16. KAPITEL
Das Leben einer Familie verändert sich manchmal innerhalb eines Augenblicks. Am nächsten Morgen stand Faith früh auf und ging zur Wisconsin Avenue, um Bagels und frischen Orangensaft zu kaufen. Als sie wiederkam, spielte Remy eine stundenlange Variation von Chopins Minutenwalzer.
„Du hast das Klavier seit Jahren nicht mehr angerührt.“ Faith zog die Tür hinter sich zu. „Unglaublich, dass du dich an alles erinnerst.“
„Und?“ Remy hörte mitten in einem Takt auf und klappte den Tastaturdeckel zu.
„Ich habe dir immer so gerne zugehört. Ich habe es bedauert, als du keine Stunden mehr nehmen wolltest. Deine Lehrerin auch. Du warst ihre begabteste Schülerin.“
„Ich habe nur Zeit totgeschlagen.“
Faith wusste, wenn sie noch ein weiteres Wort sagte, würde Remy das Klavier nie wieder anfassen. „Für dich habe ich Zimt und Rosine mitgebracht und für Alex Blaubeer. Frisch aus dem Ofen.“
„Mom!“ Alex erschien am Fuß der Treppe. Faith war sich nicht einmal sicher, dass er wirklich die Stufen hinuntergestiegen war. „Ich hab ihn!“
„Wen?“ Dann ging ihr auf, was er meinte. „Die Ratte?“
„Lefty. Komm schon!“
„Das ist so abartig!“ rief Remy. „Ich lebe in einer Slum-Hütte.“
Faith hatte inzwischen viel Übung im Ignorieren von Äußerungen ihrer Tochter. „Alex, du weißt doch, dass du ihn nicht behalten kannst. Das hatten wir doch schon besprochen.“
Sie folgte ihm nach oben, und Remy schlenderte gelangweilt hinter ihnen her.
An Alex’ Wänden klebten noch immer ausgeblichene Tapeten voller Bauern bei der Ernte und Bauersfrauen an Spinnrädern, aber ansonsten gehörte dieses Zimmer eindeutig einem viel versprechenden Jungforscher. Sein Computertisch war so lang wie eine ganze Zimmerseite. Auf einem weiteren Tisch lagen Elektronikteile, die er bei Nachbarn abgestaubt hatte. Außerdem gab es dort noch ein Aquarium mit Venusfliegenfallen, die unter ihrer Pflanzenlampe prächtig gediehen, und einen Chemiebaukasten für Anfänger. Daneben türmte sich ein Müllhaufen aus kaputten Kabeln und leeren Batterien auf. Pavels Falle stand in der gegenüberliegenden Ecke.
„Guck dir das an.“ Er ging in die Knie, und nachdem sie und Remy kurz das Gesicht verzogen hatten, hockte Faith sich daneben.
Eine weiße Ratte mit knallroten Augen starrte sie an.
„Keine gewöhnliche Ratte“, sagte Alex. „Eine Wissenschaftler-Ratte.“
„Was soll’s.“ Remy beugte sich über die Falle. „Das ist die Ratte, die ich gesehen habe. Na und?“
Faith stand auf. „Du hast immer ein wohl behütetes Leben geführt. Das ist keine normale Großstadtgartenratte. Und auch keine typische Müllhaufenratte. Alex hat Recht. Das ist eine von denen, die in Zoohandlungen verkauft und in Labors eingesetzt werden.“
„Die Sorte, mit der man Experimente macht.“ Alex’ Augen glänzten.
Faith musste der Sache sofort einen Riegel vorschieben. „Ich hoffe, du hast mit dem armen Ding nichts Derartiges vor. Das kommt nicht in Frage.“
„Nur harmloses Zeug. Labyrinthe und so. Das wird ihm Spaß machen. Er wird sich fühlen wie in einem Vergnügungspark.“ Er spürte, wie seine Mutter weich wurde, und machte ein trauriges Gesicht. „Ich durfte nie ein Haustier haben, Mom.“
„Das ist so krank.“ Remy verließ den Raum. Faith hörte, wie sie am anderen Ende des Flurs ihre Schulsachen zusammenpackte. Nach einer Woche hatte sich Faith geweigert, sie zur Schule zu fahren, wenn es nicht regnete. Sie waren jetzt City-Kids, und Bewegung tat ihnen gut.
„Ich muss erst ein paar Leute fragen.“ Faith fuhr mit der Hand durch Alex’ rote Locken.
