5. KAPITEL

In McLean war Remys Zimmer fast so groß wie ein ganzes Stockwerk im Haus an der Prospect Street. Sie hatte ein eigenes Bad und einen Wandschrank, der groß genug war, um ein Pferd darin unterzustellen. Faith fragte sich, was David und sie sich dabei gedacht hatten, als sie mit den Plänen des Architekten einverstanden gewesen waren. Vielleicht hatten sie geglaubt, ein perfektes Haus sorge für eine perfekte Kindheit. Sie erinnerte sich, dass sie versucht hatte, das Haus so freundlich, so gemütlich zu gestalten, dass die Kinder es nie würden verlassen wollen. Dummerweise war ihr das gelungen.

Jetzt, ein paar Stunden nach ihrem Ausflug nach Georgetown, war es im Haus in McLean eigentümlich still. Im Augenblick stand Faith in der Tür zu Remys Zimmer und wartete darauf, dass ihre Tochter sie hineinbat. Remy saß mit verschlossener Miene im Schneidersitz mitten auf ihrem weißen Himmelbett und schwieg.

„Megan hat keine Zeit, was?“ fragte Faith.

„Sie übernachtet bei Jennifer.“ Remy warf sich auf den Rücken und starrte den Baldachin an.

„Darf ich reinkommen?“

„Wenn es sein muss.“

Faith durchquerte das Zimmer, vorbei an einer Regalwand, in der die Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke aus vierzehn Jahren ordentlich aufgereiht waren – eine Rückschau auf Remys Leben. Sie hockte sich auf die Bettkante. „Du bist traurig.“

„Bin ich nicht.“

Faith suchte nach einem Weg, um an Remy heranzukommen.

„Wenn ich du wäre – und ich weiß, dass ich nicht du bin –, hätte ich das Gefühl, dass mein Leben zu Ende geht. Alles verändert sich, und man kann nichts dagegen tun.“

„Und?“

„Na ja, nichts tun zu können frustet.“

„Du musst nicht wie ein Teenager reden, damit ich dir zuhöre.“

Faith wartete.

„Alle wissen über Daddy Bescheid. In der Schule, hier in der Straße. Wieso hast du es nicht gleich gewusst? Du warst mit ihm verheiratet.“

Faith war sich im Klaren, dass Remy unter Davids Abwesenheit am meisten litt. Sie hatte ihm näher gestanden als Alex. Remy und David hatten immer eine sehr tiefe Bindung gehabt, die bisher alle Stürme im familiären Wasserglas überdauert hatte. Nur diesmal nicht.

Faith holte tief Luft, bevor sie antwortete. „Ganz ehrlich, ich hatte nicht den leisesten Verdacht. Dieses Geheimnis war wirklich gut verborgen; sogar dein Vater hat sich die Wahrheit nicht richtig eingestehen können.“

„Ach was. Jetzt kommt er mit der Wahrheit plötzlich ziemlich gut zurecht, nicht? Er lebt mit einem Mann zusammen. Sie haben Sex miteinander. Das ist so krank, dass ich gar nicht daran denken mag.“

„Du musst auch nicht daran denken, Schatz. Aber ganz gleich, was für ein Leben er jetzt führt, er ist immer noch dein Vater.“

„Er sollte überhaupt kein Vater sein. Meiner wird er nie wieder. Ich will ihn nie wiedersehen.“

Faith hütete sich zu erklären, dass Remy über kurz oder lang gar nichts anderes übrig blieb, als David zu treffen. Dass ausgerechnet der Mann, der Anti-Diskriminierungs-Gesetze immer für überflüssig gehalten hatte, nun jedes Gericht auf seiner Seite hätte, sobald es um sein Besuchsrecht ging.

„Lass uns über dich sprechen“, sagte sie. „Was kann ich tun, um dir das alles leichter zu machen?“

„Ich will auf ein Internat.“

Faith griff nach Remys Hand, aber ihre Tochter entzog sie ihr und boxte mit der Faust in die Luft, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen: „Ich möchte nicht bei Großmutter wohnen. Ich mache das nicht mit. Und Großvater ist unmöglich. Ich darf bestimmt keine Freunde einladen oder Musik hören. Ich will weit weg gehen und nie zurückkommen.“

Faith fragte sich, wie viele Stiche ins Herz sie noch ertragen konnte, ohne zu verbluten. „Du kannst nicht aufs Internat, Remy. Wir haben nicht das nötige Geld.“

