7. KAPITEL
Das Mittagessen verlief nicht gut. Bei „Booeymonger“, einem kleinen Schnellrestaurant auf der Prospect Street, fand sich nichts, was Remys Appetit wecken konnte. Während Faith und Alex Sandwiches von der Größe eines Paperback-Wörterbuchs verdrückten, nippte sie bloß an einer Flasche Wasser. Auf dem Rückweg versuchte Faith sie vergebens für Sehenswürdigkeiten zu interessieren: Cafe Milano, eines der angesagtesten Restaurants der Stadt; das wunderschöne und elegante Prospect House, in dem einst ausländische Würdenträger logierten. Remy war nicht zu beeindrucken.
Einen Block von ihrem Haus entfernt machte Remy schließlich den Mund auf. „Da ist wieder dieser Mann.“ Sie blieb abrupt stehen und streckte den Finger aus. „Er durchwühlt den Müll. Abartig.“
Trotz der Wärme trug der fragliche Mann Latzhosen und ein Sweatshirt. Er war groß und hatte einen Bart und graues Haar, das ihm in Strähnen bis unters Kinn reichte, aber obwohl er so alt war wie all die Leute, die ihren Ruhestand auf einem Golfplatz in Florida verbrachten, wirkte er – soweit man das aus der Ferne beurteilen konnte – gesund und rüstig.
Faith und David hatten sich bemüht, ihren Kindern beizubringen, dass man Menschen in Not mit Mitgefühl und Mitleid begegnen musste. Thanksgiving begingen die vier traditionell so, dass sie in einem örtlichen Obdachlosenheim ein Abendessen ausrichteten. Jahrelang hatten Remy und Alex Tischdekorationen aus Buntpapier gebastelt und Leuten wie diesem Mann gefüllten Truthahn serviert.
Jetzt begriff Faith, dass die Obdachlosen in ihrer warmen, geschützten Unterkunft offensichtlich einen ganz falschen Eindruck hinterlassen hatten. Vermutlich waren die Kinder jedes Jahr mit dem Gefühl von dem Fest zurückgekehrt, dass eine gute Mahlzeit das Problem schon fast gelöst hatte.
„Das einzig Abartige daran ist“, wandte sie behutsam ein, „dass er keine andere Chance hat, sich über Wasser zu halten.“
„Er könnte arbeiten gehen.“
Da Faith diesen Spruch auch von älteren und einflussreicheren Leuten kannte, konnte sie ihn Remy nicht verübeln. „Nicht ohne weiteres.“
Alex berührte seine Mutter am Arm. „Glaubst du, er sucht nach Essen?“
„Eher nach etwas, das er verkaufen kann.“
„Vielleicht ist er hungrig.“
„Kann sein.“ Faith war neugierig, was ihr Sohn vorhatte.
„Er sollte arbeiten gehen.“ Remy wollte von diesem Gedanken nicht ablassen.
„Er arbeitet doch, Remy“, hielt Faith ihr entgegen. „Auch wenn dir sein Job nicht gefällt. Er tut, was er kann.“
„Ich werd ihn fragen, ob er Hunger hat“, sagte Alex. „Vielleicht möchte er ein Sandwich haben. Ich werd ihm erzählen, wie gut das Jumbo-Sandwich schmeckt.“
Obdachlose waren keine streunenden Hunde, die man in finsteren Seitengassen füttern konnte und streicheln durfte, wenn sie nah genug herankamen. Man musste sie mit Respekt und, wie alle Menschen, manchmal mit Vorsicht behandeln. Andererseits sollte man Alex die Chance einräumen, einen hungrigen Fremden zu verköstigen. Faith war hin- und hergerissen.
„Wir begleiten dich“, meinte sie.
„Ich nicht.“ Remy trat einen Schritt zurück. „Auf keinen Fall.“
„Gut. Hier ist der Schlüssel. Wir sehen uns zu Hause.“
„Was ist nur in euch gefahren? Er könnte gefährlich sein.“
„Wir sehen uns zu Hause.“
„Das ist nicht mein Zuhause!“ Remy grabschte nach dem Schlüssel und überquerte die Straße, um einen weiten Bogen um den Obdachlosen zu machen.
„Komm.“ Alex ging auf den Mann zu, und Faith heftete sich an seine Fersen.