Er verdrehte die Augen. „Ich kann ihn vom Tierarzt durchchecken lassen und so.“
Sie versuchte ihre Fantasie im Zaum zu halten und nicht an ausgebüxte Laborratten der Medizinischen Fakultät der Georgetown-Uni zu denken – Gedanken, die sich um Beulenpest und neue Stämme des Ebola-Virus drehten. „Mal schauen, ob ich einen der Studenten aufspüren kann, die hier gewohnt haben. Die müssten was über Lefty wissen. Dann sehen wir weiter.“
In ihm schien Hoffnung aufzukeimen. „Unternimm aber nichts, bis ich wieder zu Hause bin, versprochen?“
Sie schickte die beiden zur Schule und blickte ihnen nach, wie sie in Richtung Wisconsin Avenue verschwanden. Sie fragte sich, was diese ausgemachten Feinde einander jeden Tag erzählten, wenn sie die ansteigende Avenue hinauf- und später wieder hinunterliefen. Seit jenem Sommer, in dem beide von den Windpocken heimgesucht worden waren, hatten sie nicht mehr so viel Zeit miteinander verbracht.
Es gelang ihr, Lydia zu erreichen, bevor diese zu ihren täglichen Besorgungen aufbrach. Ihre Mutter war zwar nicht erfreut über die Störung und die Neuigkeiten bezüglich der Ratte, es gelang ihr jedoch, die Nummer eines ehemaligen Mieters herauszufinden. Faith war sich sicher, dass sie den jungen Mann aus dem Bett klingelte, kannte aber kein Erbarmen.
Als sie den Hörer auflegte, hatte sie zumindest in Erfahrung gebracht, dass Lefty keine Gefahr darstellte. Einer der Studenten hatte ihn aus einem Psychologielabor „befreit“, bevor er in die ewigen Rattenjagdgründe eingehen konnte. Zu Hause hatten sie ihn einfach laufen lassen. Wenn Alex eine Ratte wollte, die sich in Labyrinthen zurechtfand, war Lefty erste Wahl.
Faith räumte gerade die Küche auf – was sich dieser Tage darauf beschränkte, den Müll hinauszutragen –, als das Telefon läutete. Es war Pavel.
„Alles startklar für Freitag?“
„Und wie.“ Sie klang ein wenig übereifrig. Was Verabredungen betraf, war sie wirklich aus der Übung.
„Kommen Sie doch etwas früher, damit ich Ihnen alles zeigen kann. Soll ich Sie abholen?“
„Nicht nötig, ich gehe zu Fuß. Ich bin wirklich gespannt, an was Sie in Ihrem Haus gerade herumbasteln.“
„Aber Vorsicht, es könnte Sie entmutigen.“
Sie brauchte tatsächlich dringend Abwechslung, wenn sie sich schon auf die Begutachtung einer halb fertigen Renovierung freute. Eine Zeit war schnell vereinbart, aber Pavel schien keine Lust zu haben, das Gespräch schon zu beenden. „Was haben Sie heute vor?“
Sie hatte ihm von Lydias Besuch und deren Informationen über Violet erzählt. „Heute Vormittag kümmere ich mich um die Schränke. Und nach dem Essen will ich zur Bibliothek, um nach Möglichkeit etwas über den Garten herauszufinden.“ Sie hielt inne. „Eigentlich über das ganze Haus. Ich möchte für meine Mutter gerne einen historischen Abriss erstellen. Ein Dankeschön für ihre Großzügigkeit.“
Pavel blieb so lange stumm, dass sie sich schon fragte, ob die Leitung tot war. Als er antwortete, hörte er sich sehr unsicher an. „Ihr Haus ist ein geschichtsträchtiger Ort. Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut tut, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen?
„Sie meinen die Entführung meiner Schwester?“ Sie hatte letzte Nacht viel darüber nachgegrübelt, denn im Bett hatte sie mehr Zeit zum Nachdenken, als ihr lieb war. Mit Pavel darüber zu reden kam ihr ganz natürlich vor. Obwohl sie sich noch nicht lange kannten, waren sie längst über das übliche, oberflächliche Blabla hinaus.
Sie versuchte ihre Gedanken in Worte zu fassen. „Mein ganzes Leben lang war diese Entführung eine Art Wolke, die vor der Sonne hing. Das stört mich ungemein, und ich glaube, dass es auch meiner Mutter nicht gut tut. Ich möchte unserem Leben und diesem Haus wieder eine Perspektive geben.“
Sie konnte fast sehen, wie Pavel sich ihre Worte durch den Kopf gehen ließ. Wenn ihn etwas umtrieb, blinzelte er immer und strich sich oft mit den Fingerspitzen über seine Bartstoppeln. Seltsam, dass ihr das so präsent war.