„Du redest immer nur über Geld!“

„Dummerweise muss ich das. Ihr braucht keine Angst zu haben, dass wir auf der Straße landen, nicht genug zu essen haben oder uns keine gute Kleidung mehr leisten können. Wir laufen nicht Gefahr zu verarmen. Aber Extras wie ein Internat sind nicht drin.“

„Wenn Großmutter und Großvater uns nicht aufnehmen würden, säßen wir doch auf der Straße.“

„Bald wird alles besser. Ich werde mir Arbeit suchen. Dein Dad versucht auch wieder eine gute Stelle zu finden, um Unterhalt für euch zahlen zu können.“

„Als ob den noch irgendjemand anstellen würde. Wer will schon, dass eine Schwuchtel den Leuten mitteilt, was sie denken sollen?“

„Remy, dieses Wort wirst du nicht mehr benutzen.“

„Aber es stimmt.“

„Das ist ein abfälliger Ausdruck, und du verwendest ihn bitte nicht für deinen Vater, der dich seit deiner Geburt geliebt und umsorgt hat.“

Remy rollte sich zur Seite und drehte Faith den Rücken zu. „Wir werden immer arm bleiben. Du hast nie eine Arbeit gehabt, und er wird keine finden. Ich muss bei meiner Großmutter leben, bis ich mit der Schule fertig bin.“

Faith’ Aussichten waren in der Tat nicht rosig. Sie hatte einen einfachen Abschluss in europäischer Geschichte, aber keine Berufserfahrung. Bevor sie David traf, hatte sie vorgehabt, noch einen höheren Abschluss zu machen und dann Lehrerin zu werden. Zwar hatte sie immer davon geträumt, wieder an die Uni zu gehen, wenn die Kinder älter wären, aber ein brennendes Verlangen nach einer Berufstätigkeit hatte sie nicht verspürt. Sie hatte den perfekten Mann geheiratet. Wozu also die Eile?

Wäre David einfach gestorben, dann hätte ein dichtes soziales Netz aus ihren politischen und gesellschaftlichen Kontakten sie aufgefangen. So jedoch wäre es den meisten dieser Leute wohl zu peinlich, sie einzustellen. Sie mochte Joe Hustons Tochter sein, aber die konservativen Verbündeten des Senators würden in Faith vor allem die ahnungslose Exfrau David Bronsons sehen.

Sie versuchte Remy zu beruhigen. „Ich werde ein paar Kurse in Textverarbeitung belegen und mich nach einer Stelle im öffentlichen Dienst umschauen. Ich bin keine totale Null, weißt du. Ich bin sogar ziemlich helle.“

„Nicht helle genug, um herauszufinden, dass du mit einem Homo verheiratet warst.“

Faith zuckte zusammen. Diese Seite an ihrem Kind, das sie inund auswendig zu kennen glaubte, war ihr völlig neu. Sie musste wieder an ihr Gespräch mit Lydia denken: Hier hatte sie den Beweis vor sich, dass sie und David Nachkommen aufgezogen hatten, die nicht mit Problemen fertig wurden. Remy war ein Sonnenschein, wenn alles in ihrem Sinne lief, aber das Leben besaß auch Schattenseiten.

Das hatten Faith und David leider versäumt, ihrer Tochter zu vermitteln.

Sie stand auf. Mitgefühl hatte keine Wunder bewirkt. Es war Zeit für die Wahrheit. „Also, Remy, so sieht’s aus: Wir haben das Haus verkauft. Wir hatten keine andere Wahl. Dein Vater und ich lassen uns scheiden, und auch dazu gibt es keine Alternative. Du bist vierzehn und musst damit leben. Aber es gibt ein paar Dinge, auf die ich Einfluss nehmen kann. Ich habe etwas ausgeklügelt, damit wir nicht bei euren Großeltern in Great Falls wohnen müssen.“

Wie Faith vermutet hatte, gewann Remys Neugier zögerlich die Oberhand. „Wie soll das gehen?“

„Wenn deine Großmutter Ja sagt, werden wir in das Haus in der Prospect Street ziehen.“

Remy setzte sich auf. Fassungslos starrte sie ihre Mutter an. „Du machst wohl Witze! Das Haus stinkt, als hätte jemand in die Korridore gemacht. Und in der Küche habe ich ein Tier gesehen, vielleicht eine Ratte, und auf der Straße hat ein Penner Dosen aus dem Müll gefischt. Und wie sollte ich von da zur Schule kommen?“ Sie stockte, als ihr die Antwort dämmerte. „Gar nicht, was?“