Knapp vor dem Mülleimer, den der Mann noch immer durchsuchte, blieb Alex stehen. „Hi“, begrüßte er ihn. „Irgendwas Brauchbares dabei?“
Das war nicht gerade die Eröffnung, für die Faith sich entschieden hätte. Der Mann richtete sich auf und schaute ihn skeptisch an. Nachdem er Alex eine ganze Weile angestarrt hatte, sagte er: „Das ist meine Tonne.“
„Oh, ich will nichts davon haben. Ich war nur neugierig.“
Jetzt nahm der Mann Faith ins Visier. „Gehört der Ihnen?“
Sie nickte. „Ohne Frage.“
Ihr Lächeln überraschte ihn; seine Stirn glättete sich etwas. „Dann teilen Sie ihm mit, dass ich beschäftigt bin.“
„Würde ich gerne, aber er ist unbelehrbar. Er möchte Sie etwas fragen.“
Alex kam näher. „Ich habe gerade in der Snackbar dieses tolle Sandwich gegessen.“ Er zeigte in die Richtung. „Ich dachte, vielleicht wollen Sie auch eins. Darf ich Ihnen eins kaufen? Wir sind neu hier, und ich habe Sie gestern schon gesehen, und ich hab gedacht ...“
Der Mann machte einen Schritt auf ihn zu. „Was hast du gedacht?“
„Dass Sie vielleicht Hunger haben. Ich bin immer hungrig.“
Faith legte ihrem Sohn eine Hand auf die Schulter. „Wir wollen Sie nicht stören. Wirklich. Alex hat nur ...“
„Alex? Du heißt Alex?“
Alex nickte. „Hm-m. Und Sie?“
„Alec.“
Alex grinste. „Das macht die Sache kompliziert. Die Leute werden uns verwechseln. Cool.“
Alec blickte Faith an, als könne er nicht glauben, dass sie dieses Kind in die Welt gesetzt hatte. „Ist der immer so?“
„So ziemlich.“
Er wandte sich wieder an ihren Sohn. „Was für ein Sandwich?“
„Welches Sie wollen. Ich hatte das Jumbo-Sandwich, und es war so groß.“ Er gestikulierte mit beiden Händen.
„Also, das ist ja witzig. Das Jumbo-Sandwich ist nämlich meine Lieblingssorte.“
„Ach. Mögen Sie es auch am liebsten in einer Semmel?“
„Auf jeden Fall. So schmeckt es am besten – nach meiner Meinung.“
„Möchten Sie auch eine Cola?“
„Du kannst wohl Gedanken lesen.“
Faith überlegte, ob Alec wirklich hungrig war oder nur ihrem Sohn einen Gefallen tat. Sie hatte das merkwürdige Gefühl, dass er ihnen half. „Können wir Ihnen sonst noch etwas bringen?“
„Das reicht völlig.“
„Wir sind gleich zurück.“ Alex eilte zur Snackbar zurück. Faith blieb noch einen Augenblick stehen.
„Danke“, sagte sie leise.
Ihre Blicke trafen sich. Er zuckte leicht mit den Schultern. „Manche Charaktereigenschaften sollte man fördern.“ Dann wandte er sich wieder dem Müll zu.
Um vier Uhr war Faith drauf und dran aufzugeben. Sie hatten getan, was sie konnten; alles andere musste warten, bis die Böden fertig waren. Sie hatte das Ablösen der Tapeten in Angriff nehmen wollen, aber all ihre Anläufe waren fruchtlos geblieben. Nicht einmal die obersten Schichten ließen sich entfernen, obwohl sie Jahrzehnte alt waren. Sie würde sich erst einmal kundig machen und zudem mit einer Engelsgeduld wappnen müssen.
Auch Alex war mürrisch. Sie hatten einen zaghaften Versuch unternommen, den Dachboden zu erkunden, aber das Fehlen von Glühbirnen, eine frühnachmittägliche Schlechtwetterfront, die dauernd Regenwolken vor die Sonne schob, und eine Taschenlampe mit nahezu leeren Batterien hatten ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht. Faith hatte genug gesehen, um zu erkennen, dass sie alle Hände voll zu tun haben würden. Allein das Gerümpel fortzuschaffen würde Tage dauern.