„In unser aller Leben gibt es Dinge, um die wir gern einen Bogen machen“, sagte er. „Manchmal ist es gut, wenn uns jemand zwingt, direkt auf sie zuzugehen.“
Sie wechselte das Thema. „Und was haben Sie heute vor?“
„Wenn ich Ihnen das erklären würde, würden Sie’s nicht verstehen. Ich begreif’s nämlich selbst nicht. Aber verraten Sie das nicht unseren Anlegern.“
Leise lachend legte sie auf, und während sie Vorbereitungen für ihr vormittägliches Arbeitspensum traf, lächelte sie noch minutenlang. Als sie die Stahlwolle holte, um den Schrank abzuschmirgeln, in den ihre neue Spüle eingelassen werden sollte, erkannte sie, wie sehr dieses kurze Gespräch sie aufgeheitert hatte.
Die „Georgetown Regional Library“ war, wie alle Häuser in diesem Viertel, ein würdevolles und imposantes Gebäude. In der Bücherei befand sich der Peabody-Saal, in dem man Dokumente zur Stadtteilgeschichte einsehen konnte. In Faith’ Augen war hier der ideale Ausgangspunkt für ihre Recherchen.
Sobald sie sich orientiert und an einem Tisch niedergelassen hatte, wartete sie, bis eine der Bibliothekarinnen frei war. Sie wendete sich an eine afroamerikanische Frau in ihrem Alter, die eine sanfte Stimme hatte und sich gut mit der Sammlung auskannte. Faith umriss in knappen Worten, was sie vorhatte.
„Und die Anschrift lautete ...?“ Die Bibliothekarin war sehr dünn, aber hübsch. Ihre Augen leuchteten in einem kräftigen Dunkelbraun, und sie hatte einen herzförmigen Mund.
Faith nannte die Adresse, und plötzlich zeigte die junge Frau großes Interesse.
„Das Huston-Haus?“
„Ich bin Faith Huston Bronson“, bestätigte Faith.
„Dorothy Waylins.“ Die Bibliothekarin streckte die Hand aus; sie war zu taktvoll oder aber zu erfahren, um viel Aufhebens zu machen. „Wir haben einige Dokumente über Ihr Haus. Aber die, die mir einfallen, sind nicht sehr alt.“
Faith redete nicht um den heißen Brei herum: „Wahrscheinlich haben Sie viel Material über die Entführung meiner Schwester.“
„Ein ganzes Album voll, das unser Personal damals zusammengestellt hat. Wenn Sie es anschauen möchten, reichen Ihr Führerschein, Ihre Kreditkarte und ein Eid auf die älteste Bibel unserer Sammlung als Zugangsberechtigung aus.“
Faith lächelte flüchtig. „Heute interessieren mich ältere Dokumente“
„Mal gucken, was ich finden kann. Wir haben Informationen über die Eigentumsverhältnisse, die Grundsteuer, die Baupläne und Pläne über die Umbauten. Außerdem gibt es hier Stadtteilkarten, Lagepläne ...“ Dorothy zuckte mit den Schultern. „Was Sie auch wollen, irgendwo haben wir es.“
Es klang fast zu einfach, aber Faith spürte, wie ihre Begeisterung wuchs. „Es sieht so aus, als würde ich einige Zeit an diesem Tisch verbringen.“
Dorothy nickte. „Aber ich muss Sie warnen, das kann süchtig machen. Bis Sie fertig sind, werden wir beide einander ziemlich gut kennen lernen.“
Die nächsten beiden Tage liefen nach demselben Muster ab: Faith schickte die Kinder in die Schule und machte sich dann an die Aufarbeitung der Schränke, bis sie das Gefühl hatte, dass ihr die Arme vom Körper fielen. Dann duschte sie und ging in die Bibliothek; auf dem Weg dorthin aß sie eine Kleinigkeit bei „Marvelous Market“. Zwar arbeitete sie gerne mit ihren Händen, aber die Stunden in der Bibliothek waren ihr die liebsten.
Freitagnachmittag um halb vier hatte Faith die Geschichte des Hauses grob umrissen. Es war 1885 für einen Mann namens Jedediah Wheelwright errichtet worden, der ihr Ururgroßvater war und eine Frau geheiratet hatte, die Candace hieß.
