31. KAPITEL

Ham hatte nie einen Weihnachtsbaum gehabt. Er war Jude und überzeugter Humanist, zwei gute Gründe gegen ein traditionelles Weihnachtsfest. Aber als David von seinem Vorstellungsgespräch am „Wesley Theological Seminary“ zurückkam, stand in einer Ecke des Apartments in einem Eimer ein Bäumchen – mit Wurzelballen natürlich, um die Sache umweltverträglicher zu gestalten.

„Du brauchst irgendwas Vertrautes“, meinte Ham. „Aber ich weigere mich, ihn zu schmücken. Ein Freund, der dieses Jahr keinen Baum aufstellen will, hat mir etwas Schmuck geliehen. Du findest ihn unter dem Tisch.“

David starrte die kleine Zimmertanne an. Sackleinen ragte über den Eimerrand. Ham war offenbar nicht bei einem Weihnachtsbaumverkäufer gewesen, sondern in einer Baumschule. „Was kommt als Nächstes? Fährt der Heilige Geist in dich? Lässt du dich taufen?“

„Klar, ich bin der neue Messias. Träum weiter.“

David umarmte ihn. „Das war doch nicht nötig.“

„Es ist ein heidnischer Brauch. Ich kann mir ja einreden, ich sei ein Druide.“

„Vielleicht möchte Alex ihn heute Nachmittag schmücken.“ Ham trat etwas zurück, um Davids Gesichtsausdruck zu studieren. „Du bringst ihn her?“

Alex würde den ersten Weihnachtsfeiertag mit seiner Mutter und den Großeltern verbringen, aber David hatte für das Wochenende eine Hütte in West-Maryland angemietet, sodass Alex und er einen Teil der Weihnachtszeit auf dem Land verbringen konnten. Sie würden wandern, etwas Ski fahren, wenn das Wetter mitspielte, und vor einem prasselnden Feuer Schach spielen. Den Rest hatte er Ham noch nicht erzählt.

„Gestern Abend habe ich mit Faith gesprochen und ihr erklärt, dass ich ihn herbringen will, bevor wir losfahren. Er soll sehen, wie ich lebe.“

„Und sie hatte nichts dagegen?“

„Überhaupt nicht.“ Das war David wie ein erstes Weihnachtsgeschenk vorgekommen.

„Ich werde mich rechtzeitig aus dem Staub machen.“

„Nein, ich habe ihr gesagt, dass du hier sein würdest. Sie fand das in Ordnung.“

„Sie hat dich nicht ermahnt, vor dem Kind keinen Sex zu haben?“

„Sie hält mich offenbar für zurechnungsfähig. Und dich inzwischen vielleicht auch.“

„Pass auf, sonst fange ich noch an, diese Frau zu mögen.“

„Du würdest sie mögen, wenn du Gelegenheit hättest, sie kennen zu lernen. Vielleicht bald.“

„Das Wunder der Weihnacht?“

„Sie hat eine harte Zeit hinter sich.“

„Und du sorgst dich noch immer um sie.“ Das war keine Frage.

„Wäre es dir anders lieber?“ wollte David wissen.

„Nein, du bist eben so.“

Faith versuchte Alex beim Packen für den Wochenendausflug zu helfen, aber sie war nicht bei der Sache. Letzte Nacht hatte sie sich im Bett herumgewälzt und an nichts anderes als Lydias Besuch denken können. Heute früh, kurz nach Sonnenaufgang, hatte sie sich entschieden: Sie würde Pavel erzählen, was sie erfahren hatte.

Nicht nur, weil sie ihm versprochen hatte, ihm alles mitzuteilen, was sie über die Entführung herausbekam, sondern vor allem, weil Hope auch Pavels Schwester war. Faith und Pavel hatten eine gemeinsame Halbschwester, die sie nicht kannten.

„Mom, sechs Unterhosen und Sockenpaare sind zu viel. Überlass das Packen mir.“ Entnervt nahm Alex ihr die Unterwäsche aus den Händen.

Sie verzichtete auf den Hinweis, dass sie noch immer die Wäsche ihres Sohnes wusch, dass sie diese Sachen während seines jungen Lebens etwa eine Million Mal in die Maschine gesteckt, getrocknet und zusammengelegt hatte. Sie nickte nur verständnisvoll.

