3. KAPITEL
Das Reihenhaus in der Prospect Street war im modifizierten Federal-Stil aus rotem Backstein gebaut – aber diese Klassifizierung wurde ihm nicht gerecht. Es war gut ein Jahrhundert alt, hatte wechselnde politische Verhältnisse überlebt und lehnte sich behaglich an seine Nachbarn – wie eine alte Dame der besseren Gesellschaft, die sich nur unter ihresgleichen im Frauen-Club so richtig wohl fühlt.
Auf Faith übte das Haus eine dunkle Anziehungskraft aus. Sie war selten hier gewesen, aber jeder Besuch hatte einen bleibenden Eindruck hinterlassen. In ihrer Kindheit waren ihr die Decken so hoch wie Wolken erschienen. Als Teenager war ihr dieses Denkmal der Tragödie, die ihre Familie heimgesucht und sie selbst ein für alle Mal „anders“ gemacht hatte, unangenehm gewesen. Als junge Mutter hatte sie mit ihren Kindern stets einen großen Bogen um Georgetown gemacht, da sie nicht daran erinnert werden wollte, dass man letzten Endes herzlich wenig Kontrolle über das Schicksal seiner Liebsten besaß.
„Ich bin schon sehr lange nicht mehr in der Prospect Street gewesen“, erklärte Faith ihrer Mutter, die zum Glück nur anderthalb Blocks vom Haus entfernt eine Parklücke gefunden hatte und den Wagen nun hineinmanövrierte.
„Du hattest auch keinen Grund.“
„Alex und Remy kennen es noch gar nicht von innen, oder?“ Sie sah ihren Sohn und ihre Tochter an und versuchte, vergnügt zu klingen. Remy verdrehte die Augen. Alex’ Miene hellte sich bei der Aussicht, dem Auto für eine Weile zu entkommen, allmählich auf.
„Darf ich schon aussteigen?“ wollte er wissen.
Faith überraschte die Frage ihres Sohnes, und sie verbuchte sie als eines der wenigen guten Zeichen dieses Tages. „Wenn du in unserer Nähe bleibst. Keine Expeditionen!“ Sie zuckte zusammen, als seine Autotür über den Bordstein schabte.
„Ich gehe nicht mit rein“, sagte Remy. „Ich muss Megan anrufen. Kann ich dein Handy haben?“
„Darf ich“, verbesserte Lydia sie. „Und du wirst mit hineinkommen, Remy. Ich will nicht, dass du hier alleine herumhockst. Wir sind in der Stadt, und hier sitzen hübsche Mädchen nicht allein in Autos und warten auf Gott-weiß-wen.“
Faith war eigentlich anderer Meinung. Georgetown wurde von weit weniger Verbrechen heimgesucht als die Innenstadt von Washington, und es liefen so viele Leute die Prospect Street entlang, dass ein Schwerverbrechen am helllichten Tag sehr unwahrscheinlich zu sein schien.
Sie versuchte zwischen Lydia und Remy zu vermitteln. „Sobald wir drinnen sind, bekommst du das Handy. Oder du setzt dich auf die Eingangstreppe, wenn deine Großmutter damit einverstanden ist.“
„Sie wird mit uns zusammen hineingehen.“ Lydia öffnete die Fahrertür und lief auf das Haus zu.
„Warum müssen wir immer nach ihrer Pfeife tanzen?“ fragte Remy ihre Mutter.
„Remy, werde bitte nicht unhöflich.“
„Ach, wozu rede ich eigentlich noch mit dir?“
Das fragte Faith sich manchmal selbst. „Das ist das Haus deiner Großmutter, und das ist das Auto deiner Großmutter. Und du wirst dich jetzt benehmen.“
Als sie über den Bürgersteig zu ihrer Mutter und ihrem Sohn lief, schaukelte Alex an einem Ast, der nicht so wirkte, als ob er das lange aushalten würde. Lydia befahl ihrem Enkel aufzuhören, und er preschte über den unebenen, mit Ziegelsteinen gepflasterten Gehsteig. Vor einem niedrigen Eisenzaun blieb er abrupt stehen. „Seht mal, hier wachsen Blumen zwischen den Steinen.“ Er kniete sich hin und riss Pusteblumen aus.
