin müde.“ Sie unterdrückte ein Lächeln.

„Ich habe dich gefragt, ob es gestern Abend nett war.“

„Hm-m. War es.“

„Seid ihr in ein gutes Restaurant gegangen?“

„Wir waren auf dem Land. Sehr schlicht, aber das Essen war ausgezeichnet.“ Faith fiel auf, dass ihr Versuch, für ihre Mutter Kaffee zu kochen, nach dem Einfüllen des Wassers in die Maschine irgendwie zum Erliegen gekommen war, und suchte nach einem Filter.

„Also, den Kindern scheint es heute Vormittag gefallen zu haben. Remy fand vor allem die Pferdeschau interessant. Sie hat ein paar Kinder aus eurem alten Viertel getroffen und sich zu ihnen gesellt. Bis zum Ende der Show habe ich sie kaum noch zu Gesicht bekommen.“

Faith war froh, dass ihre Tochter sich nicht mehr von ihren alten Freundinnen fern hielt. Im Augenblick waren Remy und Alex oben, um sich für einen Einkaufsbummel umzuziehen, und Faith hoffte, dass die beiden ihr von der Pferdeschau erzählen würden.

„Faith, hast du vor, irgendwann Kaffee in diesen Filter zu füllen?“

Faith sah den Filter an. „Ja, aber langsam. Ganz langsam.“

„Viel Schlaf hattest du wirklich nicht, was? Du hast Ringe unter den Augen.“

„In letzter Zeit geht mir viel durch den Kopf.“ Faith riss sich zusammen, füllte Kaffeepulver ein und schaltete die Maschine an.

„Zum Beispiel?“

Faith rang nach Worten. „Tja, ich muss die Renovierung und die Gartenarbeiten zum Abschluss bringen, und ich will dabei alles richtig machen.“

„Richtig?“

„Ich muss noch eine Menge anstreichen. Und dabei sowohl auf die Geschichte als auch auf den Komfort achten. Am besten gehe ich nach nebenan und frage Dottie Lee, an welche Innenraumfarben sie sich entsinnt; dann bin ich diese Unsicherheit los. Über den Garten wusste sie so gut wie alles.“ Faith schaute hoch. „Sie hat mir erklärt, dass es praktisch nichts gibt, woran sie sich bezüglich des Hauses nicht erinnert. Aber sie rückt die Informationen nur stückchenweise heraus. Sie wartet, bis ich die richtigen Fragen stelle. Ich glaube, auf diese Weise will sie erreichen, dass ich sie weiterhin besuche.“

„Wie hat sie das gemeint: Sie erinnert sich an alles?“

„Sie äußerte, sie entsinne sich an mehr Dinge, die das Haus betreffen, als jeder andere auf der Welt.“ Faith kramte in ihrem Gedächtnis und zuckte dann mit den Schultern. „Sie ist älter als du, also reicht ihre Erinnerung weiter zurück. Und sie hat seit dem Tag ihrer Geburt nebenan gewohnt. Also wird es wohl stimmen.“

Lydia schwieg. Obwohl sie im Geiste noch immer bei der letzten Nacht war, bemerkte Faith, dass ihre Mutter über etwas nachgrübelte.

„Sie hat mir neulich berichtet, wie schön du warst.“ Faith beobachtete, wie ihre Mutter den Kopf hochriss. „Und ich habe ihr erzählt, wie wenige Fotos ich aus deinen ersten Ehejahren kenne. Ich habe eure Hochzeitsfotos gesehen, ja, aber danach kaum noch welche.“ Sie zögerte, wollte aber nicht länger wie die Katze um den heißen Brei herumschleichen. „Außer den Zeitungsfotos nach Hopes Entführung.“

„Wie seid ihr auf das Thema verfallen?“

„Ich habe sie über diese Zeit ausgefragt. Hope ist in diesem Haus immer noch allgegenwärtig. Nicht als Gespenst“, fügte sie schnell hinzu. „Aber es ist spürbar, dass hier etwas nicht zum Abschluss gekommen ist.“

„Das war fast das Schlimmste daran, weißt du: auf eine Auflösung zu warten, die nie zu Stande kam. Das, und die Furcht, dass sie tot sein könnte oder man ihr wehgetan hat oder sie nach mir ruft ...“

„Oh Mutter.“ Faith griff nach Lydias Händen. „Es tut mir Leid.“

Lydia schüttelte sie ab. „Du hast in der Vergangenheit herumgestochert. Du und diese Frau.“

„Ich lebe jetzt hier.“

„Es bringt nichts, die Entführung wieder auszugraben.