„Nur zu. Du weißt besser als ich, was du brauchst.“

„Dad kommt erst um drei. Dann kann ich immer noch mit dem Packen anfangen.“

„Warum muss eigentlich immer alles auf den letzten Drücker passieren?“

„Weil ich eben so bin.“

Alex war gerade zwölf geworden, und sie bekam gerade einen Vorgeschmack darauf, wie es sein würde, mit zwei pubertierenden Teenagern zusammenzuleben. „Schön, es ist deine Sache. Vergiss aber Daddys Geschenk nicht, ja?“

Alex hatte aus unzähligen Schulfotos von Remy und ihm einen Bildschirmschoner für Davids Computer erstellt. Faith vermutete, dass auch sie eine Kopie davon auf einer Diskette unter dem Baum finden würde.

„Glaubst du, es wird ihm gefallen?“ fragte Alex. „Du meinst nicht, dass Remys Fotos ihn traurig machen werden?“

„Natürlich will er Fotos von euch beiden sehen.“

„Ich habe sie gefragt, ob sie mit nach Maryland will.“

Sie konnte sich vorstellen, wie Remys Antwort gelautet hatte. „Das war nett von dir“, lobte sie ihren Sohn.

„Du lässt sie zu Megan gehen?“

Normalerweise mischte Alex sich nicht in Fragen der Erziehung seiner Schwester ein, aber jetzt schien er unglücklich, dass auch Remy übers Wochenende nicht hier sein würde.

„Sie braucht einen Tapetenwechsel, genau wie du. Und in den Ferien hat sie keine Hausaufgaben auf, die sie machen müsste.“

„Du wirst ganz allein hier sein.“

„Das ist in Ordnung. Remy hat Megan ewig nicht getroffen, also haben sie viel nachzuholen. Ich werde die Feiertagseinkäufe erledigen und das Haus putzen. Hey, vielleicht backe ich sogar diese Pfefferminz-Kekse, die du so magst.“

„Ich habe fürs Wochenende schon eine ganze Dose Kekse mit.“

„Ich brauche noch mehr, für all die Nachbarn.“

„Vielleicht sollte Remy hier bleiben und helfen.“

„Fürchtest du, ich könnte mich einsam fühlen?“

Er zuckte mit den Schultern.

„Manchmal ist ein stilles Haus ganz angenehm.“ Sie ging und ließ ihn mit seiner Wäsche und seinen Sorgen allein. Sobald er mit David unterwegs war, würde er schnell auf andere Gedanken kommen.

Als Nächstes schaute sie bei ihrer Tochter vorbei, um zu fragen, ob sie Hilfe brauchte. Von der Tür aus hatte es den Eindruck, als sei sie auch noch nicht weiter als ihr Bruder. „Hast du alles, was du brauchst? Ich habe eine Dose Kekse für Megans Mom.“

„Megans Mom backt jedes Jahr zu Weihnachten eine Million Kekse. Sie braucht deine nicht“, entgegnete Remy patzig.

„Es soll ein Mitbringsel sein. Bist du nicht froh, dass du mit Megan und deinen anderen Freundinnen zusammen sein kannst, Schatz? Du wolltest doch hin.“

„Ist mir egal.“

Faith hatte gehofft, dass Remy nach McLean zurückkehren, alte Freundschaften auffrischen und sich in den glücklichen Teenager zurückverwandeln würde, der sie einst war. Allerdings glaubte Faith auch an die jungfräuliche Geburt, an Engel und weise Männer, die dem armen Elternpaar Geschenke gebracht hatten.

„Du kannst hier bleiben“, bot sie an, obwohl sie die Antwort kannte. „Im Haus ist noch immer viel zu tun. Ich kann Hilfe gebrauchen.“

„Du bist so leicht zu durchschauen. Ich versuche hier fertig zu werden, ja?“

Faith ging nach unten. Da sie nun ein paar Minuten Ruhe haben würde, rief sie bei „Scavenger“ an und fragte nach Pavel. Seine Sekretärin schrieb ihm eine Notiz, warnte sie aber, dass er heute womöglich gar nicht mehr ins Büro käme.