„Wir geben nicht so leicht auf“, versprach sie, als sie und Alex sich Gesicht und Hände wuschen, um sich beim Nachmittagstee blicken lassen zu können. „Ich verspreche dir, dass wir das so bald wie möglich angehen. Ich will ja selbst ein paar Kisten dort abstellen.“
„Viele Kisten?“ brummte er.
Faith war entschlossen, sich von allerlei Zeug zu trennen, das sie an ihr Leben mit David erinnerte, aber es gab Sachen darunter, die für die Kinder irgendwann von Interesse sein könnten. Sie umarmte ihren Sohn. „Ich weiß noch nicht. Aber der Speicher ist groß. Wir werden uns schon nicht in die Quere kommen.“
Sie wollte noch einen Anlauf machen, ihre Tochter zum Mitkommen zu bewegen, obwohl Remy bereits kategorisch abgelehnt hatte. Oben klopfte Faith an Remys Tür, zählte bis fünf und trat ein. Zu ihrer Verblüffung hatte ihre Tochter aufgeräumt, gefegt und die beiden Fenster geputzt, die auf den Fluss hinausgingen. Die Regenwolken waren abgezogen, und das Sonnenlicht spiegelte sich in den Scheiben.
„Hey, das sieht ja schon viel besser aus. Hast du versucht, die Tapete zu entfernen?“
„Interessiert mich nicht.“
„Sie ist ziemlich hässlich.“ Faith entdeckte einen abgerissenen Streifen. Sie fragte sich, wer dieses Blumenmuster ausgesucht haben mochte. Es war nicht alt genug, um einen antiquarischen Reiz zu haben, und nicht neu genug, um das Zimmer luftig wirken zu lassen. Traurige Tulpenstängel sprenkelten ein Muster aus breiten schwarzen Streifen. Überall fanden sich Spuren von Klebeband und Reißzwecken, als hätte jemand versucht, möglichst viel von der Tapete hinter Postern zu verbergen.
„Das war das Kinderzimmer meiner Schwester“, sagte sie, als Remy nicht antwortete. „Irgendwo unter den vielen Schichten dürfte eine Babytapete stecken. Altmodische Störche oder Teddybären ...“
„Du meinst, in diesem Zimmer hat sich die Entführung abgespielt?“
Faith wünschte, sie hätte geschwiegen. „Das ist lange her.“
„Ich will hier nicht wohnen.“
„Ich bin mir sicher, dass Alex bereit ist zu tauschen. Dieses Zimmer ist schöner, und es war nett von ihm, es dir zu überlassen.“
„Sein Zimmer hat einen Zugang zum Dachboden. Das ist der einzige Grund.“
Faith wartete.
„Ich möchte diese Treppe nicht in meinem Zimmer haben. Wer weiß, was sich da oben rumtreibt.“
„Dann musst du wohl oder übel hier bleiben.“
„Du findest das wohl witzig, was?“
Faith lehnte sich an die Wand. „Ich finde, du hast in letzter Zeit viel mitgemacht. Das haben wir alle, und witzig wird es vorerst nicht werden. Aber das heißt nicht, dass wir hier nicht irgendwann glücklich werden können. Diese Möglichkeit besteht durchaus.“
„Ich werde nie wieder glücklich sein.“ Ausnahmsweise klang Remy nicht patzig. Sie war einfach nur traurig.
Faith war gerührt und besorgt, aber sie hütete sich, die Arme um ihre Tochter zu legen. „Ich weiß, dass es sich im Moment so anfühlt.“
„Wie kannst du nur glauben, dass es je wieder besser wird?“
„Weil die allerwichtigsten Dinge in deinem Leben sich nicht verändert haben. Du hast noch immer eine Familie, die dich liebt ...“
„Ich habe keinen Vater.“
„Doch, hast du, und er liebt dich noch genauso wie früher.“
„Ich will ihn nicht wiedersehen. Nie mehr.“
Faith fuhr fort: „Als ich heute unten geputzt habe, hatte ich ein ganz komisches Gefühl. Dieses Haus gehört seit vielen Generationen den Frauen unserer Familie. Sie haben hier gelebt und geliebt.“ Dass einige von ihnen vermutlich auch hier gestorben waren, verschwieg sie lieber. Sie wusste kaum etwas über die Familiengeschichte, denn Lydia hatte Faith nie etwas darüber erzählt.