„Lass ihn doch, Mutter“, meinte Faith, bevor Lydia etwas sagen konnte. „Er tut dem Besitzer doch einen Gefallen.“
„Er kann sich keine zehn Sekunden still verhalten.“
„Er ist ein Junge. Jungs müssen rennen und springen. Mädchen eigentlich auch, aber uns gewöhnt man das leider ziemlich schnell ab.“
„Ich nehme an, damit willst du dich über meine Erziehungsmethoden beschweren.“
„Nein, es sollte eher eine Art Gesellschaftskritik sein.“ Faith schaute zu, wie die Tochter, die sie erzog, langsam aus dem Auto stieg. Remy war das genaue Gegenteil ihres Bruders: gelassen, höflich und auf einen guten Eindruck bedacht. Zumindest hatte sie sich immer so verhalten, bis ihre Welt zerbrochen war.
„Megan ist wahrscheinlich eh schon weg“, sagte Remy. „Wahrscheinlich hat sie Jennifer Logan gefragt, ob sie mit ins Kino will, weil ich nicht da bin.“
Megan wohnte im selben Häuserblock wie sie und war seit der Vorschulzeit Remys beste Freundin. In vieler Hinsicht würde der Umzug für Remy am schwierigsten werden, da sie aus einem Freundeskreis gerissen wurde, der der Mittelpunkt ihres Lebens gewesen war.
Faith versuchte sie zu trösten. „Vielleicht kann sie ja die Nacht bei uns verbringen. Wenn du sie anrufst, frag sie. Wir können Pizza bestellen.“
„Niemand hat noch Lust, uns zu besuchen.“
„Frag sie trotzdem.“ Faith war überrascht, wie streng sie klang.
„Wir leben nicht mehr lange hier. Ihr habt nicht mehr viele Gelegenheiten, euch zu sehen.“
„Na und? Sie wird sowieso nicht den weiten Weg nach Great Falls auf sich nehmen, nur um mich nach der Schule zu besuchen. Sobald ich wegziehe, ist unsere Freundschaft vorbei.“
Zu einer längeren Debatte fehlte Faith die Kraft. „Komm schon, Alex.“
Er hielt zahlreiche Pusteblumen in den schmutzigen Händen und stand auf. Während er mit Mutter und Großmutter auf das Haus zuging, schnippte er die flauschigen Köpfe mit dem Zeigefinger ab und zielte dabei auf Remy, die hinter ihnen her zockelte.
„Hör auf, Alex!“ rief Remy. „Mom, siehst du, was er macht?“
Faith schaute Alex an und schüttelte den Kopf. Er grinste, warf die kläglichen Überreste der Pusteblumen fort und klopfte sich triumphierend den Dreck von den Händen. Remy holte auf und schubste ihn, aber er fiel nicht hin.
Lydia verkniff sich jeglichen Kommentar, aber ihre Lippen bildeten eine gerade, dünne Linie.
Die Familie lief an einem Reihenhaus nach dem anderen vorbei; alle waren im selben Stil erbaut wie das von Lydia. Die Prospect Street ging von der Wisconsin Avenue mit ihren schicken Läden und teuren Restaurants ab und erstreckte sich bis zur Georgetown-Universität, wo sie nur noch reines Wohngebiet war. Bei vielen Anwesen handelte es sich um historische, kunstvolle Gebäude, die durch riesige Bäume und hohe Ziegelmauern von der Straße abgeschirmt waren. Andere Häuser, die man an Studenten und junge Akademiker vermietet hatte, wirkten etwas bescheidener. Diese Bauten standen so nah am Gehsteig, dass man die aufragenden Frontmauern – ebenso wie die Lebensgeschichten ihrer ehemaligen Bewohner – mit Händen greifen zu können glaubte.
