12. KAPITEL

Als Remy ihre Entschuldigungen und Ausreden heruntergebetet hatte, musste sich Faith sehr beherrschen, um ruhig zu klingen. Das Adrenalin, das durch ihre Adern strömte, hätte für eine achtstündige Standpauke gereicht.

„Du wolltest bloß spazieren gehen? Das ist alles? Hast du nicht daran gedacht, dass ich mir Sorgen machen würde?“

Remy warf einen Blick auf ihre Fingernägel. „Mir war nicht klar, dass du so durchdrehen würdest. Was ist schon dabei? Du hast mich hierher verpflanzt. Da werde ich mich doch wohl ein bisschen in Georgetown umschauen dürfen.“

„Du bist vierzehn, nicht vierzig. Und selbst wenn du älter wärst, würde ich erwarten, dass du mich informierst, wo du steckst. So wie es bei Leuten, die zusammenleben, üblich ist.“

Remy sah auf. „Oh? Du meinst, so wie Daddy dich immer über alles informiert hat? Du wusstest in jedem Augenblick, wo er war? Pah!“

„Geh bitte auf dein Zimmer. Und bleib da.“

„Wow, dann muss ich wenigstens deine blöden Belehrungen nicht länger ertragen. Was für eine Strafe.“ Remy lief die Treppe hoch und knallte ihre Tür heftig genug zu, um ein weniger robustes Haus in seinen Grundfesten zu erschüttern.

„Du lässt dir von diesem Kind zu viel gefallen“, sagte Lydia, die diese Auseinandersetzung mit angehört hatte. Marley war klugerweise mit Alex in seinem Zimmer verschwunden, um ihn aus der Schusslinie zu halten.

Faith ließ sich aufs Sofa sinken und schlug die Hände vors Gesicht. „Was verstehst du schon davon?“

„Was?“

„Ich meine, wie willst du das beurteilen? Du hast keinerlei Erfahrung mit einem derartigen Verhalten, Mutter. Ich habe immer gehorcht. Und im Augenblick kommt es mir nicht so vor, als hätte mir das sonderlich gut getan. Deshalb werde ich Remy anders erziehen.“

Lydia setzte sich neben sie. „Versuchst du mir die Schuld für das entsetzliche Benehmen deiner Tochter in die Schuhe zu schieben?“

„Mir gefällt auch nicht, wie sie sich aufführt. Aber hast du den Eindruck, dass ich dich dafür verantwortlich mache?“

„Natürlich nicht, aber ...“

„Ich werde meiner Tochter nicht beibringen, aus Respekt vor Gott und dem Vaterland jeden Gedanken und jedes Gefühl zu unterdrücken. So hast du mich erzogen, und ich werde deine Fehler nicht wiederholen.“

Lydias Nasenflügel blähten sich vor Entrüstung. „Tut mir Leid, ich wusste nicht, dass ich dich so unterjocht habe.“

„Ich hatte als Kind immer das Gefühl, kein Wort herauszubekommen, wenn wir uns unterhielten. Das habe ich immer noch.“

„Also, im Augenblick redest du eine ganze Menge.“

„Wie kommt es eigentlich, dass wir jetzt über dich und mich sprechen? Als ob ich nicht schon genug um die Ohren hätte.“

Der pikierte Blick ihrer Mutter fuhr ihr bis ins Mark, aber sie weigerte sich, einen Rückzieher zu machen.

„Hast du wirklich das Gefühl gehabt, perfekt sein zu müssen?“ fragte Lydia schließlich.

„Denk doch mal nach. Ich war die Tochter eines Mannes, der sich schon für Familienwerte engagierte, als es das Wort noch gar nicht gab. Ich war diejenige, die man nicht aus der Wiege gestohlen hatte. Ich musste so gut sein, dass es für zwei Kinder reichte.“

Lydia lehnte sich zurück und starrte die Wand an. „Womöglich wünschst du dir, Hope wäre nicht gekidnappt worden, damit du die Bürde, meine Tochter zu sein, mit jemandem teilen könntest.“

„Nein, ich wünsche mir, Hope wäre nicht gekidnappt worden, weil du dann nicht so distanziert wärst.“

„Distanziert?“

„Dieses Gespräch führt doch zu nichts.“

„Ich war distanziert?“

„Du bist distanziert. Und tu nicht so, als wüsstest du das nicht.