Aus Remys Blick sprach Skepsis, als Faith fortfuhr: „Ich musste daran denken, dass andere Frauen – Frauen, ohne die es uns gar nicht gäbe – hier wahrscheinlich ebenfalls einen Neuanfang gemacht haben. Wir wissen, dass in diesem Haus eine schreckliche Sache passiert ist, aber von allem anderen haben wir keine Ahnung. Und dabei ist das unser Erbe, deins und meins. Wir sollten mehr darüber in Erfahrung bringen und dieses Haus wieder zu einem glücklichen Heim machen.“
„Gott, wie rührend.“
Faith musste lächeln. „Okay, das war noch nicht sehr überzeugend. Ich will dir die Wahrheit sagen. Manchmal fühle ich mich, als würde ich gleich in die Tiefe stürzen, also kralle ich mich an alles, was mir Halt und Hoffnung gibt.“
Hoffnung war das Stichwort für Remy. „Wie konnte der Entführer mit Hope entkommen? Die Fenster sind so hoch ...“
„Sie haben nie herausgefunden, wie er es gemacht hat. Durch deine Fenster ist er bestimmt nicht verschwunden. Schon gar nicht am helllichten Tag.“
„Das sind nicht meine Fenster.“
„Bist du sicher, dass du nicht auch unsere Nachbarin besuchen willst?“
„Lass mich einfach in Ruhe.“
Faith widerstand dem Verlangen, ihrer Tochter übers Haar zu streichen.
Dottie Lee Fairbanks liebte Rot, leuchtendes orientalisches Rot, und grelle Messing- und Goldtöne, die in den Augen schmerzten. Sie mochte fantastische Drachen- und Schlangenschnitzereien aus Mahagoni und Rosenholz und Möbel, die so ausladend waren, dass sie die Zimmer in ihrem Haus winzig erscheinen ließen. Ihr gefiel alles, was schimmerte und auffällig war, und sie verschmähte offenbar alles Gewöhnliche. Denn in ihrem Haus gab es nichts Gewöhnliches. Rein gar nichts.
„Magst du Hunde?“ fragte sie Alex, als er zur Tür hereinkam.
„Klar. Jeder mag Hunde.“
„Na ja, meinen magst du vielleicht nicht.“ Sie steckte Daumen und Zeigefinger zwischen die Lippen und stieß einen so grellen Pfiff aus, dass Faith sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte.
Auf der Stelle erschien ein winziger Chihuahua und baute sich mit gebleckten Zähnchen vor Alex auf. Der Junge ignorierte das drohende Grollen, ging auf alle viere, bevor Faith ihn zurückhalten konnte, und bellte zurück. Der Hund zog sich einen knappen halben Meter zurück – was angesichts seiner Größe einige Zeit in Anspruch nahm –, setzte sich auf seinen Hintern und betrachtete sein Gegenüber.
„Ein kluges Kind“, meinte Dottie Lee. „Allem Anschein nach habe ich dich richtig eingeschätzt.“
„Hierher, Kleiner“, sagte Alex und streckte die Hand aus. Der Chihuahua zog die Brauen hoch und machte einen Gesichtsausdruck, den Faith nicht für möglich gehalten hätte, wenn sie ihn nicht selbst gesehen hätte.
„Kleine“, verbesserte Dottie Lee ihn. „Nefertiti. Kurz Titi.“
„Hierher, Titi.“
Titi zögerte kurz und schnellte dann in Alex’ Richtung. Er fing das Tierchen auf, klemmte es unter den Arm und stand auf. „Kennen Sie Alec, Dottie Lee?“
„Wenn du Alec den Tonnenmann meinst, ja, natürlich.“
„Alec der Tonnenmann?“ Faith folgte Dottie Lee durch mehrere Jahrhunderte unschätzbarer chinesischer Antiquitäten bis zur Rückseite des Hauses. Dottie Lees Esszimmer erstreckte sich dort über die ganze Breite, die Fenster reichten vom Boden bis zur Decke. Sie hatte eine unverbaute Sicht auf das Kennedy Center und das Watergate Hotel, aber auch auf die atemberaubende Key Bridge. Auch der Esstisch war wuchtig, aber jetzt, da die Wolken sich verzogen hatten, strahlte Tageslicht herein und ließ ihn kaum Furcht einflößend erscheinen. Er wirkte wie ein Löwe, der im Sonnenlicht döst.