In Georgetown zu wohnen galt als vornehm. Viele Eigentümer, die nicht selbst hier lebten, setzten – wie Lydia – vor allem auf den guten Ruf des Viertels und nicht auf sorgsame Restaurierung und Instandhaltung. Der Putz eines der Häuser, an denen sie vorbeiliefen, hätte dringend einen Anstrich benötigt. Der kaum handtuchgroße Vorgarten eines anderen war derart mit abgestorbenem Strauchwerk überwuchert, dass nur noch eine Kettensäge half.
„Ich sollte die Vermietungsgesellschaft verklagen.“ Lydia stemmte die Hände in die Hüfte und starrte auf das Haus, dessentwegen sie gekommen waren.
Auch Faith blieb stehen. Obwohl sie nie hier gelebt hatte, schämte sie sich.
Vom Nachbarhaus drang eine Frauenstimme zu ihnen herüber. „Es wird Zeit, dass du dir das mal ansiehst, Lyddy. Bevor die Stadt es für unbewohnbar erklärt.“
Faith bemerkte, wie Lydia neben ihr erstarrte, und drehte sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Es dauerte eine Weile, bis sie die dazugehörige Person ausfindig gemacht hatte. Die Frau stand an einem der hohen Fenster im ersten Stock, hinter einem Eisengeländer. Sie wirkte so alt wie ein Richter am Obersten Bundesgericht und so schamlos wie gewisse Praktikantinnen im Weißen Haus. Obwohl es schon Nachmittag war, trug sie einen knallbunten Morgenrock über ihrem Nachthemd – zumindest hoffte Faith, dass die Frau ein Nachthemd anhatte – und auf dem Kopf einen farblich passenden Turban.
„Beachte sie nicht“, murmelte Lydia. „Sie gehört zu der Art von Frauen, die man seinen Kindern besser nicht vorstellt.“
Mit lauterer Stimme fuhr sie fort, als hätte sie die Nachbarin überhaupt nicht gehört: „Ich werde die Vermietungsgesellschaft verklagen. Das ist eine Schande. Sie haben die Verantwortung übernommen, und mir hat keiner etwas gesagt.“
Als die Frau vom Fenster verschwand, wandte Faith ihre Aufmerksamkeit zögerlich wieder dem Haus zu. „Wann bist du zum letzten Mal hier gewesen?“
„Seit damals? Nie mehr. Warum sollte ich? Ich habe diese Leute mit der Verwaltung betraut. Hast du gedacht, ich würde mit den Mietern verkehren?“
Faith war an Lydias Sarkasmus gewöhnt. Sie wollte glauben, dass sich irgendwo im versteinerten Herzen ihrer Mutter ein mitfühlendes Wesen verbarg, dass hinter ihrer strengen Selbstdisziplin und den immens hohen Erwartungen an andere irgendwo eine warmherzigere, tolerantere Frau kauerte. Manchmal meinte Faith, Hinweise darauf erkennen zu können.
Schließlich hatten die Hudsons ihre Tochter nicht ohne Grund Faith, also Glaube, genannt!
„Schau dir die Tür an! Den Garten!“ Lydia schüttelte den Kopf.
Faith hatte keine andere Wahl, als hinzusehen. Das Haus hatte drei Geschosse und die Breite eines Zimmers. Wie bei vielen der Nachbarbauten war die Fassade schlicht gestaltet: eine hölzerne Türfassung mit halbrundem Oberlicht, ein mit Zähnchen verzierter Kranzsims, der das Schieferdach betonte, zweigeteilte Schiebefenster mit Fensterläden, ein eisernes Treppengeländer, das die vier tiefen Stufen zur Tür flankierte.
Der einzige Fassadenschmuck war eine antike Eisenplakette, die sich ein gutes Stück über dem Oberlicht befand – ein „Feuerzeichen“, das anzeigte, dass die Familie bei der örtlichen Feuerwehr in gutem Ruf gestanden hatte. Das Haus war nicht so alt, dass es eine solche Plakette tragen musste, aber einer von Lydias Vorfahren hatte sie wohl von einem anderen Haus abgenommen und hier als Dekoration angebracht.