Du willst niemandem näher kommen als unbedingt nötig.“

„Ich verstehe gar nicht, wie du eine so grauenvolle Kindheit durchstehen konntest.“

„Was hättest du getan, wenn ich mich so benommen hätte wie Remy heute Nachmittag?“ Lydia schwieg. Faith vermutete, dass ihre Mutter wirklich nicht wusste, wie sie reagiert hätte. Etwas ruhiger fuhr Faith fort: „Mit Remy muss ich vorsichtig sein. Mit beiden Kindern. Ich selbst kann einiges aushalten, aber die zwei tun mir so Leid. Remy ist völlig durch den Wind, und Alex versucht Davids Rolle zu übernehmen. Aber er ist nicht mal zwölf. Er sollte sich nicht um mich kümmern. Das Kümmern ist mein Job.“

„Also, selbst aus meiner immensen Distanz heraus erkenne ich, dass du Alex unterschätzt.“

Dass ihre Mutter ihr in dieser Lage wirklich zu helfen versuchte, stufte Faith als positives Zeichen ein. Immerhin spulte Lydia nicht wie sonst die üblichen Phrasen ab. Und eigentlich hätten die Dinge, die sie einander nun an den Kopf warfen, schon vor Jahren gesagt werden müssen.

Lydia ergriff erneut das Wort: „Remy muss sich wahrscheinlich wirklich einiges von der Seele reden. Das ist verständlich. Dennoch darfst du nicht zulassen, dass sie so mit dir umspringt. Das ist ein Zeichen von Geringschätzung.“

„Ich denke schon, dass sie mich respektiert. In ihrem Innersten ...“

„Ich spreche nicht von Remy. Mir geht es um dich, Faith. Um deine Selbstachtung. Seit du das mit David herausgefunden hast, hast du bewiesen, dass du eine Menge davon besitzt. Aber davon hat deine Tochter nichts mitbekommen.“

Faith war immer noch zu erschüttert über Remys Verschwinden, um wirklich klar denken zu können. Daher war sie sich nicht sicher, ob sie richtig lag, als sie aus Lydias Kritik so etwas wie ein verkapptes Kompliment heraushörte.

Sie erzählte ihr etwas, was sie eigentlich für sich hatte behalten wollen. „Ich habe David angerufen, um ihn über Remys Verschwinden zu informieren. Aber Ham ging an den Apparat.“

„Reizend. Hast du ihm mitgeteilt, mit wie viel Weichspüler er Davids Unterhosen waschen soll?“

Faith konnte nicht anders, sie musste lachen.

Auch Lydia lächelte. „Ich kann richtig gemein werden. Du durchschaust mich nicht halb so gut, wie du meinst.“

Faith ergriff Lydias Hand. „Nicht, dass ich es nicht versucht hätte, dich kennen zu lernen.“

Ihre Mutter erwiderte den Händedruck nicht, zog ihre Hand aber auch nicht weg. „Ich habe mich mit meiner Mutter gut verstanden. Irgendwann wirst du dich auch mit Remy wieder verstehen.“ Den nächsten Satz äußerte sie nicht. Er hätte lauten sollen: Vielleicht werden auch wir beide eines Tages gut miteinander auskommen.

Faith spürte, dass sie so weit gekommen waren, wie es ihnen derzeit möglich war. „Ham meinte, er würde David so schnell wie möglich verständigen. Er hat mir einen kleinen Vortrag darüber gehalten, dass David schließlich Remys Vater ist. Als ob ich das nicht wüsste.“

„Na, dank ihrer Rückkehr bleibt uns immerhin sein Besuch erspart.“

Wie in einem Broadway-Stück klopfte es auf dieses Stichwort hin an die Haustür. „Du hast ihm doch wohl Entwarnung gegeben?“ fragte Lydia.

„Ich hab’s ihm auf den Anrufbeantworter gesprochen.“ Faith stand auf. „Ich hoffe, er hat die Nachricht abgehört.“

Als sie zum Fenster hinausschaute, wusste sie, dass er es nicht getan hatte. Sie öffnete die Tür und baute sich steif im Rahmen auf, sodass er nicht eintreten konnte. „Du hättest deine Anrufe abhören sollen. Sie ist wieder da.“

Die Sorgenfalten wichen von seiner Stirn. „Wo war sie?“

„Sie behauptet, sie sei spazieren gegangen, aber sie war vom Frühstück bis jetzt eben weg. Das ist ein langer Spaziergang.“

„Und warum hast du mich dann nicht früher informiert?“

„Wir haben erst gegen Mittag gemerkt, dass sie weg war.“

„Du hattest keine Ahnung, dass sie weg war?“

Faith hörte das Entsetzen in seiner Stimme – und noch etwas. Einen Vorwurf. Sie giftete ihn an: „Nein, David. Ich habe hier noch keine Überwachungskamera installiert.“