Glaubst du etwa, ein paar Gespräche mit Dottie Lee reichen aus, um ein Verbrechen aufzuklären, an dem das FBI gescheitert ist?“

„Ich will das Ganze einfach etwas besser verstehen, das ist alles. Es war das Tabuthema meiner Kindheit. Sie war meine Schwester. Diese Geschichte hat auch mich geprägt.“

„Als es geschehen war, gab es für mich nur einen Weg, um zu überleben: Ich musste die Entführung vergessen. Erst nur für Minuten, dann für Stunden, und später, viel später, ganze Tage lang. Anders hätte ich das nicht ertragen können.“

„Ich weiß, wie sehr du darunter leidest, selbst heute noch.“

Aber Lydia war noch nicht fertig. „Ich dachte, ein zweites Kind würde die Wunde schneller verheilen lassen. Dann kamst du, und jedes Mal, wenn ich dich anschaute, überlegte ich, wie Hope wohl in deinem Alter ausgesehen hätte. Ob sie wohl früher mit dem Laufen angefangen hätte. Ob sie dieselben Spielsachen gemocht hätte. Sie hatte dunkles Haar – wie dein Vater. Wenn ich in den ersten Jahren beim Einkaufen etwas entdeckte, das einem dunkelhaarigen Kind gut gestanden hätte, musste ich mich manchmal mühsam beherrschen, es nicht für Hope zu kaufen. Als du zum Traualtar gingst, um David zu heiraten, versuchte ich mir vorzustellen, wie sie wohl in ihrem Brautkleid ausgesehen hätte.“

Lydia hatte die ganze Zeit auf den Küchentisch gestarrt. Jetzt blickte sie hoch. „Ich habe dich geliebt, Faith. Glaub ja nicht, ich hätte dich nicht geliebt. Aber wie oft habe ich dich angeguckt und an deine Schwester gedacht. Auch deshalb habe ich mich bemüht, einen Schlussstrich unter die Sache zu ziehen: weil es dir gegenüber nicht fair war.“

„Und ich stochere jetzt in dieser Wunde herum.“

„Tu’s nicht. Bitte nicht. Uns allen zuliebe.“

Faith erinnerte sich an alles, was Dottie Lee gesagt – und was sie verschwiegen hatte. An die Andeutungen. Das Schweigen, das Faith’ Neugier geweckt hatte. Sie konnte das nicht auf sich beruhen lassen. „War Hope wirklich der Ursprung all des Kummers in deinem Leben?“

„Ich weiß nicht, was du meinst.“

„Ich meine, dass ich zwischen zwei unglücklichen Elternteilen aufgewachsen bin. Wäre das anders gewesen, wenn man Hope nicht entführt hätte?“

„Woher soll ich das wissen?“ Lydias Ton hatte sich merklich verändert. Er wirkte jetzt abweisend.

„Ein Kind zu verlieren ist das Schlimmste, was Eltern widerfahren kann. Selbst in einer perfekten Ehe.“

„Das führt doch zu nichts, Faith. Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern.“

Faith erkannte, dass es nichts bringen würde, wenn sie ihre Mutter weiter bedrängte. Lydia hatte sich so weit geöffnet, wie es ihr momentan möglich war. „Es tut mir Leid. Ich will dich nicht quälen. Ich möchte es nur verstehen.“

„Warum? Um etwas über dich selbst zu erfahren? Oder interessierst du dich plötzlich für Beziehungsprobleme, weil du die Nacht mit einem Mann verbracht hast und dein eigenes Leben jetzt aus den Fugen geraten ist?“

Faith musste zugeben, dass ihr das Abenteuer mit Pavel offenbar doch schwerer zu schaffen machte, als sie vermutet hatte. Sie errötete wie ein Schulmädchen. „Wie kommst du darauf?“

„Ich werde zwar alt, aber wie eine befriedigte Frau aussieht, weiß ich noch immer.“

Lydia hatte seit fast vierzig Jahren nicht an Dottie Lees Tür geklopft. Als sie nun hinüberging, fiel ihr auf, dass das Haus nicht einmal ein halbes Dutzend Schritte entfernt lag. Es gab keine Stufen, da sich Dottie Lees Eingang auf Straßenhöhe befand, und kein Geländer, um das man herumgehen musste. Keine zwanzig Sekunden, nachdem sie die eigene Haustür – vielmehr die ihrer Tochter, wie sie sich in Erinnerung rief – hinter sich gelassen hatte, stand sie hier und starrte die tiefroten Zierleisten und die grauen Ziegel an.

Der Türklopfer war ein Drachenkopf aus Messing, der sich eigentümlich und – wie Lydia fand – etwas obszön anfühlte.

Dottie Lee kam selbst an die Tür; sie trug einen königsblauen Sari und zahllose goldene Armreifen. Sie wirkte kein bisschen überrascht.

„Ich habe dich erwartet“, sagte sie.

Lydia warf einen Blick auf den kläffenden, schnappenden Chihuahua zu Dottie Lees Füßen, eine Rasse, die in ihren Augen nichts weiter als eine Neurose mit Schwanz war. „Wenn du dieses Tier nicht zum Schweigen bringst, wirst du auf mich noch eine ganze Weile warten müssen.“

„Titi!“

Der Hund verstummte.

„Alex liebt sie.“

„Alex ist viel zu gutmütig.“

„Weiß Faith, dass du hier bist?“

„Willst du mich nicht hineinbitten?“

Dottie Lee bückte sich – ganz langsam, wie Lydia schmerzlich feststellte – und drückte den winzigen Hund an ihre Brust. Dann richtete sie sich auf und trat beiseite.

Faith hatte nichts von dem Plan ihrer Mutter geahnt. Sie war mit den Kindern einkaufen gegangen, und Lydia hatte versprochen, dass sie noch eine Tasse Kaffee trinken und dann das Haus abschließen würde.