Sie versuchte es bei ihm zu Hause und hinterließ eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter. Ihr Blick war auf die schmale Wand neben dem Telefon gerichtet, an der nur ein Kalender hing. Plötzlich sprang ihr das Datum ins Auge. Wieder oben in ihrem Zimmer, durchwühlte sie die Zeitungsberichte, die sie in der Bibliothek kopiert hatte, und fand schließlich das Gesuchte.

Heute vor achtunddreißig Jahren hatte sich Dominik Dubrov auf einem Dachboden in Georgetown erhängt.

Sie ließ sich auf der Bettkante nieder und überlegte, ob Pavel sich dessen wohl bewusst war. Ignorierte er den Todestag seines Vaters – oder beging er ihn irgendwie? Sie fragte sich, was sie in seiner Lage tun würde.

Ein paar Minuten später hatte sie ihren wärmsten Mantel an, obwohl sie nur nach nebenan wollte. „Ich bin gleich wieder da“, rief sie nach oben. „Ich bringe Dottie Lee ein paar Kekse.“

Obwohl sie heute früh schon zweimal gestreut hatte, waren die Stufen vereist. Sie schob erst den Neuschnee von der Treppe, bevor sie vorsichtig hinunterging. Nebenan öffnete ihr Mariana die Tür und nahm ihr den Mantel ab.

Dottie Lees Festtagsdekor war unorthodox, aber wirkungsvoll. An den Türen hingen Schnüre mit farbenfrohen Origami-Tieren. Ukrainische Ostereier zierten einen Tisch-Weihnachtsbaum. Vor der Kaminöffnung ritt eine Pappmaché-Hexe auf ihrem Besen.

„La Befana“, kommentierte Dottie Lee, als sie die Treppe herunterkam. „Am Dreikönigsabend bringt sie den guten italienischen Kindern Süßes und den unartigen Kohlen.“

Faith hielt ihr die bunte Dose hin. „Für Mariana und Sie. Und wir möchten Sie zum Abendessen am ersten Weihnachtstag einladen. Wir fahren zwar tagsüber zu meinen Eltern, kommen aber früh genug zurück, um abends in Ruhe zu feiern.“

Dottie Lee zögerte. „Warum kommen Sie stattdessen nicht zu mir?“

„Ich will Ihnen keine Arbeit machen. Zur Abwechslung sollen Sie einmal unser Gast sein.“

„Ich gehe nicht oft aus dem Haus, wissen Sie.“

Faith dachte, sie meine das Winterwetter. „Wenn es schneit, holen Alex und ich Sie ab. Ich möchte nicht, dass Sie auf dem Eis ausrutschen.“

„Faith, meine Liebe, seit unzähligen Jahren gehe ich nur noch in meinen Garten – und in letzter Zeit ab und zu kurz in Ihren.“

„Oh ...“ Faith schämte sich für ihre lange Leitung. Wie viele Hinweise darauf, dass Dottie Lee ans Haus gefesselt war, hatte sie ignoriert? „Tut mir Leid. Haben Sie Angst, das Haus zu verlassen?“

„Ich fürchte, ja.“

„Aber als Sie mir den Scotch geschenkt haben, waren Sie in unserem Haus. Und dann noch einmal vor der Haustür.“

„Beide Besuche waren zwingend notwendig.“

„Wollen Sie es noch einmal versuchen?“ schlug Faith vorsichtig vor.

Dottie Lee kaute auf ihrer Unterlippe.

„Die Häuser sind miteinander verbunden“, führte Faith aus. „Wenn hier eine Tür wäre ...“, sie klopfte an die gemeinsame Mauer, „... dann wäre mein Haus auch Ihr Haus.“

„Aber da ist keine Tür.“

„Ich will Sie nicht bedrängen. Es ist nur so, dass Sie jetzt praktisch zur Familie gehören.“

Dottie Lee überlegte kurz und nickte. „Wir werden kommen. Vielleicht gehe ich relativ früh wieder. Wäre das in Ordnung?“

„Wir können ein zweiteiliges Dinner veranstalten. Wenn Sie von unserem Haus genug haben, feiern wir hier bei Ihnen weiter.“

„Weiß Ihre Mutter eigentlich, was für ein Segen Sie sind?“

Bevor Dottie Lee sie mit ihren Schmeicheleien vom Kurs abbringen konnte, kam Faith auf den unmittelbaren Anlass ihres Besuchs zu sprechen. „Dottie Lee, es gibt noch etwas, worüber ich reden möchte.“

„Ich bin froh, wenn wir meine Neurosen vorerst nicht mehr erwähnen.“ Sie wies auf das Sofa, aber Faith schüttelte den Kopf.