„So nennt er sich. Er hat früher in eurem Keller geschlafen, weißt du.“
„Wirklich?“ Alex gesellte sich zu ihnen. Titi hatte die Augen geschlossen, als wäre sie bereits eingeschlafen.
„Dann hat er einen besseren gefunden.“
„Wo?“
„Ich glaube, er schläft jetzt in meinem“, antwortete Dottie Lee. „Nur wenn es kalt ist, natürlich. Solange das Wetter es zulässt, bleibt er lieber im Freien.“
„Wie kommt er rein?“ erkundigte sich Alex.
„Ich lasse ein Fenster unverriegelt. Wir sprechen natürlich nie darüber.“
Faith musste noch damit fertig werden, dass ihr Keller auf die Dauer nicht gut genug gewesen war. „Er hat bestimmt kein leichtes Leben. Er ist kein junger Mann mehr.“
„Er isst gut. Manche der Restaurants auf unserer Straße geben ihm ihre Reste, wenn sie schließen. Am Ende des Studienjahres, wenn die Studenten ausziehen, bekommt er Kleidung. Er ist immer noch stark wie ein Pferd.“
„Warum lebt er so?“ Alex ließ sich in den Esszimmerstuhl fallen, zu dem Dottie Lee ihn dirigiert hatte.
„Er trinkt.“ Dottie Lee bedeutete Faith, auf der anderen Tischseite Platz zu nehmen. „Eine Menge.“
„Oh.“ Alex strich Titi über die Ohren. „Kann er nicht einfach damit aufhören?“
„Hast du das mal versucht, Junge?“
Alex schüttelte den Kopf. „Weiß er, wie schlecht das für ihn ist?“
„Wer wüsste das besser als er?“
Alex dachte nach. „Ich werde unseren Keller in Ordnung bringen.“
Faith wechselte rasch das Thema. „Haben Sie all diese bemerkenswerten Möbel auf Ihren Reisen erworben, Dottie Lee?“
„Nein, kein einziges Stück. Fürs Reisen hatte ich nie etwas übrig. Es gibt sehr wenig auf der Welt, was ich nicht auch hier in der Prospect Street haben könnte. Aber ich war natürlich mit Männern befreundet, die viel reisten. Und die kannten meinen Geschmack.“
Faith hatte den Eindruck, dass sie in Sachen kindertaugliche Gesprächsthemen vom Regen in die Traufe geraten war. „Kann ich beim Auftragen helfen?“
„Mariana bringt uns alles.“ Dottie Lee sank langsam in einen Sessel am Kopf des Tisches und ließ dann eine zierliche Kristallglocke erklingen. Titi wachte schlagartig auf und kläffte in derselben hellen Tonlage.
Eine Verbindungstür wurde geöffnet. Die Frau, die mit einem Bambustablett den Raum betrat, schien nicht wesentlich jünger zu sein als Dottie Lee. Sie war krumm und verschrumpelt, hatte aber einen festen Schritt.
„Früher hat Mariana alles selbst gebacken.“ Dottie Lee nahm eine Teekanne aus schwarzem Porzellan vom Tablett und setzte sie auf ein Rechaud. „Aber jetzt kaufen wir einfach, was wir brauchen. Mariana geht gerne jeden Tag etwas vor die Tür.“
„Ich geh überhaupt nicht gerne“, sagte Mariana mit einem ganz leichten spanischen Akzent. Sie hatte einen eleganten, stahlgrauen Pagenkopf, und der Pony betonte ihre schönen schokoladenbraunen Augen. „Die da will mich nur los sein.“
„Mariana vertritt ihre Ansichten immer so resolut“, meinte Dottie Lee, als träfe das auf sie selbst nicht ebenso gut zu.