„Seit du das letzte Mal hier warst, hat sich viel verändert“, sagte Dottie Lee. „Schau dich ruhig um.“

„Soweit ich mich erinnere, hast du dich jedes Mal neu eingerichtet, wenn du einen neuen Liebhaber hattest. Wie viele waren es? Ich weiß von zwei Senatoren und mindestens einem Kongressabgeordneten.“ Sie hielt inne. „Und einem Botschafter.“

„Nein, Liebes. Zwei Botschafter. Hinreißende Männer, alle beide. Einer aus Indien.“ Dottie Lee zupfte an ihrem Sari, um ihre Worte zu unterstreichen. „Aber du unterschätzt mich, und das verletzt meinen Stolz. Die meisten Leute trauen mir wenigstens einen Präsidenten zu. Ich habe sie natürlich nie gezählt, obwohl ich es vermutlich noch könnte. Die Männer sind gegangen, die Erinnerungen bleiben. Im Rückblick finde ich sie alle ganz entzückend.“

Lydia betrat den Raum und betrachtete die exotischen Rosenholz und Mahagonimöbel. „Der Letzte muss eine Menge Zeit im fernen Osten verbracht haben.“

„Er stammte aus dem fernen Osten. Ein bezaubernder gelbhäutiger Chinese. Oh, das ist wahrscheinlich politisch unkorrekt ausgedrückt, aber wir haben uns ja nie lange mit Förmlichkeiten aufgehalten, du und ich.“

„Und du hast keinen von ihnen geheiratet. Hat nie einer um deine Hand angehalten?“

Dottie Lee lachte: eine alte Frau, deren Lachen jung geblieben war. „Andauernd.“

„Aber du konntest das Haus nicht verlassen.“

„Für dich bin ich noch immer ein offenes Buch. Nach all den Jahren.“

„Weiß Faith von deiner Angst?“

„Ob sie weiß, dass ich alles daransetze, nie über die Grenzen meines Grundstücks hinaus zu müssen? Eher nicht. Ich bin drüben bei ihr gewesen. Sie hat entweder gar nicht bemerkt, dass ich nie weiter fortgehe, oder sie hält es für Bequemlichkeit oder eine harmlose Marotte.“

„Hast du nie Hilfe gesucht?“

„Das war nie nötig. Natürlich war es manchmal unpraktisch, Und selbstverständlich hat es ein, zwei Männer gegeben, die mich so sehr faszinierten, dass ich vielleicht versucht gewesen wäre, ihnen zu folgen, wenn sich mehr daraus entwickelt hätte. Aber mein Leben in diesen Mauern hat mich sehr viel gelehrt.“ Dottie Lee deutete auf die Wände. „Deshalb sind sie zu mir gekommen, all die Diplomaten und Staatsmänner. Ich habe ihnen so viel bieten können, dass sie mich immer wieder besuchten, bis ich von ihnen genug hatte.“

Lydia wollte, wie in all den Jahren, schon wieder den Stab über ihrer alten Babysitterin und Kindheitsfreundin brechen, aber sie erkannte, dass auch sie gegen ihre eigenen Ängste machtlos gewesen war. Hatten sie nicht beide versucht, unter den gegebenen Umständen das Beste aus ihrem Leben zu machen? Sie selbst hatte ihre Ehe mit Joe fortgesetzt und ein zweites Kind geboren, und Dottie Lee hatte ihr Gefängnis in einen Palast verwandelt.

„Das ist kein Freundschaftsbesuch“, sagte Lydia.

„Das habe ich vermutet. Seit du mit Joe Huston verheiratet bist, hast du alles darangesetzt, nicht mit mir gesehen zu werden.“ „Du hast einen zweifelhaften Ruf.“

„Und ich bin sehr stolz darauf.“ Dottie Lee führte sie zum Sofa. „Soll ich Mariana bitten, uns Tee zu bringen? Oder etwas Stärkeres?“

„Nichts. Ich bleibe nicht lange.“

„Dann setz dich und entspann dich, Lyddy. Weißt du noch, wie du uns als Kind immer besucht hast? Du warst eine Rabaukin. Deine Großmutter hat mich dafür bezahlt, dass ich mit dir spiele, damit sie sich für eine kurze Zeit ausruhen konnte, und mich hast du auch fix und fertig gemacht.“ Sie lächelte liebevoll. „Ganz wie dein Enkel. Voller Fragen, Ideen und Tatendrang.“

Schon daran zu denken erschöpfte Lydia. Ihr fielen jene frühen Tage wieder ein, als ihre Eltern weite Reisen unternommen hatten und sie bei ihrer Großmutter geblieben war, bis ihre Mutter ihr endlich ein eigenes Zuhause bieten konnte. Sie erinnerte sich an ihre vielen Besuche in diesem Haus und auch an Dottie Lees Humor und Geduld.

„Ich komme gleich zur Sache“, begann Lydia.