„Ich komme gleich zur Sache: Ich habe herausgefunden, dass meine Mutter ein Verhältnis mit Dominik Dubrov hatte und dass Dominik Pavels Vater war. Ich möchte wetten, dass Ihnen das schon lange klar war, oder?“

Dottie Lee wirkte nicht im Mindesten überrascht. „Weiß Ihre Mutter, dass Sie das wissen?“ Als Faith nickte, seufzte Dottie Lee. „Gut.“

„Ich weiß auch, dass Dominik Dubrov sich heute vor achtunddreißig Jahren das Leben genommen hat.“

„Ja. Eine Tragödie.“

„Ich versuche Pavel zu finden. Und ich wollte Sie fragen, ob Sie wissen, wo sein Vater begraben ist.“

„Sie glauben, Pavel könnte dort sein?“

Faith war sich bewusst, dass das weit hergeholt war, sehr weit.

Aber Pavel hatte selbst gesagt, dass er manchmal zum Grab seines Vaters ging. Welcher Tag eignete sich besser?

„Es wäre möglich“, antwortete Faith. „Und selbst wenn nicht ...“ Sie hatte eigentlich keinen Grund, das Grab zu besuchen. Das Verhältnis zwischen Dominik und ihrer Mutter war einer der Gründe für ihre unglückliche Kindheit gewesen. Dennoch faszinierte sie diese Geschichte. Er war für sie eine tragische Figur, ein Mann, dem nichts geblieben war und der nur diesen einen Ausweg gesehen hatte, um seinen Kummer zu beenden.

Dottie Lee unterbrach ihre Gedanken. „Gibt es etwas, was Sie ihm mitteilen wollen? Dominik, meine ich?“

Genau das beabsichtigte Faith. Nur was wollte sie ihm sagen? „Ich weiß, was Sie der Polizei erzählt haben, aber sind Sie sich ganz sicher, dass er Hope nicht entführt hat?“ Sie erwähnte nicht, dass Hope Dominiks Tochter war. Höchstwahrscheinlich hatte Dottie Lee sich das schon zusammengereimt, aber es war an Lydia, es der alten Dame zu beichten.

„Am Ende werden Sie feststellen, dass alles zusammengehört, meine Liebe. Ich habe nie geglaubt, dass ein Fremder das Kind mitgenommen hat.“

„Aber Sie haben Dominik ein Alibi verschafft“, hakte Faith nach.

Ihr fiel auf, dass Dottie Lee nicht protestierte und behauptete, in diesem Punkt nur die Wahrheit gesagt zu haben. „Hätte ich der Polizei nicht erzählt, dass er bei mir gewesen ist, dann wäre Dominik vielleicht noch am Leben. Sie hätten ihn vielleicht ins Gefängnis gesteckt, und dort hätte er sich nicht so leicht umbringen können. Daher habe ich ihn bestatten lassen, weil sich sonst niemand darum kümmerte. Er ist in der Oak-Hill-Parzelle meiner Familie begraben, zwischen Senatoren und Staatsmännern. Er hatte etwas Besseres verdient als ein Armengrab. Was auch immer Sie von ihm halten, Dominik war ein guter Mann. Wenn Sie ihn heute besuchen, richten Sie ihm bitte aus, dass ich das immer noch glaube.“

Remy wollte nicht zu Megan. Alle ihre alten Freundinnen würden zu Besuch kommen, und sie würden sich über Dinge unterhalten, mit denen Remy nichts mehr am Hut hatte. Sie war einigen von den Mädchen bei der Pferdeschau begegnet, und obwohl sie nett zu ihr gewesen waren, wusste sie genau, dass sie später hinter ihrem Rücken über sie geredet hatten.

Außerdem kamen sie ihr jetzt sehr jung vor. Manche der Jungs, über die sie sprachen, waren nicht einmal auf der High School. Sie hatte nicht viel über Enzio erzählt, weil Megan es womöglich ihrer Mutter und diese es wiederum Faith berichten würde. Bisher hatte Remy dieses Geheimnis für sich behalten können.