„Ich will dir nichts vorwerfen, Faith, aber wo dachtest du, dass sie steckt?“

„Oben in ihrem Schlafzimmer, hinter verschlossenen Türen. Wo Teenager eben die meiste Zeit stecken.“

„Und du hast nicht nach ihr gesehen?“

„Ich habe nie einen Grund gehabt, sie zu kontrollieren. Und ich hoffe, das wird auch so bleiben.“

„Was sie da gemacht hat, ist keine Kleinigkeit. Es muss doch Warnzeichen gegeben haben ...“

„Wenn du den Grund für ihr merkwürdiges Verhalten suchst, geh doch bitte in die Gästetoilette und guck in den Spiegel.“

Dafür kannst du mir nicht die Verantwortung zuschieben.“

Sie machte sich mit einer Drohung Luft. „David, du hast das Recht verwirkt, mir zu erklären, wie ich Remy erziehen soll. Du bist freiwillig aus dieser Familie ausgeschieden, und ich werde nicht dulden, dass du mir aus sicherer Entfernung vorschreibst, wie ich mit den Kindern umzugehen habe. Du hast keine Ahnung, wie Teenager so sind.“ Sie musste nicht hinzufügen, dass er es wahrscheinlich auch nie in Erfahrung bringen würde. Das wusste er selbst nur zu gut.

Eine ganze Weile schwieg er, aber als er wieder das Wort ergriff, klang seine Stimme sanfter. „Du scheinst sehr verzweifelt gewesen zu sein. Ich war auch verzweifelt und habe mich hilflos gefühlt. Das hat wohl ziemlich an unseren Nerven gezerrt.“

Zitternd atmete sie einmal kräftig aus und entschied sich dann, ihn hereinzubitten.

Davids Blick fiel auf Lydia, die noch auf dem Sofa saß. „Ein andermal vielleicht.“ Er wollte sich schon abwenden, aber sie berührte seinen Arm – gerade lang genug, um ihn innehalten zu lassen.

„Alex ist oben. Warum gehst du nicht hoch und sagst Hallo? Marley hilft ihm beim Auspacken. Vielleicht würde er gerne mit dir irgendwo ein Eis essen.“ Sie schaute kurz auf die Uhr. „Besser ihr esst gleich etwas Anständiges, wie’s aussieht. Er dürfte froh sein, wenn er hier eine Weile rauskommt.“

In Davids Augen schimmerte Hoffnung. „Und Remy?“

„Remy hat heute Nachmittag Hausarrest.“

„Gut so.“

Sie wollte ihn daran erinnern, dass sie seinen Segen nicht brauchte, aber irgendwie kamen ihr die Worte nicht recht über die Lippen. Vermutlich, weil sie daran zweifelte, ob sie stimmten. Auch wenn er bald ihr Exmann war, hatte sie trotz ihrer scharfen Kritik an ihm den Verdacht, dass Davids Meinung ihr auch künftig wichtig sein würde.

Sie senkte die Stimme. „Ich wünschte, du hättest mich einfach misshandelt, David. Mich im Keller eingesperrt oder mein Erbe versoffen. Dann könnte ich dich hassen.“

„Ich glaube nicht, dass du hassen kannst.“

„Vielleicht bin ich in der Lage, mich genauso gut zu verstellen, wie du es getan hast.“

„Es dürfte dir schwer fallen, mit mir mitzuhalten.“

Vielleicht suchte er Trost, aber sie war noch nicht so weit, ihn ihm zu spenden. Stattdessen trat sie beiseite und ließ ihn hinein. „Alex’ Zimmer ist das gleich neben der Treppe.“

Er schaute sich kurz um und nickte Lydia zu, wohlweislich ohne etwas zu sagen. „Die Grundsubstanz des Hauses ist gut, Faith.“

„Das und eine unerschöpfliche Geldquelle werden ein Schmuckstück daraus machen.“

„Ich habe vielleicht eine Stelle in Aussicht.“

„Wie stehen die Chancen?“

Er zuckte mit den Schultern. „Eins zu hundert.“

„Na, das ist doch immerhin schon eine kleine Verbesserung.“

„Ich bemühe mich wirklich. Bald werde ich im Stande sein, dir mehr Geld zu geben. Vielleicht wirst du dieses Haus schon bald auf Vordermann bringen können, ohne dich selbst kaputtzumachen.“

Sie bezweifelte nicht, dass er sich bemühte oder dass er ihnen helfen wollte. Aber es war fraglich, ob die Menschen in den politischen Kreisen, in denen er sich bewegt hatte, ihm je vergeben würden. „Geh und hol Alex herunter! Oder soll ich es tun?“

„Nein, ich möchte sein Zimmer sehen.“

„Frag ihn, ob er dir die Kätzchen zeigt.“

„Kätzchen?“

„Er wird es dir erklären.“ Faith blickte David nach, als er nach oben verschwand. Sie hörte Alex’ Tür klappen und leise Stimmen. Einen Augenblick später kam Marley nach unten.