„Wie bedauerlich.“

„Du setzt Faith Flöhe ins Ohr. Es gibt Dinge, die sie nicht zu wissen braucht.“

„Ist sie der gleichen Meinung wie du?“

„Sie hat mir erzählt, dass du behauptest, du wüsstest alles über unser Haus, und so, wie ich dich kenne, hast du die Situation ausgenutzt, um ihr Interesse an der Vergangenheit zu wecken.“

„Nicht der Vergangenheit, meine Liebe. Deiner Vergangenheit. Nicht verallgemeinern!“

„Das wird zu nichts Gutem führen. Ich möchte dich fragen, was du ihr mitgeteilt hast. Und was du vorhast.“

„Was ich vorhabe?“

„Faith meinte, du rückst die Informationen stückchenweise heraus. Du wartest, bis sie die richtigen Fragen stellt.“

„Das hat sie gesagt?“ Dottie Lee lächelte. „Sie ist ein kluges Mädchen. Habe ich schon erwähnt, wie sehr ich sie mag? Sie erinnert mich an deine Mutter. Sie hätte eine exzellente Botschaftergattin abgegeben, genauso wie Millicent. So entgegenkommend. So hilfsbereit und umsichtig. Und zugleich standhaft genug, um die traurige Politik des Außenministeriums zu ertragen.“ Dottie Lee machte eine Pause. „Ich werde offenbar alt. Faith wäre selbst eine gute Botschafterin. Die Zeiten haben sich schließlich geändert, was?“

„So viel hat sich nun auch wieder nicht geändert, dass du ihr Dinge erzählen könntest, die besser ungesagt blieben!“ Lydia beugte sich vor. „Was hast du ihr verraten?“

„Wie schon erwähnt, sie ist ein kluges Köpfchen. Sie hat herausgefunden, dass du mit Joe schon vor der Entführung unglücklich warst.“

Lydia hielt den Atem an, obwohl sie nicht sonderlich überrascht war. Schon Faith’ letzte Fragen hatten nahe gelegt, dass ihre Tochter Verdacht geschöpft hatte. „Was hast du darauf geantwortet?“

„Lyddy, lass uns hier keinen Eiertanz aufführen. Wir stören die Ruhe der Toten nicht, indem wir ihre Namen aussprechen. Ich habe ihr nicht gesteckt, dass du eine Affäre mit Dominik Dubrov hattest. Ich finde, das solltest du ihr mitteilen. Aber deine Tochter vermutet schon, dass es einen anderen Mann in deinem Leben gegeben hat.“

„Wie kannst du es wagen!“

„Nein, wie kannst du es wagen? Du hast ihr nichts über dich erzählt. Du bist für dein eigenes Kind eine Fremde geblieben.“

Lydia lehnte sich zurück. „Du hast ja keine Ahnung.“

„Ich weiß, dass Dominik mehr als ein Handwerker war. Ihr hattet ein Verhältnis. Du hast das immer verschwiegen, selbst als der arme Mann in den Verdacht geriet, euer Kind entführt zu haben.“

„Du fantasierst.“

„Ich weiß, was ich weiß, Lyddy.“

„Du scheinst deine Fantasiegebilde mit der Wirklichkeit zu verwechseln.“

„Ich spreche nur die Wahrheit aus. Und du versuchst dich aus der Sache herauszulügen, genau wie du es als süßes vierjähriges Mädchen getan hast.“

Dottie Lee setzte den Chihuahua neben sich auf das Sofa, wo er sich in ein Kissen kuschelte und eingeschlafen war, noch bevor Lydia etwas erwidern konnte.

„Ich war unglücklich. Die Affäre war kurz und hatte keine Zukunft. Ich habe sie beendet. Es war unmöglich.“

Dottie Lee nickte und wartete.

„Ich habe mich immer gefragt, ob du damals etwas mitbekommen hast“, meinte Lydia schließlich.

„Ich habe mich immer gefragt, warum du geschwiegen hast, als man Dominik verdächtigte. Hättest du die Wahrheit gesagt, wenn er angeklagt und ins Gefängnis gesteckt worden wäre?“

„Die Wahrheit hätte mehr geschadet als genutzt.“

„Er hat unzählige Stunden in eurem Haus verbracht, mehr als nötig waren. Dass ihr ein Verhältnis hattet, hätte diesen Umstand erklären können. Er wirkte nach Hopes Verschwinden völlig aufgewühlt, viel stärker, als man es bei einem Fremden erwarten würde. Das hat die Ermittler stutzig gemacht.“

„Du weißt, warum ich geschwiegen habe. Ich hätte die Schlinge um seinen Hals nur noch enger gezogen. Er war derjenige, den sie am stärksten verdächtigten. Er besaß Zugang zum Haus. Er hätte genug Gelegenheit gehabt. Er kannte die Baupläne. Er hatte einen Schlüssel!“

„Aber er hatte kein Motiv“, gab Dottie Lee zu bedenken.

„Die Eifersucht eines Liebhabers ist das beste Motiv überhaupt. Ich ahnte, was die Polizei sagen würde: Dominik sei wütend gewesen, weil ich mit ihm Schluss gemacht hatte, und habe Vergeltung geübt. Oder sie hätten vermutet, er habe Hope mitgenommen, weil er ein verrückter slawischer Einwanderer ist, der glaubt, einen Anspruch auf einen Teil meines Glücks zu haben. Oder sie wären davon ausgegangen, dass er Lösegeld erpressen wollte, um aus seinem Elend herauszukommen.“

„Es gab keine Lösegeldforderung.“

„Weil sie gestorben ist oder weil er Angst bekam. Verstehst du nicht? Ich wusste, wie die Ermittler darüber denken würden. Mein Bekenntnis hätte ihnen genau das in die Hand gegeben, was ihnen noch fehlte. Und wozu? Um seine Anwesenheit im Haus zu erklären? Dass er für mich arbeitete, reichte doch wohl als Argument. Alles andere war pure Spekulation.“

„Sobald ich Dominik ein Alibi verschafft hatte, hast du es also nicht mehr für nötig gehalten, die Polizei über euer Verhältnis aufzuklären?“