An Georgetown-Maßstäben gemessen, war das Reihenhaus geradezu jung. Auf dem Grundstück hatten früher bereits Häuser gestanden, über deren Geschichte Faith noch nichts herausgefunden hatte. Sie wusste aber, dass Jedediah kein reicher Mann gewesen war. Wie viele seiner Nachbarn hatte er am Washington-Kanal gearbeitet, und um sich dieses Haus leisten zu können, das selbst für damalige Verhältnisse billig gewesen war, hatte er sich offenbar zu Tode geschuftet.
Nach Jedediahs frühem Tod hatte Candace sich ihren Lebensunterhalt als Hutmacherin verdient. Faith fand sogar eine kleine Anzeige in einer alten Tageszeitung, in der es hieß, der Wheelwright-Hutladen sei der Einzige, der für „Damen von Rang“ in Frage komme.
Nach Candace’ Tod ging das Haus auf ihr einziges Kind, Violet Atkins, und deren Mann James über. Violet und James wohnten dort bis an ihr Lebensende, und einige Jahre später zogen ihre Enkeltochter Lydia und ihr Gatte Joe ein.
Millicent, Lydias Mutter, war zwar in dem Haus geboren worden, hatte aber als Erwachsene nicht darin gelebt. Nach ihrer Hochzeit mit Harold Charles ging sie fort, da seine außergewöhnliche Karriere im Außenministerium Aufenthalte in allen Gegenden der Welt erforderte. Millicent starb an Malaria, die sie sich während einer Kongoreise zugezogen hatte. Harold, der deutlich älter war, kam zwei Jahre später bei einem schweren Autounfall ums Leben.
Und schließlich betrat Lydia die Szene. Einsam und verloren, verliebte sie sich wenige Monate nach dem Tod ihres Vaters in Joe Huston.
Faith konnte sich gut vorstellen, dass der forsche Politiker, der auf alles eine Antwort parat hatte, der orientierungslosen jungen Frau imponiert haben musste. Und umgekehrt war die hübsche Debütantin, deren Familienname einem in Washington alle wichtigen Türen öffnete, für einen Mann, der seine politische Laufbahn ankurbeln wollte, eine gute Partie gewesen.
Faith kam es so vor, als habe sie einen flüchtigen Blick auf jenen Strom werfen dürfen, der sie ins Dasein gespült hatte. Namen. Daten. Berufe. Jedes Detail, das sie entdeckte, bestärkte sie in dem Gefühl, Teil dieser Geschichte zu sein. Ihre Nachforschungen galten nicht nur einem Gebäude, sondern dem Ursprung dieses Stroms. Das Haus war so etwas wie die Quelle, an der sich all ihre Vorfahren versammelt und gelabt hatten.
Und sie saß offensichtlich schon zu lange in der Bibliothek.
„Es scheint, als würde Ihnen die ganze Sache Spaß machen.“
Faith blickte auf. Eine ältere Dame in einem marineblauen Designerkostüm, an dem selbst Lydia nichts hätte aussetzen können, stand ihr gegenüber. Ihr kurzes Haar war silbergrau, und jede Strähne lag akkurat.
„So ist es.“ Faith versuchte, die Fremde einzuordnen, aber es gelang ihr nicht.
„Das begreife ich nicht. Die Bücher, die Sie sich angesehen haben, sind noch schlimmer als die, die man mir gegeben hat.“
„Forschen Sie nach einem Haus? Oder einer Person?“
„Einem Haus. Nächste Woche kommt mein Chor zum Liederabend, und ich fürchte, dass irgendjemand Fragen stellen wird, die ich nicht beantworten kann. Das passiert immer. Dieses Mal will ich gewappnet sein.“ Sie zog eine Grimasse, was sie offensichtlich nicht oft tat – aus Angst, eine solche Aktion könne eine Falte in ihrem Gesicht hinterlassen. „Mir wäre es viel lieber, wenn jemand das für mich erledigen könnte ...“ Dann ging sie.
„Wer war diese Dame?“ fragte Faith, als Dorothy ein paar Minuten später vorbeischaute. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie sie kannte.
Dorothy lächelte, als wolle sie sagen, dass sie keine Namen nennen dürfe. Aber sie gab ihr einen Hinweis. „Während der Reagan-Ära hat sie mit Nancy zu Mittag gegessen, wann immer ihre Terminpläne es zuließen. Noch heute fliegt sie mindestens einmal im Monat nach Kalifornien, um diese Tradition aufrechtzuerhalten.“
„Ich bezweifele, dass sie öfter im Peabody-Saal ist.“
„Sie wären überrascht, wie viele solcher Leute es gibt. Sie möchten die Fakten, aber nicht die Akten.“
Das musste Faith erst einmal verdauen. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass sich viele Menschen nicht für Geschichte interessierten.