„Du willst, dass er und Mr. David was zusammen unternehmen, was?“ fragte sie.

Faith hoffte, dass dies tatsächlich ihr Wunsch war. Sie wollte das, was für ihren Sohn das Beste war.

„Ein Junge braucht seinen Vater.“

Sie vernahm erneut eine Tür und Schritte in Richtung Speicher. Alex führte seinen Vater zu den Kätzchen.

David ging mit Alex zu „Johnny Rocket’s“, einem nostalgisch im Fünfziger-Jahre-Look eingerichteten Diner. Er vermutete, dass er mit Hamburger und Milchshake nicht verkehrt lag. Auch wenn Alex jetzt in der Hauptstadt der Multi-Kulti-Cuisine wohnte, würde ihm amerikanisches Fastfood wohl vermutlich noch immer schmecken.

„Möchtest du einen Rocket Double?“ David klang, als spräche er mit einem Fremden. Früher hatte er seinen Sohn nie von sich aus gefragt, was dieser wollte. Alex hatte immer erst an seinem Ärmel zupfen oder direkt vor seiner Nase mit der Hand wedeln müssen.

Alex nahm die Speisekarte kaum wahr. „Ich weiß nicht. Was ist das?“

„Ein doppelter Burger mit Käse. Soll ich ihnen sagen, dass sie die Tomate weglassen sollen?“

„Ja.“

David legte die Speisekarte hin. „Ein Schoko-Shake?“

„Hm-m.“

„Ich bestelle dasselbe.“ Er hatte leichte Gewissensbisse, weil Ham überzeugter Vegetarier war, aber David spürte seit Wochen ein heimliches Verlangen nach Rindfleisch.

Alex ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. David beobachtete, wie sein Sohn auf das blitzende Chrom, die roten Polsterbänke und weißen Uniformen der Bedienung reagierte. Alex war viel zu jung, um solche Diners noch zu kennen. Selbst David konnte sich kaum an diese Zeit erinnern. Aber er wusste noch, dass er einmal nach einem Erweckungsgottesdienst in einem winzigen Städtchen in Georgia mit seinem Vater in einem Laden gewesen war, der fast genauso ausgesehen hatte. Arnold Bronson hatte an jenem Abend so viele Seelen gerettet, dass er ein wenig feiern wollte.

Feiern waren in seiner Kindheit eine Seltenheit gewesen, deshalb konnte David sich an diese so gut erinnern. Sein Vater hatte sich viel mehr um verlorene Seelen gesorgt als um die, die er hätte retten können. Er hatte hohe Erwartungen in David gesetzt, aber sich selbst sogar noch mehr abverlangt. Er hatte die Welt auf die Wiederkunft Christi vorbereiten und alle Sünden vertreiben wollen. Auf dem Sterbebett hatte er David angefleht, sein Nachfolger zu werden.

Jetzt musste Arnold in seinem Grab rotieren.

David winkte eine Kellnerin heran und gab die Bestellung auf, die er um eine Schale Pommes frites mit Chilipulver ergänzte, mit denen er Alex zu begeistern hoffte.

Sobald die Serviererin gegangen war, versuchte er ein unverfängliches Thema anzuschlagen. „Was willst du mit deinem Zimmer anfangen?“

„Weiß nicht.“

David unternahm einen erneuten Anlauf. „Der Dachboden ist groß genug, um richtig was daraus zu machen.“

„Ja.“

„Es ist schwer für dich, hm?“

Alex blickte auf. „Was?“

„Alles. Die ganze Chose. Ich. Deine Mom. Remy. In der Prospect Street wohnen. Die neue Schule.“

„Denk schon.“

Sie schwiegen sich an und trauten sich nicht, einander anzuschauen. Dann seufzte David. „Alex, was da abgelaufen ist, lässt sich schwer erklären.“

„Du sollst es mir gar nicht erklären.“

Wieder schwiegen sie.