„Verschafft? Das Alibi war nicht echt?“

„Aber Lyddy, hast du diesen Unsinn etwa all die Jahre geglaubt?“

Lydia starrte Dottie Lee fassungslos ins Gesicht. „Du hast gelogen? Er war an diesem Nachmittag nicht bei dir?“

„Ich kannte das FBI und das Ungeheuer an seiner Spitze. Hoover hätte fast alles getan, um den Fall schnell abzuschließen. Eine Stunde, nachdem Hopes Verschwinden bekannt gegeben worden war, ging mir plötzlich auf, dass sich diese Leute auf Dominik einschießen würden. Es war nur eine Frage der Zeit, und das konnte ich nicht zulassen.“

„Wenn du schon gelogen hast, wieso nicht gleich richtig? Warum die Geschichte mit dem Eisenwarenladen? Deswegen ist der Verdacht bis zu seinem Tod an ihm haften geblieben. Und darüber hinaus.“

„Es war unmöglich zu behaupten, dass er den ganzen Nachmittag hier gewesen ist, weil ein Freund von mir vorbeischaute, der Dominik natürlich nicht in meinem Haus gesehen hat. Also habe ich mir die Sache mit der Eisenwarenhandlung ausgedacht, denn Dominik ist mittags wirklich für mich dorthin gegangen. Ich habe ihm eingeschärft, diese Geschichte zu erzählen, wenn man ihn befragen würde. Der gute Dominik hat zunächst gar nicht verstanden, warum er lügen sollte. Aber er hatte lange genug im Kommunismus gelebt, um zu begreifen, dass Unschuld nicht vor Strafe schützt. Auch in Amerika nicht.“

„Wo war er denn, wenn nicht bei dir?“

Dottie Lee lehnte sich zurück. „Verdächtigst du ihn jetzt etwa noch immer, Lyddy?“

„Wo war er?!“

„Spazieren. Er wollte über sein Leben nachdenken und eine Entscheidung treffen, was er mit dem Rest davon anfangen sollte. Er hatte dafür natürlich keine Zeugen, aber er gab mir sein Wort.“

Lydia hatte keine Lust, auch nur einen Gedanken an Dominik zu verschwenden. Sie war nicht in der Lage, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, wo er sich an dem Tag aufgehalten hatte, als ihr Kind entführt worden war, und was sie für ihn empfunden hatte. „Wie viele Menschen wären ins Unglück gestürzt worden, wenn ich mich zu der Affäre bekannt hätte?“

„Im Nachhinein?“

„Joes Karriere wäre eventuell beendet gewesen. Ich hätte nie wieder erhobenen Hauptes durch Washington gehen können. Dominik hatte eine Frau und ein Kind, die ihn brauchten. Ich hätte das alles zerstört. Und wofür? Im Ernst, wofür?“ Lydia lachte bitter auf.

„Aber du musst dich doch gefragt haben, ob du durch dein Schweigen die Suche nach deiner Tochter nicht behinderst.“

„So wie du dich gefragt haben dürftest, ob du die Ermittlungen nicht erschwerst, indem du den wichtigsten Verdächtigen deckst.“

„Und jetzt fördert deine Tochter die Wahrheit Stück für Stück zu Tage.“

„Ich will, dass du dich von Faith fern hältst.“

„Sie wird auch ohne mich genügend Informationen sammeln können. Ich bin nur eine mögliche Quelle. Du wärst eine bessere.“

„Ich? Meinst du wirklich, ich setzte mich mit ihr hin und erzähle ihr, dass ich – frisch verheiratet – schon so unglücklich war, dass ich eine Geschichte mit einem Handwerker angefangen habe? Glaubst du, dadurch würde irgendetwas besser?“

„Ich war mir immer sicher, dass ich den Tag noch erleben würde, an dem die Wahrheit schließlich ans Licht kommt. Darauf habe ich gebaut.“

Lydia stand auf. „Oder hast du all die Jahre auf eine Gelegenheit gehofft, jemandem deine Version der Wahrheit aufzudrängen? Ist es das, Dottie Lee? Du sitzt Tag für Tag in diesem Haus und suchst nach Wegen, etwas frischen Wind in dein Gefängnis zu bringen, weil dir sonst nichts bleibt. Und jetzt, wo dir Faith ins Netz gegangen ist, benutzt du sie, um dein armseliges Dasein aufzuwerten.“

Dottie Lee erhob sich. Langsam, wie Lydia auffiel, als spüre sie plötzlich ihre müden Knochen. „Ich kann mich natürlich von Faith fern halten. Aber das wird nichts ändern. Hier sind Kräfte am Werk, die wir nicht beherrschen.“

„Was willst du damit andeuten?“

„Ich möchte damit ausdrücken, Liebes, dass es manchmal Situationen gibt, in denen wir kaum etwas anderes tun können, als abzuwarten. Und die Wahrheit zu sagen, so wie wir sie sehen.“

Lydia ging zur Haustür. Es gab nichts mehr zu besprechen. Ja, es war schon zu viel geredet worden.

„Lyddy?“

Sie drehte sich um und erkannte, dass Dottie Lee direkt hinter ihr stand.