Dorothy wollte gehen, aber Faith hielt sie zurück. Der Blick in die Familiengeschichte hatte sie darauf vorbereitet, sich dem Teil zuzuwenden, der sie selbst am stärksten betraf.
„Sie haben ein Album erwähnt, in dem es um die Entführung meiner Schwester geht ...“
„Ich habe mich schon gewundert, dass Sie noch nicht danach gefragt haben.“
„Heute schaffe ich es nicht mehr, es durchzugucken, aber vielleicht gibt es ein paar Artikel darin, die ich schon mal kopieren könnte.“
„Sind Sie noch ein bisschen hier?“
Faith schaute auf die Uhr. Remy und Alex mussten jeden Augenblick von der Schule kommen, aber sie konnten ruhig eine Weile allein bleiben. Eigentlich war Remy alt genug zum Babysitten. Faith würde mit ihrem Handy zu Hause anrufen und eine Nachricht auf Band sprechen.
„Etwa zwanzig Minuten“, antwortete sie Dorothy.
„Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann.“
David ahnte, dass er sich selbst und die Kinder in neue Schwierigkeiten bringen würde, indem er bei ihnen auftauchte. Aber er war gerade in der Nähe bei einem Vorstellungsgespräch gewesen, und die Sehnsucht nach Alex und Remy hatte ihn vor Faith’ Tür getrieben. Das Haus war abgeschlossen, und er vermutete, dass seine Frau die Kinder gerade von der Schule abholte. Vorsichtig ließ er sich in seinem besten Anzug auf den Treppenstufen nieder.
David hatte die ersten gut vierzig Jahre seines Lebens in der Überzeugung verbracht, stets zu wissen, was zu tun war. Sein Vater hatte nie irgendetwas in Zweifel gezogen. Es gab nur einen Weg, den Weg des Herrn, und nichts anderes kam in Frage. Als Erwachsener hatte David Arnold Bronsons Vorurteile und Überzeugungen natürlich durchschaut. Er hatte sich sein eigenes Wertesystem zurechtgebastelt, aus Komponenten, die er von seinem Vater oder von anderen Mentoren übernahm. Manche beruhten auch auf eigenen Überlegungen, die er in den Stunden angestellt hatte, die er auf Knien verbrachte.
Jetzt war er orientierungslos. Ganz besonders, wenn es um seine Kinder ging. Zu Alex baute er zaghaft eine neue Beziehung auf, die ihn mit Hoffnung erfüllte. Die gestelzten Dialoge verwandelten sich allmählich in freundliche, altmodische Vater-und-Sohn-Gespräche. Er erkannte, dass er seinen Sohn nie so akzeptiert hatte, wie er war, und seinen Fähigkeiten zu wenig Beachtung geschenkt hatte. Alex war Faith’ Kind gewesen, Remy Davids. Geliebt hatte er sie beide. Er hätte jederzeit sein Leben für Alex hingegeben, aber er hatte nie versucht, ihn wirklich zu verstehen.
Zum ersten Mal nahm er wahr, was für ein einzigartiges und interessantes Kind er gezeugt hatte. Die Zeit, die sie miteinander verbrachten, war ihm doppelt kostbar: Sie wog all die Tage auf, an denen er Alex nicht sehen konnte, und die Jahre, in denen er zu voreingenommen gewesen war, um in seinem Sohn den Jungen zu erkennen, der er wirklich war.
Diese neue Nähe zu Alex ließ ihn Remy umso schmerzlicher vermissen.
Er erinnerte sich gut an den Tag, an dem Faith und er mit ihrer Tochter aus dem Krankenhaus gekommen waren. Sie war ein kleines Baby gewesen, so zerbrechlich und verwundbar. Ein Blick auf sein Töchterlein hatte genügt, um ihn von irgendeinem Mann in Remys Vater zu verwandeln.
Daran hatte sich in all den Jahren wenig geändert. Er konnte sich an jedes wichtige Ereignis in Remys Leben, jedes Vorsingen, jedes Fußballspiel entsinnen. Die Stunden, die sie gemeinsam mit Diskussionen über Geschichte, Religion und Moral verbracht hatten, hütete er wie einen Schatz.
Faith’ Freundschaft fehlte ihm, und er sehnte sich danach, jeden Abend nach der Arbeit von Alex begrüßt zu werden. Aber Remy vermisste er so, wie er einen Arm oder ein Bein vermissen würde.