„Tja, aber mir bleibt nichts anderes übrig“, sagte David. „Ob du nun willst oder nicht und ob ich die richtigen Worte finde oder nicht. Ein paar Dinge musst du einfach wissen.“

„Nein.“ Alex blickte auf. In seinen Augen flackerte Wut. „Das ist krank. Ich möchte davon nichts hören.“

David hatte das Gefühl, dass er sich keinen schlechteren Zeitpunkt hätte aussuchen können, um seine Kinder über seine sexuellen Neigungen aufzuklären. In ihrem Alter taten sich selbst Heranwachsende mit heterosexuellen Eltern schon schwer genug mit dem Thema. Einen schwulen Vater zu haben, der sich erst so spät zu seiner Veranlagung bekannte, musste um Klassen schlimmer sein.

„Ich werde dir nichts erklären, was du nicht wissen willst, aber du musst verstehen, dass ich es mir nicht ausgesucht habe, Alex. Ich habe mich nur entschieden, mir selbst und allen anderen gegenüber ehrlich zu sein. Aber ich bin immer noch ich. Ich bin der Dad, der ich immer war, außer dass ich dir jetzt zum ersten Mal in einem bestimmten Punkt die Wahrheit sage.“

„Vielleicht hättest du uns besser einfach weiter etwas vormachen sollen.“

„Das wäre in mancher Hinsicht einfacher gewesen.“

„Warum hast du’s dann nicht getan?“

Warum hatte er sich nicht entschieden, ein Doppelleben zu führen? Mit Faith den Schein gewahrt und hinter ihrem Rücken seine andere Seite ausgelebt? Er seufzte erneut. „Um ehrlich zu sein, ich dachte wohl, es sei wichtiger, aufrichtig zu sein.“

„Du hast Mom wehgetan. Du hast die ganzen Jahre mit ihr zusammengelebt, ohne sie zu lieben.“

„Ich habe sie immer geliebt. Ich glaube, ich liebe sie noch immer, nur auf andere Weise. Ich weiß, wie schwer das zu begreifen ist. Aber irgendwann wirst du es verstehen.“

„Ich? Ich bin nicht wie du!“ Alex rutschte auf der Bank zur Seite, als wolle er abhauen.

David hielt ihn am Arm fest. „Alex, so habe ich das nicht gemeint. Einen schwulen Vater zu haben heißt doch nicht, dass man selbst schwul ist. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Mach dir da keine Gedanken. Ich habe ausdrücken wollen, dass du es eines Tages, wenn du dich in ein Mädchen verliebst, verstehen wirst.“

Alex schüttelte Davids Hand ab, blieb aber sitzen. „Ich möchte nicht mehr darüber reden.“

Damit konnte David leben; das Wichtigste war ohnehin gesagt. „Komm wieder her und erzähl mir, was du gerade mit deinem Computer anstellst. Sieht so aus, als hättest du ein paar Änderungen vorgenommen.“

Alex rutschte zurück in die Ecke. „Die dir nicht gefallen dürften.“

„Verrat’s mir.“

„Ich habe die Sperren umgangen.“

„Du hast Recht, das passt mir gar nicht.“ Und vor allem ärgerte es ihn, dass Faith nichts dagegen unternahm.

„Was wirst du tun?“ fragte Alex.

Früher hätte David Alex vor die Wahl gestellt, die Zugangsbeschränkungen entweder wiederherzustellen oder den Computer abzugeben. In der guten alten Zeit, vor nur wenigen Monaten, als er noch zu wissen glaubte, was richtig und was falsch ist.

David zuckte mit den Achseln. „Ich muss wohl einfach an deine Vernunft appellieren. Vergiss nicht, dass ein Computer nur eine Maschine ist. Da draußen wartet eine ganze Welt darauf, von dir entdeckt zu werden, und du wirst sie nicht kennen lernen, wenn du den ganzen Tag vor dem Bildschirm hockst.“

„Ich kann jetzt im ganzen Internet surfen und mir nicht nur die paar Seiten anschauen, die du für mich freigeschaltet hast.“

„Können wir uns darauf verlassen, dass du keine Seiten besuchst, auf denen du nichts zu suchen hast?“

Alex zog eine Grimasse. „Solche Ermahnungen hat es früher nicht gegeben. Aber nur weil mir keiner zugetraut hat, selbst zu entscheiden, was gut für mich ist und was nicht.“

David dachte an all die Dinge, von denen er seine Kinder so krampfhaft abzuschirmen versucht hatte. Und mit denen sie früher oder später doch konfrontiert worden wären. „Mach einfach keinen Blödsinn.“ David räusperte sich. „Benutze den Grips, den Gott dir geschenkt hat.“

Zum ersten Mal seit ihrem Wiedersehen lächelte Alex.