„Hier in der Prospect Street sind wir so eine Art Familie“, begann Dottie Lee. „Oh, es sind nicht mehr viele von uns übrig. In allzu vielen Häusern wohnen Fremde. Sie ziehen ein und aus und lassen nichts von sich zurück. Aber du und ich ... uns verbindet ein starkes Band. Ich werde es nicht zerreißen. Aber ich kann nicht verhindern, dass gewisse äußere Umstände es zerstören.“

„Du bist eine alte Frau, Dottie Lee. Und alte Frauen reden sich so manches ein.“

„Komm wieder mal vorbei. Wir können zusammen alt sein, alte Weiber, die sich über alte Zeiten unterhalten.“

Lydia griff nach dem Türknauf und trat ins Freie. Dottie Lee stand aufrecht da, ihr weißes Haar hatte sie seitlich mit Perlmuttkämmen festgesteckt. Einen Augenblick lang tauchte die junge Dottie Lee vor Lydias innerem Auge auf, das schwarzhaarige Weib, das die Reichen und Mächtigen in seinen Bann geschlagen hatte.

Lydia wollte sich nicht noch einmal so direkt mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontieren. Sie schüttelte den Kopf. „Ich komme zu deiner Beerdigung.“

Lydia ging nicht heim. Sie kehrte in Faith’ Haus zurück, weil sie sich nicht sicher war, ob sie die Kaffeemaschine ausgeschaltet hatte. Sie war dieser Tage oft nicht ganz bei der Sache, aber sie wusste, dass sich das nicht auf ein Frühstadium von Alzheimer zurückführen ließ, sondern auf ihre Sorgen. Falls sie jemals Alzheimer bekommen sollte, wäre sie verloren. Joe würde sie im Handumdrehen in einem Heim verschwinden lassen und dann eloquent über die Notwendigkeit einer besseren Gesundheitsversorgung für alte Menschen reden – während er jeden Versuch seiner eigenen Partei, die Lage zu verbessern, eiskalt ablehnte.

Joe Huston, der schlimmste der vielen Fehler, die ihr unterlaufen waren.

In der Küche entdeckte sie, dass die Maschine tatsächlich noch an war, und schenkte sich eine letzte Tasse ein, bevor sie das Gerät ausschaltete. Sie konnte sich nicht erklären, warum sie nicht gleich wieder ging. Nein, schlimmer: Sie wusste es sehr wohl, wollte es sich nicht eingestehen. Sie war hier, weil sie in diesem Haus noch immer die Stimme von Dominik Dubrov vernahm. Dottie Lee hatte behauptet, seinen Namen auszusprechen würde ihn nicht wieder zum Leben erwecken – aber sie hatte sich geirrt. Noch nach neununddreißig Jahren konnte sie sich an sein Gesicht so gut erinnern, als würde er ihr in der Küche gegenüberstehen.

Hier hatten sie sich zum ersten Mal geküsst. Sie hatten es natürlich nicht darauf angelegt. Sie befand sich in der gesellschaftlichen Hierarchie weit über ihm, was für sie allerdings mehr zählte als für ihn, der sich allen Menschen gewachsen fühlte. Beide waren sie verheiratet, und beide wollten ihre Ehe nicht aufs Spiel setzen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – er aus tief empfundener Verantwortung gegenüber Frau und Kind, und sie, weil ...

Lydia stellte die Tasse ab und legte den Kopf in die Hände. Sie, weil ihr Vater ein mächtiger Mann war und Macht ihr alles bedeutete. Sie hatte immer zahlreiche Privilegien genossen – und war mit dem Gefühl aufgewachsen, einen Anspruch auf diese zu haben. Sie verdiente einen Ehemann, der ihr diese Sicherheit bot. Also hatte sie Joe geheiratet – und sich in Dominik verliebt.

Sie war seiner nie überdrüssig geworden, nie hatte sie seinen nächsten Besuch gefürchtet oder seinen Körper nicht mehr begehrt. Er hatte nie mehr verlangt als ihre kurzen Stunden der Zweisamkeit. Wann immer sie in Versuchung kam, sich mehr zu erhoffen, unterdrückte sie diesen Wunsch, bevor er Gestalt annehmen konnte. Es war genug, diese verbotene, leidenschaftliche Lust zu teilen. Gedanken an die Zukunft hatte sie vermieden, weil sie wusste, dass es eine solche nicht geben würde.

Das Einzige, was sie nicht geahnt hatte, war, wie es enden würde.

Dominik war ein leidenschaftlicher Mann, der sich in seinem Körper wohl fühlte – und in ihrem. In Dominiks Welt gab es keine halben Sachen. Alles, was er anpackte, tat er aus vollem Herzen. Für einen Mann von bescheidener Bildung wusste er über erstaunlich viele Dinge etwas zu sagen. Er verstand etwas von Politik und begriff, dass vielen Politikern ihr Idealismus, der sie einmal angetrieben hatte, im Laufe der Zeit abhanden kam, weil sie zu viele Kompromisse eingehen mussten. Das Italienisch, in dem er ganze Arien sang, klang wirklich italienisch, und einmal hatte er ihr einen billigen Druck von Botticellis „Geburt der Venus“ mitgebracht, nur um ihr jenen Grünton zu zeigen, der ihm für ihr Wohnzimmer vorschwebte.

Er konnte über Tau auf einem Rosenblatt weinen und sich über ein Bonbonpapier auf der Straße ärgern. Jedes Mal, wenn er ihr sein Herz öffnete, wuchs ihre Liebe zu ihm. Sie lebte auf die gemeinsamen Augenblicke hin und weigerte sich, an den Tag zu denken, an dem das alles enden würde.