Seit Wochen hatte ihre Mutter es ihr fast unmöglich gemacht, Enzio zu treffen, aber Remy hatte Wege gefunden. Am einfachsten war es, sich davonzustehlen, wenn ihre Mutter aus dem Haus ging und sie mit Alex allein ließ.

Alex hatte natürlich mitbekommen, dass Remy sich oft davonschlich. Er wusste auch, dass Remy ihm das Leben zur Hölle machen würde, wenn er es Faith petzte. Alex wollte cool und erwachsen sein. Er redete sich das gerne ein, was natürlich absurd war, aber sie nutzte diesen Umstand aus. Bisher hatte er den Mund gehalten.

Sie war auch direkt von der Schule zu Enzios Haus gegangen. Einmal hatte sie sich während einer Schülerversammlung der achten Klassen davongestohlen. Sie war gerade rechtzeitig zur Schule zurückgekehrt – wenn auch außer Atem vom Laufen –, um sich von Faith abholen zu lassen.

Sie hatte sogar Unterricht geschwänzt, um zu Lawford’s zu gehen. Das erste Mal hatte einer ihrer Lehrer sie erwischt, aber sie hatte ihm vorgelogen, sie müsse in die Bibliothek. Zum Glück hatte eine Prügelei im Flur ihn abgelenkt, bevor er das überprüfen konnte.

Beim zweiten Mal musste sie feststellen, dass Enzio frei hatte, und da die Zeit nicht reichte, um zu seinem Haus zu laufen, besuchte sie stattdessen Ralph. Ralph erinnerte sich sofort an sie und wollte wissen, warum sie nicht in der Schule war. Sie erzählte es ihm, und er reagierte völlig gelassen, hörte zu und nickte, als verstünde er sie vollkommen. Er hatte die Schule, wie er sagte, auch gehasst, weil er anders als die anderen gewesen war. Aber jetzt gehe er auf die Abendschule, und sie müsse einfach durchhalten. Neue Freunde seien schwer zu finden, aber sie werde schon noch Leute kennen lernen, die sie so mochten, wie sie eben war; er habe es schließlich auch geschafft.

Ralph war anders als alle anderen Männer, die sie kannte, aber trotz seiner blöden Belehrungen mochte sie ihn durchaus – so, wie er eben war.

Sie starrte die Decke an und überlegte, worüber sie mit den anderen bei Megans Party überhaupt reden konnte, als Alex in ihr Zimmer kam. Ihre Mutter war nebenan bei der alten Schachtel, und Alex lehnte sich an den Türrahmen, als wären sie beide alte Freunde. Trotz der entspannten Haltung schien er sich unwohl zu fühlen.

„Du besuchst Megan?“ fragte er.

„Und?“

„Du gehst nicht woanders hin?“

„Megan gibt eine Party.“

„Du könntest noch immer mit Daddy und mir nach Maryland.“

„Als ob ich es an einem Ort aushalten würde, wo er ist.“

„Du fehlst ihm, Remy.“

Einen Augenblick lang konnte sie nichts erwidern. Es war ihr wirklich völlig schnuppe, ob David sie vermisste, aber irgendwie hatte sie einen Kloß im Hals. „Ich komme nicht mit.“

„Jesus hat gesagt, wir müssen einander vergeben.“

„Dann soll Jesus ihm halt vergeben. Seit wann bist du so ein schmieriger kleiner Wanderprediger?“

„Er ist dein Dad. Er ist derselbe Dad wie immer.“

„Nicht derselbe. Er ist ‘ne Tunte, schon vergessen?“

Die Haustür knarrte und wurde zugezogen. Faith rief nach oben: „Alles in Ordnung bei euch?“

„Was glaubt sie denn?“ Remy zog eine Grimasse und griff nach der Katze, die über ihr Bett spazierte, als gehöre es ihr. Gast und Fleckchen hielten sich noch immer am liebsten in Remys Zimmer auf. Sie waren das Einzige, was Remy an diesem Haus mochte.

„Wir sind okay“, rief Alex in den Flur.

„Wann wird dir endlich klar, dass Mom diese dummen Fragen nur aus Neugier stellt? Es interessiert sie im Grunde gar nicht, ob es uns gut geht. Sie fragt nur aus Gewohnheit.“ Remy zog Gast an ihre Brust. Die Katze wand sich kurz und fügte sich dann in ihr Schicksal.