Faith dachte nach, was sie auf diese Frage entgegnen sollte. Sie war in diesem Punkt selbst noch zu keiner Entscheidung gelangt und musste ihre Antwort vorsichtig formulieren. „Bis jetzt steht noch gar nichts fest, was die Akademie angeht. Das Schulgeld ist zu hoch, wenn ich außerdem noch etwas fürs College ansparen will. Ich muss jetzt alles, was ich habe, gut anlegen, damit ihr gute Universitäten besuchen könnt.“

„Lass Großvater das College bezahlen. Das würde er.“

„Wenn er zahlt, bestimmt er auch, an welches College du zu gehen hast und welches Hauptfach du studieren wirst. So sieht es nun mal aus.“ Faith hatte es schließlich selbst erlebt.

„Dann lass ihn für die Akademie zahlen. Das würde er.“

Faith war sich da gar nicht so sicher. Selbst wenn sie ihn anflehen würde: Er ärgerte sich immer noch sehr über die demütigende „Fahnenflucht“ seines Schwiegersohnes, dass ihm durchaus zuzutrauen war, seine Enkel für Davids Sünden büßen zu lassen.

Aber selbst wenn er das Schulgeld zahlen würde, sie wollte nicht von Joe Huston abhängig sein. Er war ein strenger Mann, und als Senator waren ihm sämtliche Druckmittel recht. Wenn er Faith half, die Bildung der Kinder zu finanzieren, würde er sie das ständig spüren lassen, was sicherlich nicht sehr angenehm war.

Faith sah ihre Tochter an. „Ich will ehrlich sein, denn du bist alt genug, um damit umgehen zu können. Das letzte halbe Jahr an der Akademie war kein Zuckerschlecken für dich, und für deinen Bruder ist es das nie gewesen. Ich finde, ihr braucht eine neue Schule, eine, die nicht so tut, als denke alle Welt dasselbe. Es wird Zeit, dass ihr über den Tellerrand hinausschaut.“

„Ich werde nicht auf eine staatliche Schule gehen.“

„Vielleicht ist ein Neuanfang gut für dich. Du brauchst kein Internat, sondern eine andere Perspektive. Die staatliche Schule könnte dir genau das bieten.“

„Du willst doch nur deine kostbaren Ersparnisse nicht an mich verschwenden. Ich bin dir egal.“

Das Telefon klingelte, und als Remy sich nicht rührte, griff Faith nach dem Hörer. Ihre Mutter war am Apparat.

Ein paar Augenblicke später hängte Faith ein.

„Du zwingst uns also wirklich, in diesen Slum zu ziehen, was?“ stellte Remy fest. „Ganz egal, was ich sage.“

Faith fragte sich, worauf sie sich da gerade eingelassen hatte. Sie hatte die Sicherheit von Great Falls und einen Lebensstil aufgegeben, der ihr zumindest vertraut war. Gegen diese bekannte Größe hatte sie eine Bruchbude in der Prospect Street und die zweifelhaften Freuden des Stadtlebens eingetauscht.

Sie nickte kurz. „Georgetown ist alles andere als ein Slum. Wenn du das glaubst, hast du wirklich noch nicht genug von der Welt gesehen. Das wird sich jetzt ändern. Deine Großmutter hat sich entschlossen, uns in dem Haus wohnen zu lassen.“

„Ich gehe nicht mit.“

Remy würde gar nichts anderes übrig bleiben. Faith hoffte nur, dass ihre Tochter in nicht allzu ferner Zukunft begreifen würde, warum dieser Umzug und alles, was damit zusammenhing, nötig war.

Eine Stunde später lag Faith im großen Badezimmer in der Wanne. Sie hatte das Gespräch mit Remy beendet, um ihrem Sohn die Neuigkeiten mitzuteilen. Alex war sehr in seine Versuche vertieft gewesen, die strikten Zugangsbeschränkungen zu umgehen, die David auf seinem Computer eingerichtet hatte. Als sie mit ihrer kleinen Rede fertig war, blickte er auf.

„Kann ich auf dem Dachboden wohnen? Ich komme nur mit, wenn ich unterm Dach wohnen darf.“

„Was bist du, Kleiner, eine Fledermaus?“

„Ich wette, da oben ist es cool. Und da wohnen die Geister, nicht?“

„Es gibt keine Geister.“

„Mrs. Garfield hat uns was anderes erzählt. Sie meinte, Geister sind Seelen, die aus dem Himmel rausgeworfen werden, weil sie ungehorsam waren.“

Faith hatte den Verdacht, dass Mrs. Garfield, die unermüdlich einfallsreiche Klassenlehrerin von Alex’, mit diesem Trick versuchte, den ungestümen Jungen ruhig zu stellen. Faith zerzauste ihrem Sohn die unbändigen roten Locken. Sein Haar – sowohl die Struktur als auch die Farbe – unterschied ihn von allen anderen Familienmitgliedern. Zwar mochte es keine Geister geben, ein Kobold aber saß direkt vor ihr.