Faith hatte Tee und vielleicht ein paar Kekse erwartet. Mit dem Festmahl, das Mariana auf den Tisch brachte, hatte sie nicht gerechnet. Kleine Schnittchen, Scones mit Marmelade und Schlagsahne, Plätzchen. „Das sieht großartig aus. Sind wir nicht Glückspilze?“
„Ihre Mutter hat mich immer zum Tee besucht.“ Dottie Lee nahm einen Servierteller mit aufwändig zugeschnittenen Sandwiches und reichte ihn Alex. „Damals, als sie noch wusste, wer sie war.“
Faith hatte keine Ahnung, was sie darauf entgegnen sollte. Lydia Huston wusste sehr gut, wer sie war. Sie war die Frau von Joe Huston, dem mächtigen Senator aus Virginia.
„Wie kann jemand vergessen, wer er ist? Außer wenn er unter Gedächtnisschwund leidet?“ Alex langte nach den Sandwiches, aber Faith fiel ihm in den Arm.
„Du musst Titi absetzen und dir die Hände waschen.“
Er protestierte. „Sie ist nicht schmutzig.“
„Gewiss nicht“, stimmte Dottie Lee zu. „Aber da wir deine Mutter nicht von ihrem Irrglauben abbringen können, solltest du dir vielleicht trotzdem die Hände waschen.“
Mariana führte ihn aus dem Zimmer. Titi wartete still neben seinem Stuhl.
„Was treibt Lydia so?“ fragte Dottie Lee.
Faith hatte das unangenehme Gefühl, dass Dottie Lee die Antwort bereits kannte.
„Sie hat viel zu tun. Wann immer sie Zeit dafür findet, sammelt sie Spenden.“
„Für vermisste Kinder, nehme ich an?“
„Nein, für meinen Vater. Für die Partei.“ Faith nahm sich mehrere Sandwiches von der Platte.
Dottie Lee reichte ihr anschließend einen Teller mit Scones. „Seltsam, finde ich. Sie nicht?“
„Sie interessiert sich für vieles.“ Aber für nichts leidenschaftlich. Faith bezweifelte, dass ihre Mutter auch nur einen Funken Leidenschaft im Leib hatte. Sie nahm einen Scone, der vor Korinthen platzte, und legte ihn auf ihren Teller.
„Reden wir lieber über Sie“, beschloss Dottie Lee. „Haben Sie schon Pläne für das Haus?“
Faith entschied sich für eine ehrliche Antwort. „Vorerst geht es nur darum, es bewohnbar zu machen. Danach werden wir peu à peu weitersehen. Sie wissen, wie heruntergekommen es ist.“
„Ihre Großmutter würde Ihre Mutter dafür übers Knie legen, wenn sie noch unter uns wäre.“
Faith fiel auf, dass sie wieder bei Lydia angelangt waren. „Kannten Sie meine Großmutter?“
„Ja, sehr gut. Sie sind ihr natürlich nie begegnet.“
„Nein, bei meiner Geburt lebte sie nicht mehr.“
„Sie ist jung gestorben. An Malaria, meine ich.“
„Ich glaube, ja.“ Faith war überrascht, dass sie es nicht mit Bestimmtheit sagen konnte. Die Vergangenheit war bei den Hustons nie ein beliebtes Thema gewesen.
„Sie sollten Ihre Mutter bitten, Ihnen von Millicent zu erzählen“, fuhr Dottie Lee fort. „Ihre Großmutter war eine Frau mit vielen Talenten.“
Alex kam zurück.
„Solange deine Mutter hinschaut, wirst du Titi nichts von deinem Teller geben.“ Dottie Lee reichte ihm Marmelade und Butter.
Alex lud sich genug Marmelade auf den Teller, um bei einem Diabetiker einen Zuckerschock auszulösen. „Wer sind die vielen Männer im Flur? Sie sehen wichtig aus. Vielleicht sogar berühmt.“
Faith blickte auf. Dottie Lee zeigte wieder ihr umwerfendes Lächeln, und plötzlich begriff Faith, was ihre Mutter gemeint hatte, als sie sagte, Dottie Lee sei nicht der rechte Umgang.
„Dottie Lee hat mir gerade von deiner Urgroßmutter berichtet“, beeilte Faith sich zu erklären.
„Hat sie in unserem Haus gelebt?“ Alex sprach mit vollem Mund, spuckte aber immerhin keine Krümel.