David rutschte ein Stück und lehnte sich gegen das Geländer. Es war alt und rostig, und er versuchte möglichst wenig Druck darauf auszuüben. An dem Haus musste so viel getan werden. An ihrem Leben musste so viel getan werden. Wie das Geländer konnte die Familie unter jeder winzigen weiteren Belastung irreparabel zusammenbrechen. Es war nötig, das Verhältnis zu seiner Tochter in Ordnung zu bringen, und zwar jetzt. Wenn er es jetzt nicht schaffte, würde der Rost den letzten Rest an gesunder Substanz auch noch zerfressen.
Nach etlichen Minuten entdeckte er Remy und Alex, die sich von der Wisconsin Avenue aus näherten. Er hatte nicht gewusst, dass sie den Schulweg zu Fuß zurücklegten, und er nahm Faith diese Entscheidung übel. Er fragte sich, worüber seine Kinder wohl gerade sprachen. Unterhielten sie sich über die Veränderungen in ihrem Leben? Versuchte Alex seine Schwester zu überreden, David eine Chance zu geben?
In seinen wildesten Träumen hatte er sich nicht vorstellen können, dass sein Sohn ihn eines Tages vor seiner Tochter in Schutz nehmen würde.
Remy und Alex waren noch einen halben Häuserblock entfernt und ins Gespräch vertieft. Keine angenehme Unterhaltung offenbar, sondern ein Streit, wie ihre Mienen verrieten. Obwohl Alex jünger war als seine Schwester, überragte er sie bereits. Hatte sie den lästigen kleinen Bruder früher von oben herab behandeln können, musste sie jetzt zu ihm aufblicken. Sie streckte das Kinn störrisch vor, ballte die Fäuste und sprach so laut, dass David ihre Stimme hören konnte.
Plötzlich erkannte Remy ihren Vater.
Ihr Verdruss schien sich in Hass zu verwandeln. Sie kniff die Augen zusammen, und auch wenn er es aus dieser Entfernung nicht sah, wusste er, dass sie gefährlich blitzten. Mitten im Schritt hielt sie inne und wippte auf den Absätzen vor und zurück. Auf einmal änderten sich ihre Haltung und ihr Gesichtsausdruck noch einmal; sie schien flüchten zu wollen.
Davids erster Gedanke war, ihr nachzulaufen, falls sie wegrennen sollte. Dann überlegte er es sich anders. Schließlich konnte er Alex nicht einfach stehen lassen. Außerdem würde Remy sich sehr gedemütigt fühlen, wenn er sie wie eine aufsässige Zweijährige einfing.
Er hielt den Atem an und betete still, dass sie näher kommen würde. Sein Gebet wurde erhört. Alex flüsterte seiner Schwester etwas zu, so leise, dass David kaum mehr als ein Murmeln vernahm. Remy warf den Kopf zurück, und ihr blondes Haar fiel über das zerknitterte grüne T-Shirt. Sie sah erschöpft, durcheinander und ungepflegt aus, als sei es ihr egal, was sie in der Schule trug und ihre Mitschüler von ihr dachten.
Sie sagte etwas zu Alex, wiederum zu leise, als dass David es hätte verstehen können. Entschlossen marschierte sie dann auf ihn zu.
„Hallo, Mutti.“ Seit seinem Coming-out hatte er sich schon viel anhören müssen, aber nichts davon hatte so boshaft geklungen.
David stand auf. „Ich dachte, wir drei könnten vielleicht ein Eis essen gehen.“
„Wie in McLean, was? Wie in den guten alten Zeiten?“
„Du fehlst mir, Remy. Ich weiß, dass du mir böse ...“
„Böse? Ich?“ Sie lachte gekünstelt. „Warum sollte ich dir böse sein?“
„Remy“, schaltete sich Alex ein. „Dad versucht nur ...“
„Halt’s Maul!“ Mit funkelnden Augen drehte sie sich zu ihrem Bruder um. „Halt einfach die Klappe, Alex. Du hast ja keine Ahnung, wie es mir geht!“
Alex warf David einen besorgten Blick zu, und Davids Herz flog seinem Sohn zu. Alex wollte so gerne den Friedensstifter spielen, aber er hatte keine Chance. Selbst Madeleine Albright hätte hier keine Chance gehabt.
„Alex, Junge, lass gut sein“, meinte David. „Remy und ich müssen das ohne dich klären.“
„Genau, Alex.“ Remy wandte sich ihrem Bruder zu. „Du kannst nicht alles reparieren, damit das klar ist. Du bist ein Kind, und Kinder haben keine Ahnung.“
„Das ist Daddy“, entgegnete Alex und richtete sich zu voller Größe auf, sodass er sie um fünf Zentimeter überragte. „Du sollst auf das hören, was er sagt. Ehre deinen Vater und ...“
Sie schnaubte vor Wut und schubste ihn so fest, dass er trotz seines höheren Gewichts rückwärts taumelte.