„Hör zu, du kannst dir auf dem Speicher eine Werkstatt einrichten. Für deine Erfindungen.“

„Echt?“ gluckste Alex. „Glaubst du, es gibt da wirklich Fledermäuse?“ Die Vorstellung schien ihm zu gefallen.

Sie hoffte, dass ihr wenigstens dieses Problem erspart blieb.

Alex’ Miene hellte sich noch weiter auf. „Darf ich auf eine andere Schule gehen?“

„Wäre das für dich in Ordnung?“

„Spitze.“ Er druckste ein wenig herum und ergänzte dann: „Vielleicht eine Schule, an der sie mich besser leiden können?“

Als sie nun im Whirlpool ausspannte, von dem es in gut einer Woche Abschied zu nehmen galt, fragte sich Faith, wie sie je hatte zulassen können, dass Alex auf eine Schule gehen musste, an der er sich von allen zurückgewiesen fühlte. In ihrer jetzigen Stimmung wollte sie David die Schuld geben, aber das war nicht fair. Als sie mit David Bronson vor den Altar getreten war, hatte sie eine ganze Lebensweise, eine Denkungsart geheiratet und genau gewusst, was sie tat.

Es war ihr Vater gewesen, der sie ihrem künftigen Gemahl vorgestellt und den ruhigen jungen Mann als kommende Kraft in der konservativen Politik angepriesen hatte. Als Spätentwicklerin hatte Faith gerade begonnen, sich ihren eigenen Weg durchs Leben zu bahnen, aber von David war sie auf Anhieb so begeistert, so völlig hingerissen gewesen, dass sie ihre aufkeimende Unabhängigkeit nur zu gerne aufgegeben hatte, um seine Frau zu werden.

Sie wusste um die Konsequenzen. Sie hatte miterlebt, wie ihre Mutter ihr Leben ganz auf die Karriere ihres Vaters ausgerichtet hatte, und tat nun instinktiv dasselbe. Fünfzehn Jahre lang hatte sie an der Seite ihres Mannes gestanden und mit ihm eine perfekte Familie aufzubauen versucht, und sie hatte sich eingeredet, dass das eben ihre Berufung war.

Und sie hatte ihre Sache gut gemacht. Von Zeit zu Zeit hatte man sie gebeten, einen Vortrag über die Kultivierung eines christlichen Elternhauses zu halten, eine Ehre, die sie mit der Begründung abgelehnt hatte, sie sei mit genau dieser Kultivierung vollauf ausgelastet.

David andererseits hatte keine Gelegenheit ausgelassen, über die Themen zu sprechen, die ihm wichtig waren. Er war freundlich und zurückhaltend, eine Ausnahmegestalt in politischen und religiösen Kreisen. Anstatt andere Sichtweisen niederzumachen, vertrat er seine eigenen Standpunkte prägnant und voller Gefühl. Hätte er seinen Harvard-Abschluss in Theologie genutzt, um Pfarrer in der Gemeinde seines Vaters zu werden, wäre jede seiner Predigten um dasselbe Thema gekreist: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“

Aber nach Arnold Bronsons Tod hatte David das Amt seines Vaters nicht übernommen. Jetzt fragte sich Faith, ob ihr Noch-Ehemann damals mit seinen persönlichen Dämonen gerungen hatte. Denn hätte er die gleichen Ansichten wie sein Vater vertreten, wäre ihm nichts anders übrig geblieben, als die Sünde der Homosexualität mit deutlichen Worten zu geißeln. Offensichtlich hatte irgendeine Instanz in ihm daran gezweifelt, ob das klug wäre.

Mit geschlossenen Augen und unter dem besänftigenden Einfluss der Kamillen- und Zitrusdüfte war Faith kurz davor, David zu bemitleiden. Er hatte gelogen; er hatte sie benutzt, um seine Lebenslüge aufrechtzuerhalten. Aber sie wusste, dass er ihr niemals hatte wehtun wollen.