„Das ist Quatsch.“ Alex klang entrüstet. „Du hasst alle Leute.“

„Yeah, vor allem dich.“

„Weißt du, früher habe ich mir gewünscht, du zu sein, aber jetzt fände ich das ganz furchtbar.“ Er zog ab.

Seltsamerweise verletzte sie das. Sie wollte nicht Alex’ Freundin sein. Wozu auch? Aber seine Bewunderung hatte ihr immer gefallen. Sie war die Clevere, die Beliebte, die Gute. Er war immer neidisch auf sie gewesen, und das hatte sie gut gefunden.

Sie versuchte ihn zu vergessen, indem sie ein paar Sachen in den Rucksack warf, den sie zu Megan mitnehmen würde. Als Faith wieder hochkam, um nach ihr zu sehen – wie eine Gefängniswärterin, die ihren Rundgang machte –, war sie fast fertig.

„Sally wird gleich da sein“, sagte Faith.

„Du musst mich nicht alle naselang daran erinnern.“

„Alex ist auch fertig, und ich muss noch etwas besorgen. Stört es dich, wenn ich schon aufbreche? Alex meint, es macht ihm nichts aus, allein zu bleiben, wenn du vor ihm abgeholt wirst.“

Remy presste sich die Faust an die Brust, als hätte sie einen Herzinfarkt. „Du meinst, ich darf wirklich länger als fünfzehn Minuten ohne dich in diesem Haus bleiben?“

Faith’ Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Vielleicht nicht.“

Remy merkte, dass sie den Bogen überspannt hatte. „Natürlich kannst du gehen, Mom. Wir kommen zurecht. Ich werde die Tür gut abschließen, wenn ich das Haus verlasse, und werde auch Alex daran erinnern.“

Faith fixierte sie. „Ich spiele nicht gerne die Gefängnisaufseherin.“

„Du nimmst das alles zu ernst.“

„Ich halte es für ernst. Du nicht?“

„Ich will nur meine Ruhe haben. Ich möchte nicht, dass andere Leute sich meinen Kopf zerbrechen und über mein ganzes Leben bestimmen.“

„Du willst erwachsen sein, aber das bist du nicht.“

„Lass uns einfach so tun als ob, ja? Nur für eine halbe Stunde. Ich bleibe hier, und du kannst gehen. Und ich werde das Haus nicht abfackeln und mir auch kein Kokain reinziehen, während du weg bist.“

„Remy, du müsstest dich mal reden hören! Willst du, dass alle, die dich lieben, das bereuen?“

Faith’ Äußerung erinnerte sie stark an das, was Alex ihr an den Kopf geworfen hatte. „Lass mich einfach in Ruhe!“ Da Gast gerade nicht in Reichweite war, griff sie nach einem Kissen und schlang die Arme darum.

„Wir werden weiterreden, wenn du von Megan zurückkommst.“

„Ich will nicht reden.“

Faith sah aus, als wolle sie noch etwas sagen, besann sich aber eines Besseren. „Vergiss es erst mal und genieß den Abend.“

Ein paar Minuten später wurde die Haustür zugezogen. Von Faith’ Schlafzimmerfenster beobachtete Remy, wie ihre Mutter die Straße überquerte und über den Gehweg zu ihrem Auto lief. Sie wartete, bis Faith wirklich losgefahren war. Dann schloss sie die Zimmertür und griff nach dem Telefon.

Während sie es klingeln ließ, betete sie, dass jemand abhob. Nach dem vierten Klingeln meldete sich Megan. „Hey, Meg“, begrüßte Remy sie. „Ich dachte schon, ich erwische dich nicht mehr.“

Sie hörte ihrer Freundin zu, die sich darüber ausließ, wo sie gewesen war und warum sie nicht schneller abgehoben hatte. „Ich komme nicht“, sagte Remy, als Megan Luft holte. „Mir ist übel. Ich warte noch ein Weilchen und hoffe, dass es besser wird. Wenn ja, komme ich später.“ Sie hatte genug Geld gespart, um ein Taxi nach McLean zu bezahlen. Das hieße, dass sie kein Weihnachtsgeschenk für Alex kaufen konnte, aber dazu war sie sowieso zu sauer.