David hatte genug gesehen. Er griff nach Remys Arm, um sie zu bremsen, und sie fuhr herum. Bevor er ihre Absicht durchschaute, rammte sie ihm die Rechte in den Magen, und als er sich vor Schmerz krümmte, schlug sie noch einmal zu.
„Ich hasse dich!“ schrie sie. „Ich hasse dich! Ich will dich nicht sehen. Ich will dich nicht hören. Ich will nie, nie wieder mit dir reden! Ich hasse dich. Du hast mein Leben versaut! Du hast Alex’ und Moms Leben versaut. Du Homo! Tunte! Du hättest nie Kinder zeugen dürfen! Leute wie du haben keine Kinder!“
Sie ließ von ihm ab, machte ein paar Schritte zurück und hielt beide Fäuste wie einen Schild vor ihr Gesicht.
Alex wollte sich auf sie stürzen, aber David fuhr dazwischen. Er holte tief Luft. Hinter den Schlägen eines schmalen vierzehnjährigen Mädchens steckte nicht viel Kraft, aber einen Moment lang hatten sie ihm trotzdem den Atem geraubt.
Doch die Auswirkungen auf ihrer aller Leben waren viel größer.
„Alex, geh rein“, sagte er. „Hast du einen Schlüssel?“
Alex schluchzte. „Ja, aber ...“
„Geh schon, Junge. Wir reden später.“
Alex stolperte die Stufen hinauf. Die alte Tür schwang auf, und Alex verschwand.
David starrte seine Tochter an. Sie hielt noch immer die Fäuste hoch, aber der Zorn in ihren Augen ließ nach. Sie ähnelte dem Kind, das er gezeugt und aufgezogen hatte, jetzt wieder etwas stärker. Aber sie war dieses Kind nicht mehr und würde es nie mehr sein. Er hatte keine Ahnung, wie er sich der neuen Remy gegenüber verhalten sollte.
„Ganz egal, wie wütend du bist“, eröffnete David behutsam das Gespräch. „Du wirst nie wieder gegen mich, Faith oder Alex die Hand erheben.“
„Ach, tatsächlich?“
„Tatsächlich.“
Sie ließ die Hände ein paar Zentimeter sinken, mehr nicht. „Ich stehe zu jedem Wort. Ich will mit dir nichts zu tun haben. Halte dich von mir fern!“
Er wusste nicht, was er tun sollte. Nichts in all den Jahren hatte ihn auf so etwas vorbereitet. Er konnte weiter versuchen, sich einen Platz in Remys Leben zu erzwingen, notfalls sogar mit Hilfe von Gerichtsbeschlüssen.
Oder er tat, was sie wollte, und verschwand aus ihrem Leben. Nicht für immer, aber bis sie reif genug wäre, das, was geschehen war, besser zu verstehen.
Er schaute zu Boden. „Als ich auf euch wartete, habe ich hier gesessen und mich an all die schönen Ding erinnert, die wir zusammen erlebt haben, Remy. Euer Vater zu sein ist das Beste, was mir im Leben passiert ist.“ Er sah sie an. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert. Er wirkte immer noch abweisend.
„Ich möchte euch nicht verlieren“, fuhr er leise fort. „Also werde ich warten, bis du auf mich zukommst. Du brauchst keine Angst zu haben, dass ich dich für das hasse, was du heute getan hast, oder dass ich eines Tages nichts mehr mit dir zu tun haben will. Ich bin dein Vater. Ich werde für dich da sein, bis ich sterbe, auch wenn dir das nicht passt.“
„Das passt mir in der Tat nicht.“
„Das hast du mir heute deutlich gemacht.“
Er nahm die Traurigkeit wahr, die sich hinter ihrem Sarkasmus verbarg, ebenso wie ihre Unsicherheit und ihren Zorn. Dreizehn Jahre lang hatte er ihr bestimmte Dinge gepredigt – und vertrat jetzt plötzlich eine vollkommen andere Meinung. Sie konnte nicht mehr beurteilen, wer er war, und war zu verängstigt, um ihm noch eine Chance zu geben.
Er verstand, was sie umtrieb. Der Schmerz in seinen Eingeweiden stammte nicht von den Schlägen seiner Tochter, sondern von der Sorge um ihre zerrissene Seele.