Im Stillen listete Faith die baulichen Mängel auf: Die Backsteine mussten gesäubert werden. Die graue Türfassung blätterte ab, musste stellenweise ausgebessert und komplett neu angestrichen werden. In einem Dachbodenfenster fehlte eine Glasscheibe, eine weitere Scheibe im ersten Stock war notdürftig geklebt worden. Das Treppengeländer musste abgeschmirgelt und mit Rostschutz behandelt werden – wenn unter dem Rost überhaupt noch genügend Substanz vorhanden war. Zudem waren die Büsche, die das Haus umstanden, schon fast eingegangen.
„Von außen fällt mir jedenfalls nichts auf, was sich nicht mit ein bisschen harter Arbeit beheben lässt. Als Erstes sollten wir die Leute im angrenzenden Häuserblock auffordern, sich eine Kettensäge zu leihen“, meinte Faith.
„Mir ist im Moment nicht nach Scherzen zu Mute.“
„Ich lerne gerade, auch den unangenehmen Seiten des Lebens etwas Komisches abzugewinnen.“
„Hu-huu“, machte Alex. „Es ist ein Spukhaus!“
Faith wirbelte herum, um ihn zum Schweigen zu bringen, aber Lydia war schneller und packte ihn an den Schultern. „Du wirst in meiner Gegenwart solche Äußerungen in Zukunft unterlassen. Hast du das begriffen? Deine Mutter mag dein Verhalten ja niedlich finden, aber da ist sie auch die Einzige.“
Alex war mucksmäuschenstill, aber sein Gesichtsausdruck sagte alles. Faith versuchte ihren Sohn zu verteidigen. „Mutter, er wollte doch nicht ...“
„Was er wollte, ist mir egal!“ Nur zögerlich ließ Lydia das Kind los.
Faith richtete sich zu ihren vollen 162 Zentimetern auf. „Mutter, du und Remy, ihr geht vor.“ Sie langte in ihre Handtasche, fand das Handy und reichte es ihrer Tochter. „Alex und ich kommen in ein paar Minuten nach. Jemand muss ihm erklären, warum du so wütend bist.“
Einen Augenblick lang erstarrte Lydia, dann eilte sie ohne ein Wort oder einen Blick die Stufen hinauf.
„Ach Mensch, kann ich nicht hier draußen auf euch warten?“ fragte Remy.
„Auf keinen Fall. Na los.“ Faith zeigte mit dem Kopf zur Tür. „Und geh deiner Großmutter aus dem Weg, bis ich bei euch bin.“
„Ich will gar nicht wissen, warum sie so bekloppt ist“, sagte Alex, sobald die beiden anderen verschwunden waren. „Sie ist immer bekloppt. Sie hasst mich.“
„Sie hat heute sehr wenig Geduld.“ Faith setzte sich auf die dritte Stufe und klopfte auf den Platz neben ihr. Sie war sich unsicher, wie viel sie ihm anvertrauen sollte.
Er setzte sich neben sie und schmiegte sich an; sein rotes Haar kitzelte auf ihrer Schulter. Sie legte einen Arm um ihn. „Es tut mir Leid, mein Schatz. Deine Großmutter hat nicht viel Erfahrung mit Kindern, mit Jungs schon gar nicht.“
„Warum hat mein Gespenstergeheul sie so aufgeregt?“
„Du erinnerst dich bestimmt, was mit meiner Schwester passiert ist. Du musst die Geschichte tausendmal gehört haben.“
„Sie ist entführt worden.“ Er zuckte mit den Achseln, wobei er seine Schulter freundschaftlich an ihrer rieb. „Mehr weiß ich nicht.“
„Vor langer Zeit haben deine Großmutter und dein Großvater in diesem Haus gewohnt.“
„Tja, sieht so aus, als hätte seitdem keiner mehr hier gelebt. Außer Geistern vielleicht. Das war alles, was ich sagen wollte.“
Faith tätschelte sein Knie. „Keiner, der sich um das Gebäude gekümmert hätte. Aber das Haus hat schon immer der Familie meiner Mutter gehört, und nachdem sie geheiratet hatte, ist sie hier eingezogen. Einige Zeit später brachte sie ihre erste Tochter vom Krankenhaus hierher.“
„Hope.“ Alex scharrte mit dem Fuß über die unterste Stufe. „Den Teil kenne ich.“
„Stimmt. Meine Mutter hat die kleine Hope zum Schlafen in ihr Bettchen im Kinderzimmer gelegt. Als sie später nach ihr sehen wollte, war das Baby verschwunden.“
„Und wurde nie wiedergefunden.“ Alex scharrte energischer.