Bis er kam, dieser Tag.

Dominik hatte sich an diesem Nachmittag etwas verspätet. Sie wusste, dass sein Sohn häufig krank und in medizinischer Behandlung war. Dominiks Frau haderte mit ihrem Schicksal. Sie war, wie er betonte, eine gute Mutter, doch sie machte Dominik aus unerfindlichen Gründen für das Asthma ihres Sohnes verantwortlich. Er arbeitete nicht hart genug, schnell genug, lang genug, und sie glaubte, weil sie arm waren, ließ man sie stundenlang in den Krankenhausfluren warten. Sie war nicht im Stande arbeiten zu gehen, weil man Pasha mit seinem Keuchhusten schließlich keinem Babysitter überlassen konnte. Erleichterung verschaffte ihr nur das Geschimpfe auf ihren Mann.

Lydia wollte von Dominiks Ehe nichts hören, aber sie verstand, dass er darüber reden musste. Wenn sie zusammen waren, versuchte sie Joe nicht zu erwähnen. Sie hatte keine Lust, ihre gemeinsamen Stunden durch Gedanken an ihrer beider Ehen zu verdüstern. Joe war so oft auf Reisen und fragte sie so selten, ob sie ihn begleiten wolle, dass sie sich tage-, ja, wochenlang einreden konnte, sie sei gar nicht verheiratet.

Jetzt war das leider nicht mehr möglich.

Dominik kam fast eine Stunde nach der vereinbarten Zeit. Obwohl er einen Schlüssel hatte, klopfte er an. Sein dunkles Haar war zerzaust, und er wirkte abgespannt.

„Entschuldigung, es ging nicht früher.“

Sie nickte und hielt die Tür auf. Er trat ein, zog seine Wollhandschuhe aus und stopfte sie in die Tasche seines fadenscheinigen Mantels, bevor er auch diesen ablegte und über seinen Arm warf.

„Bist du allein?“ fragte er.

„Joe ist wieder auf Reisen.“

Er machte keine Anstalten, sie zu umarmen. Er hielt sich immer zurück, als brauche er stets aufs Neue eine Bestätigung, dass sie ihn wirklich liebte.

Heute konnte sie ihm diese Gewissheit nicht geben. Sie verschränkte die Arme: eine Geste, die sie sich seit ihrer Heirat angewöhnt hatte. Die lebendige junge Frau, die allen und allem gegenüber so offen gewesen war, lernte allmählich, sich zu verschließen.

„Ist dein Sohn wieder krank?“

„Der Doktor, er sagt, vielleicht macht der Weihnachtsbaum ihn krank. Wir mussten den Baum an die Straße legen, für die Müllabfuhr. Er hat so sehr geweint.“ Dominik sah so betrübt aus, als hätte er die Kindheit seines Sohnes ruiniert. „Sandor, er hat Pasha versprochen, einen neuen Baum zu besorgen, einen kleinen, ganz glitzernd und golden. Aber das ist kein richtiger Weihnachtsbaum.“

Lydia verstand, warum Dominik unglücklich war, aber heute vermochte sie so etwas nicht zu rühren. Ihr gingen zu viele Dinge durch den Kopf – Dinge, die sie ihm sagen musste.

Sobald sie die richtigen Worte finden würde.

Sie flüchtete sich in Allgemeinplätze. „Das tut mir Leid. Ich hoffe, das wächst sich bei ihm aus.“

„Die Zeit heilt alle Wunden.“ Vorsichtig streckte er den Arm aus und strich ihr mit einer Fingerspitze über den Wangenknochen. „Ist mit dir alles in Ordnung?“

„Nein, Dominik.“ Sie stand ganz still, denn wenn sie sich hätte bewegen müssen, wäre sie ihm womöglich in die Arme gesunken.

„Bist du krank?“

„Ich bin schwanger.“

Er starrte sie an.

Sie konnte zugucken, wie seine Gedanken sich überschlugen.

Er hatte gut daran getan, die Sowjetunion zu verlassen, denn wenn er gezwungen gewesen wäre, irgendetwas vor den Behörden zu verheimlichen, wäre er kläglich gescheitert.

„Es ist von Joe“, sagte sie. „Wir beide haben ja aufgepasst.“ Sie hatten sogar Joes Kondome verwendet, die er im Nachtschränkchen aufbewahrte, aber nie benutzt hatte. Schon vor Monaten hatte Joe beschlossen, es sei an der Zeit, ein Kind zu zeugen. Lydia, die sich da längst nicht so sicher war, hatte sich heimlich ein Diaphragma besorgt, das sie einsetzte, wann immer er ihr Gelegenheit ließ, sich kurz zurückzuziehen.

Aber es hatte Situationen ohne Vorwarnzeiten gegeben, Situationen, in denen Joe sich auf sie gestürzt und sie genommen hatte, ohne auch nur ein Wort der Liebe zu murmeln. Er fand es vermutlich erregend, ihr Geschlechtsleben ebenso zu dominieren wie ihr ganzes Dasein und keinen Zweifel daran zu lassen, wer das Sagen hatte.