„Hast du meine Telefonnummer?“
„Brauch ich nicht.“
„Alex hat sie. Deine Mutter auch.“
„Das ist deren Problem.“
Er trat beiseite. Sie schoss an ihm vorbei ins Haus und knallte die Tür dann laut zu.
David stand noch wie angewurzelt da, unfähig sich zu bewegen oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, als er hinter sich eine Stimme hörte.
„David?“
Er drehte sich um und sah Faith auf ihn zukommen, aus derselben Richtung wie vorhin ihre Kinder.
„Was tust du hier?“ Sie lächelte nicht, schien aber auch nicht ungehalten, ihn zu treffen. „Stimmt was nicht?“
„Ob was nicht stimmt?“ Er lachte bitter. „Unsere Tochter hasst mich. Das stimmt nicht.“
Sie warf einen flüchtigen Blick in Richtung Haustür. „Du hast mit Remy gesprochen?“
„Ich hab’s versucht.“ Dort, wo noch vor einer Minute ein großes schwarzes Loch gewesen war, tobten jetzt widerstreitende Gefühle. „Sie teilte mir mit, dass sie mich hasst. Sie hat Alex geschubst und mich geschlagen.“
Faith atmete scharf ein. „David, nein. Ich ...“
„Was hast du ihr erzählt, Faith? Schürst du ihren Hass? Sagst du ihr, wie einsam du dich fühlst, wie dich die Geldsorgen drücken, wie traurig du bist, dass sich dein Leben verändert hat?“
Sie schaute ihn verwirrt an. „Wovon redest du?“
„Das ist Remy! Meine Tochter. Meine Tochter, die mich vergöttert hat! Irgendwo muss das doch herkommen.“ Als er sich mit den Fingern durchs Haar fuhr, bemerkte er, wie sehr seine Hände zitterten.
„Willst du damit andeuten, dass es meine Schuld ist?“ Jetzt wurde Faith wütend. „Wie kannst du es wagen! Ich liebe Remy. Ich würde ihr das nicht antun. Ich habe versucht, ein gutes Wort für dich einzulegen, aber Gott weiß, dass sie auf diesem Ohr taub zu sein scheint. Wie kannst du nur annehmen, dass ich sie unglücklicher machen würde, als sie schon ist? Für all den Tumult in ihrem Dasein ist genau ein Mensch verantwortlich, und der bin nicht ich!“
„Du bist die Erziehungsberechtigte. Du hast sie ständig um dich. Was denkst du denn, was hier geschieht? Findest du diese Wutanfälle normal? Meinst du wirklich, das wächst sich aus? Warum hast du ihr keine Hilfe besorgt?“
„Ich denke, dass sie mit einer Million neuen Dingen auf einmal fertig werden muss. Ich glaube, dass sie Zeit braucht, und du offenbar auch. Du kreuzt hier nie, nie wieder auf, um mir vorzuwerfen, dass ich Öl ins Feuer gieße! Mit all deinen Aktionen hast du die Sache nur noch schlimmer gemacht, als sie schon ist.“
Beide hatten sich verausgabt, nun starrten sie einander an. Er gab als Erster nach, aber nur ein wenig.
„Tut mir Leid.“ Die Worte waren kaum hörbar.
„Das sollte es auch, verdammt.“
„Sie braucht Hilfe, Faith.“
„Wir alle brauchen Hilfe, David.“
„Ich habe ihr versprochen, dass ich sie nicht mehr zu treffen versuche, solange sie es nicht will.“
„Wir tappen beide im Dunkeln, David. Ich habe keine Ahnung, wie ich mich dir gegenüber verhalten soll, aber ehrlich gesagt, ist das die geringste meiner Sorgen. Ich muss Prioritäten setzen.“
„Wie sieht es mit professioneller Hilfe aus?“
Sie atmete tief ein, vielleicht um Zeit zu gewinnen. „Wenn ich ihr sage, dass sie zum Therapeuten soll, rastet sie aus. Unsere Beziehung ist im Moment nicht sehr belastbar. Du bist nicht der Einzige, den sie hasst.“
„Meinst du, dass du allein damit fertig wirst?“
„Welche Alternative habe ich denn schon?“
„Die Alternative, einen Experten um Rat zu fragen.“
„Wenn es schlimmer wird, werde ich eine psychologische Beratung in Erwägung ziehen. Bis dahin tue ich, was ich für das Beste halte. Ich bin diejenige, die das Porzellan aufsammeln muss, das du zerschlagen hast.“
Er überlegte, was er darauf erwidern sollte. Ihm fiel keine passende Antwort ein – das passierte ihm oft in seinem neuen Leben. Schließlich nickte er nur knapp und ging davon.