„Niemals. Obwohl die Geschichte monatelang durch die Nachrichten ging und Hunderte von Polizisten an dem Fall arbeiteten. Niemand hat je herausgefunden, was mit Hope passiert ist.“
Alex versuchte sich einen Reim darauf zu machen. „Das ist so lange her. Und ich habe keinen entführt. Warum ist sie wütend auf mich?“
„Ist sie ja gar nicht. Sie ist nur ... Sie wird immer traurig, wenn sie herkommt, weil das Haus sie an Hope erinnert. Vielleicht wäre es nicht so schlimm, wenn wir wüssten, was mit dem Kind geschehen ist, aber wir haben keine Ahnung. Niemand weiß es. Deshalb kann deine Großmutter keinen Schlussstrich unter die Sache ziehen. Verstehst du?“
„Ich verstehe viel mehr, als du glaubst.“
Faith glaubte, die Stimme des Mannes zu hören, der Alex einmal werden würde. Solche Vorboten vernahm sie neuerdings häufiger. „Das freut mich.“
„Als ich gesagt habe, hier spukt’s, hat sie also gedacht, ich rede von Hope?“
„Genau.“ Nach einer Weile fuhr Faith fort: „Jahrelang hielt sich das Gerücht, dass man oben im zweiten Stock manchmal tief in der Nacht ein Baby weinen hören kann.“
„Un-heim-lich!“
„Ja. Nun ja. Das ist nur eine von diesen Schauergeschichten, die die Leute so gerne erzählen. Die Stadtteilführungen haben dafür gesorgt, dass sie nicht in Vergessenheit geraten ist.“
Alex sprang auf und wollte weiter. „Ich würde gern hier leben. Es wäre cool herauszufinden, ob an der Geschichte was dran ist.“
„Erwähne das bloß nicht gegenüber deiner Großmutter, okay? Sie würde das bestimmt nicht cool finden.“
„Ich wollte sie nicht traurig machen.“
„Vielleicht solltest du ihr das mitteilen, sobald sie sich wieder beruhigt hat.“
„Sie hört eh nicht zu, wenn ich etwas sage.“
Faith fürchtete, dass er Recht hatte. „Vielleicht hört sie zu, aber begreift manchmal nicht, was du ihr mitteilen willst.“
„Du bist auch traurig. Jetzt immer.“
Faith hielt es für falsch, Kinder zu belügen. Deshalb antwortete sie: „Tut mir Leid. Ich bin traurig.“
„Ich auch.“
Sie griff nach seiner Hand. „Ich weiß. Du hättest es gern, wenn alles wie früher wäre.“
„Wie konnte Dad uns das antun? Remy verkraftet das nicht. Ich halte es aus. Ich bin ein Junge. Aber sie hasst ihn, und vielleicht tue ich das auch.“
Sie konnte ihm nicht erklären, was sie selbst nicht verstand. „Tja, es ist nicht leicht ... schwul zu sein. Und als dein Daddy jung war, war es noch härter.“
„Ja. Opa Bronson hätte ihn windelweich geprügelt.“
Davids Vater, ein bekannter Prediger, hätte genau das getan.
Arnold Bronson lebte nicht mehr, was vielleicht ganz gut war, denn Davids Coming-out hätte ihn ohnehin umgebracht.
„Woher willst du wissen, was dein Großvater getan hätte?“ Faith stand auf und drückte Alex die Hand noch einmal, bevor sie sie losließ.