„Viele Jahre, aber nicht als Erwachsene. Sie ist hier geboren worden, einige Jahre vor mir. In genau dem Zimmer, in das jetzt sicher deine Mutter ziehen wird. Nachdem sie Harold geheiratet hatte, zog Millicent natürlich fort. Ihre Eltern wohnten weiter nebenan, bis sie starben, und kurz darauf sind deine Großeltern eingezogen.“
Faith’ Neugier war geweckt. „Dann müssen Sie auch meine Urgroßeltern gekannt haben. Zumindest ein bisschen.“
„Meine Liebe, ich bin eine unerschöpfliche Informationsquelle. Als Kind habe ich auf Violets Knien gesessen, und sie hat mir das Abc beigebracht. Auch auf dem Schoß ihrer Mutter habe ich viele glückliche Stunden verbracht. Candace war für mich wie eine Großmutter.“
Faith konnte es kaum fassen, dass die Verwandten, die sie nur dem Namen nach kannte, für Dottie Lee Personen aus Fleisch und Blut waren. „Ich hoffe, Sie erzählen mir etwas über sie.“
„Alles zu seiner Zeit.“ Dottie Lee biss in ein Gurkensandwich und kaute gedankenverloren. „Eines verrate ich Ihnen jetzt, denn jeder Mensch braucht eine Überraschung im Leben. Etwas Spannendes.“ Sie schaute Alex an und runzelte die Stirn. „Alex Bronson, braucht deine Mutter etwas Spannendes?“
„Zählt die Entführung ihrer Schwester nicht?“
„Doch, selbstverständlich. Aber ich hatte eher an etwas Aufbauendes gedacht.“
Mariana kam mit einer zweiten Kanne Tee herein. „Hör auf, hier herumzuwirbeln, und setz dich“, befahl Dottie Lee.
Mariana brummte etwas, gehorchte aber. Dottie Lee reichte ihr die Platten, sodass sie zugreifen konnte.
Faith war froh, dass Mariana sich zu ihnen gesellte. Sie fühlte sich stets unwohl, wenn sie bedient wurde.
„Sorry, aber im Augenblick vertrage ich Spannung nur, wenn sie zwischen zwei Buchdeckeln steckt.“
„Sie sind mit dem Gefühl groß geworden, dass es nur unangenehme Überraschungen gibt.“ Dottie Lee goss Sahne in Marianas Tee. „Solche haben Sie genug erlebt, und niemand hat Ihnen beigebracht, dass auch mal unverhofft etwas Erfreuliches passieren kann. Aber ich werde es Ihnen beweisen: Ich gehe wohl recht in der Annahme, dass Sie den Umzug in die Prospect Street als Abstieg betrachten?“
Faith widersprach ihr nicht.
„Andere waren stolz auf das Haus“, fuhr Dottie Lee fort. „Und die Beweise dafür sind noch vorhanden, nur eben gut versteckt.“
Alex’ Augen glänzten. Er hatte Dutzende von Detektivgeschichten verschlungen und glaubte, seinen Helden ebenbürtig zu sein. „Können Sie uns noch mehr Tipps geben?“
„Ich könnte, aber ich tu’s nicht. So musst du mich nämlich öfter mal besuchen kommen, Alex Bronson. Vielleicht rutscht mir ja mal ein Hinweis raus, wenn ich nicht auf der Hut bin. Du wärst überrascht, was ich alles weiß.“
Faith freute sich über Alex’ und Dottie Lees Geplauder. Endlich war ihr Sohn einem Menschen begegnet, der ihn ebenso entzückend fand wie sie. Zugleich machte es sie traurig, dass das nicht schon früher geschehen war, und zwar in den Reihen ihrer Familie.
Dottie Lee blickte auf, als hätte sie Faith’ Gedanken gelesen. „Ihre Tochter sieht der jungen Lydia erstaunlich ähnlich, aber charakterlich kommt dieser junge Mann hier ganz nach Ihrer Mutter.“
Faith musste sehr ungläubig geschaut haben, denn Dottie Lee gab ein kehliges Lachen von sich. „Spreche ich wieder in Rätseln? Wie schön, meine Liebe. Hoffen wir, dass ich lang genug lebe, um Ihnen alles zu erzählen, was ich weiß.“
Als wollte sie das Schicksal herausfordern, bestrich Dottie Lee noch einen Scone mit Schlagsahne und hob ihn hoch wie zu einem Toast.