Wir haben aufgepasst, ja“, antwortete Dominik. „Aber er war nicht da. Wie ist das möglich, dass du ein Kind von ihm erwartest?“

„Einmal reicht völlig aus, und gelegentlich kommt er ja nach Hause.“ Sie spürte, wie ihre Unterlippe zitterte. Sie biss darauf. Fest. „Er will ein Baby, Dominik. Er hat es versucht, und ich habe, na ja, habe ihm verschwiegen, dass ich etwas zur Empfängnisverhütung benutze. Aber nicht immer. Ich hatte nicht immer Gelegenheit dazu.“

„Und der Zeitpunkt, er ist korrekt?“

Sie konnte es nicht sagen, weil sie nicht wusste, wie weit sie schon war. Schon seit Monaten hatte sie sich ständig – außer in Dominiks Armen – müde und abgeschlagen gefühlt. Joes Beruf beanspruchte ihre Zeit und Energie. Die Renovierung des Hauses und die Haushaltsführung kosteten ebenfalls viel Kraft. Sie hatte sich gegen ein Dienstmädchen gewehrt, sodass die ganze Hausarbeit an ihr hängen blieb.

Ihre Tage waren erst verspätet, dann spärlich und schließlich überhaupt nicht mehr gekommen. Sie hatte all das auf ihre Erschöpfung und Depression zurückgeführt. Sie hatte den Gedanken, mit Joe ein Kind zu haben, so weit von sich gewiesen, dass sie lange gar nicht auf das Naheliegende gekommen war.

„Es ist Joes Baby“, wiederholte sie. „Immer, wenn er zu Hause ist, will er Sex. Selbst wenn er nur kommt, um sich zwischen zwei Reisen umzuziehen.“

Dominik stand regungslos da. Er fingerte an seinem Mantel herum, fuhr mit den Fingerspitzen über die Wolle, vor und zurück. „Das macht alles anders.“

„Ja.“ Ihre Stimme zitterte.

„Wie soll es weitergehen?“

Im Grunde fragte er sie, wie es ohne ihn weitergehen sollte – nicht vorwurfsvoll, sondern mitfühlend. Er wusste sehr wohl, wie viel ihr die gemeinsamen Stunden bedeuteten. Wenn sie mit ihm zusammen war, fühlte sie sich wie die Frau, die sie sein wollte. Wenn sie mit Joe zusammen war, kam sie sich nur wie dessen Anhängsel vor.

„Und was ist mit dir?“

Er zuckte mit den Schultern. Vor der Haustür hatte er müde ausgesehen. Jetzt wirkte er gramgebeugt, ungewohnt fahl. Die Glut seiner Augen schien erloschen zu sein. „Ich habe Pasha. Wenn es ihn nicht geben würde ...“ Wieder zuckte er mit den Achseln.

Sie hatten nie über die Unterschiede zwischen ihnen geredet, um die Kluft dadurch nicht noch zu vergrößern. Doch jetzt hatte es keinen Sinn mehr, der Wahrheit auszuweichen.

„Ich wünschte, ich wäre stark genug, Joe zu verlassen“, sagte sie. „Wenn ich stärker wäre, würde ich es tun. Ich würde mir Arbeit suchen und mein Kind ohne ihn großziehen. Ich würde in einer winzigen Wohnung in der Stadt auf dich warten, auf die Nächte hinleben, in denen du dich zu Hause fortstehlen und mich besuchen könntest. Aber so stark bin ich nicht, Dominik. Ich brauche das, was Joe mir bieten kann. Und er würde mich nicht gehen lassen, nicht in Frieden. Nicht ohne zu versuchen, mir das Kind wegzunehmen.“

„Auch ich habe Wünsche, die wohl nie wahr werden.“

„Wir dürfen uns nicht mehr wiedersehen.“

„Die Arbeit im Haus ist nicht fertig.“

„Ich kann den Rest selbst erledigen. Wenn nötig, finde ich einen anderen Handwerker.“

„Nein, ich werde Sandor schicken.“

Sie wollte ablehnen, da eine solche Verbindung zu ihm sie schmerzen würde, aber sie begriff, dass Dominik beabsichtigte, ihr auf diese Weise wenigstens ein bisschen Unterstützung zukommen zu lassen. Sie neigte den Kopf, um kurz zu nicken, konnte ihn aber nicht mehr heben, um ihm in die Augen zu sehen.

„Ich habe erkannt, dass es wenig Glück gibt auf der Welt. Ich habe meins bei dir gefunden“, eröffnete er ihr.

Tränen strömten aus ihren Augen, aber sie schaute ihn nicht an. „Ich glaube, du solltest jetzt gehen.“

„Ich wünsche dir ein gesundes Baby. Ein Mädchen? Würde dir das gefallen?“

Eigentlich war ihr das gleichgültig. Sie konnte sich ohnehin nicht vorstellen, bald Mutter zu sein. „Ein Mädchen wäre ... schön.“

„Dann wünsche ich dir das.“

Sie spürte seine Finger unter ihrem Kinn und hob mit seiner Hilfe den Kopf so weit, dass ihre Blicke sich trafen.

„Etwas, das bleibt“, sagte er.

„Bitte geh.“

Er ließ die Hand sinken und seufzte. Dann drehte er sich um.

Er zog seinen Mantel nicht an, obwohl es draußen ein wenig schneite. Er lief zur Tür und schloss sie hinter sich. Ruhig. Scheinbar ungerührt.

In der Stille des Hauses brach Lydia in Schluchzen aus.

Neununddreißig Jahre später weinte sie wieder.