Sie ließ Megans Geplapper noch eine Weile über sich ergehen. „Ich muss aufhören“, meinte Remy. „Ich ruf dich später nochmal an. Richte deiner Mom einfach aus, dass sie mich nicht abzuholen braucht, okay? Und ruf nicht hier an, weil ich etwas schlafen will.“ Sie legte auf, bevor Megan ein neues Thema anschneiden konnte.

Der Rest des Nachmittags gehörte ihr. Sie konnte ihr Glück kaum fassen: Sie würde eine Menge Zeit mit Enzio verbringen können und am späten Abend mit einem Taxi zu Megan fahren. Faith würde es nie erfahren.

Zu dumm, dass es Winter war. Sie hätte sich gerne sexy und cool zurechtgemacht – nicht, dass ihre Mutter irgendetwas wirklich Freizügiges in ihrem Kleiderschrank duldete. Also zog sie ein schwarzes Top und darüber eine knallgelbe Bluse an, die sie über dem Bauch verknotete. Sie glitt in ihre roten Caprihosen, sodass ihre Taille frei blieb, und zog dazu ihre plumpsten Plateauschuhe an. Es widerstrebte ihr, die Wirkung durch einen Mantel zunichte zu machen, aber sie wusste, dass Megans Mutter schimpfen würde, wenn sie ohne Mantel bei ihr auftauchte. Sie konnte das Ding ja ausziehen, bevor sie an Enzios Tür klopfte.

Sie hoffte inständig, dass er da war. Seine Mitbewohner waren über Weihnachten nach Hause gefahren, außer Colin, der noch eine Hausarbeit fertig schreiben musste. Er war die ganze Zeit in der Bibliothek. Die Chancen standen gut, dass Remy Enzio allein antreffen würde.

Alex war schon unten und versuchte mit einem Finger, eine Melodie auf dem Klavier zu spielen. „Was soll das sein?“ fragte sie.

„,Say My Name‘. Von Destiny’s Child, weißt du?“

Sie schob ihn zur Seite und spielte den Song auf Anhieb perfekt. Dann fügte sie ein paar Akkorde hinzu.

„Hey, das ist gut.“

Entnervt schloss sie das Klavier. „Ich gehe. Ich habe Megans Mutter vorgeschlagen, mich an der Ecke einzusammeln. Dann muss sie keinen Parkplatz suchen.“

„Du lügst. Ich habe gehört, was du am Telefon gesagt hast. Du hast ihr erzählt, dass dir schlecht ist und du nicht kommst.“

„Du hast dich verhört.“

„Ich bin nicht taub. Mein Zimmer liegt direkt neben dem von Mom.“

„Ich mach mich jetzt auf den Weg. Ich möchte nicht hier sein, wenn dein Vater dich abholt. Ich gehe und warte auf Megans Mom.“

Ihm war durchaus aufgefallen, dass sie von seinem Vater gesprochen hatte, aber er tat so, als hätte er es nicht bemerkt. „Wohin gehst du wirklich?“

„Das hab ich dir doch schon mitgeteilt.“ Remy lief zur Tür und drehte sich um. „Es wäre ein Jammer, wenn du irgendwem erzählen würdest, was du dir da zusammenreimst. Denn ich könnte auch über dich Lügen verbreiten. Mir fallen Millionen Lügen ein, die dir echt eine Menge Ärger einbringen würden.“ Sie schloss die Tür hinter sich, bevor er antworten konnte.

Als sie die Straße entlangschlenderte und sich eigentlich über die unerwartete Freiheit freuen wollte, musste sie ständig an Alex denken. Er hatte alles verdorben. Alex mit seinem blöden besorgten Blick. Alex, ihr dämlicher kleiner Bruder, der ihr vorschreiben wollte, was sie von allem und jedem zu halten hatte.

Sie war älter als er und wusste viel mehr. Sie war alt genug, um auf College-Jungs wie Enzio attraktiv zu wirken, und sie war alt genug, eigene Entscheidungen zu treffen. Alle behandelten sie wie ein Baby, aber diese Sache würde sie jetzt selbst in die Hand nehmen. Enzio war vielleicht ein bisschen zu alt für sie, aber sie hatte ihn im Griff. Sie hatte ihr Leben im Griff. Sie würde allen beweisen, dass sie alt genug war, eigene Wege zu gehen.