„Ich kann zwei und zwei zusammenzählen. Ich bin nicht so blöd, wie alle glauben.“
„Ich halte dich nicht für blöd, das weißt du doch. Du bist ziemlich clever, aber du hast eine unkonventionelle Art zu denken. Du wirst irgendetwas Großes, Wichtiges mit deinem Leben anstellen.“
„Ich will das Haus anschauen. Ich werde mich von Großmutter fern halten.“
„Gute Idee.“
„Wenn ich wirklich klug wäre, würde ich mir etwas einfallen lassen, damit Daddy zurückkommt.“
Ihre Kehle schnürte sich zu. „Du hast nichts dazu beigetragen, dass er gegangen ist, und du kannst nichts dafür tun, dass er zurückkehrt.“
„Ich möchte ihn nicht sehen.“ Er verschränkte die Arme. „Aber wahrscheinlich will er uns eh nicht treffen. Wahrscheinlich sind wir ihm egal.“
„Er will euch sehen. Er wartet, bis ihr bereit dazu seid.“
„Remy wünscht sich, dass er tot wäre.“
Faith war überrascht, dass Remy mit Alex über ihre Gefühle sprach. „Sie ist wütend. Sie wird ihre Meinung ändern.“
„Das glaube ich nicht.“
Die Sorge um ihre Kinder trieb Faith bereits seit geraumer Zeit um. Doch jetzt wurde ihr Kummer noch größer. „Mit der Zeit wird ...“
„Die Zeit hat Großmutter auch nicht geholfen, stimmt’s? Sie ist noch immer wütend wegen Hope. Und jetzt müssen wir mit ihr und Großvater zusammenleben. Er ist auch wütend. Alle sind wütend, und dass wir bei ihnen wohnen, macht sie bestimmt noch böser! Warum musstest du das Haus verkaufen?“
Der Kloß in Faith’ Hals schien anzuschwellen. „Daddy arbeitet im Augenblick nicht, und ich habe nicht die nötige Erfahrung, um einen Job zu bekommen, der genug einbringt, um die Hypothek weiter abzuzahlen. Wir werden nur so lange bei deinen Großeltern wohnen, bis wir wieder auf eigenen Füßen stehen können. Es ist nicht für immer.“
Noch als sie es aussprach, kamen Faith Zweifel. Sie hatte sich nach Wohnungen mit drei Schlafzimmern umgeschaut, aber die Mieten waren horrend. Wenn David keine gute Stelle fand – was wahrscheinlich war, denn durch seine konservative Rhetorik einerseits und sein Coming-out andererseits hatte er sich gleich an zwei Fronten den Weg verbaut –, konnten sie durchaus bei ihren Eltern festsitzen, bis die Kinder aufs College gingen.
„Alles, was ich mache, ist falsch.“ Alex wirkte niedergeschlagen, was untypisch für ihn war. „Immer wenn jemand wütend oder traurig ist, muss ich es ausbaden.“
Sie begann zu ahnen, worüber ihr Sohn sich Sorgen machte. So sah Alex also seine Zukunft: Monate voller Mäkeleien, die sich zu Jahren dehnten. Wütende Appelle, endlich das Zappeln sein zu lassen. Ständige Ermahnungen, sich zu bessern, mehr wie Remy zu sein, den starren Vorstellungen der Hustons zu entsprechen.
„Wir werden ganz sicher eine Lösung finden“, versprach sie schließlich.
„Faith, kommst du?“ Lydia lehnte sich zur offenen Haustür hinaus. „Ich brauche Hilfe. Hast du einen Notizblock? Im Auto liegt einer, ich habe ihn vergessen. Alex, benimmst du dich jetzt wieder anständig?“
Der Junge bedachte seine Mutter mit einem Blick, der zu sagen schien: Na, siehst du? Ich habe Recht gehabt, Mom.
„Wir kommen“, rief Faith. „Ich habe auch einen Notizzettel.“
„Also, ich könnte wirklich etwas Unterstützung vertragen.“ Lydia verschwand im Haus.
„Vielleicht können wir ein Zelt kaufen und campen, bis ich groß bin“, murmelte Alex. „Dann kann ich für dich sorgen.“
Faith wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.