Sie schlug die Augen auf und betrachtete ihren Körper, der entspannt im Wasser des Kräuterbads lag. Sie war nie mit ihm zufrieden gewesen. Zwar hatte sie die kleinen Brüste und schmalen Hüften eines Mannequins, aber leider nicht die passenden langen Beine.

Sie überlegte, ob gerade ihr Mangel an weiblichen Attributen die Ehe-Farce für David erträglich gemacht hatte.

Diese Vorstellung quälte sie nach all den Monaten noch immer. Sie schüttelte sich und musterte sich noch einmal genauer. Gut, sie war nichts Besonderes, aber galt das nicht für die meisten Frauen, die dennoch von Männern begehrt wurden? Stammten ihre Unzufriedenheit mit diesem Körper und ihr mangelndes Selbstwertgefühl aus den fünfzehn Jahren an der Seite eines Mannes, der sie auf Grund seiner Natur gar nicht begehrenswert finden konnte?

Hatte sie Davids Desinteresse unbewusst gespürt und sich selbst dafür die Schuld gegeben? So wie sie für alles und jedes in ihrem unverschämt perfekten Familienleben stets die Verantwortung übernommen hatte?

Wütend fegte sie ihre Handtücher, die Tube mit dem Badegel und eine unangezündete Kerze auf den gefliesten Boden. Als sie sich wieder etwas beruhigt hatte, sah sie, wie das schnurlose Telefon schwankte und dann auf die Badematte fiel, bevor sie es auffangen konnte.

„Verdammt!“ Das Wort kam ihr äußerst selten über die Lippen, aber heute Abend empfand sie es als durchaus angemessen. Wegen der Kinder war sie fest entschlossen, ein neues Leben zu beginnen. Doch gab es in ihr noch irgendetwas, worauf sie sich verlassen konnte – etwas das ihr helfen würde, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen?

Das Telefon klingelte. Sie hob es vom Fußboden auf und hörte die Stimme ihres Vaters. Nachdem sie sich verabschiedet hatte, stieg sie aus der Wanne und griff nach ihrem Bademantel.

Der Tag, der ihr wie einer der längsten ihres Lebens vorkam, wollte einfach kein Ende nehmen.

David stand vor dem Haus, an dessen Entwurf er mitgewirkt hatte, und schaute zu den Fenstern im ersten Stock hinauf. Remys Schlafzimmer lag im Dunkeln, aber hinter Faith’ Fenster schimmerte noch Licht.

Er stellte sich ihren unruhigen Schlaf vor. Faith hatte immer schlecht geschlafen, wenn er nicht zu Hause gewesen war. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die bei jedem Geräusch hochfuhren oder sich einbildeten, die Kletterrose, die ans Spalier schlug, wäre ein Einbrecher. Einmal hatte sie ihm erklärt, sie fühle sich einfach unvollständig, wenn er fort war.

Sie hatte ihm so viel erzählt, und er ihr so wenig.

Als er klein war, hatte ihm sein Vater beigebracht, nicht zu weinen. Isaak hatte nicht geweint, als sein Vater Vorbereitungen traf, ihn zu opfern. Wer war David, dass er weinen musste, wo jenes Kind doch angesichts einer so furchtbaren Aussicht still geblieben war?

Jetzt wollte er weinen. Weinen um den Menschen, der er gewesen war, und um das, was er heute war. Weinen, weil er einer Anziehungskraft erlegen war, die so stark war, dass sie seinen Selbstbetrug ans Licht gebracht hatte.

Und hier und jetzt auch um die Frau, die er verlassen hatte.

Der Mond war beinahe voll und schien sanft auf den zweistöckigen Bau im Kolonialstil. Eine Magnolie, die er gepflanzt hatte, reichte fast so hoch wie das Dach. Eine Platane, für deren Schutz er tausend Dollar ausgegeben hatte, als der Baugrund planiert worden war, ragte über die Garage. Das Haus war ein Hort der Geborgenheit, ein Zufluchtsort gewesen, aber in den letzten Jahren hatte er sich darin wie in einem Gefängnis gefühlt.

Faith würde seinen Besuch nicht gutheißen. Vor einigen Monaten hatte sie es so eingerichtet, dass sie an einem Nachmittag außer Haus gewesen war, damit er sein Hab und Gut abholen konnte. Über ihre Anwälte hatten sie vereinbart, welche Möbel und Dinge er mitnehmen durfte, aber er hatte etliche Bücher vergessen, an denen Faith garantiert nichts lag.

Er hatte wie ein Fremder auf der Straße geparkt. Jetzt trottete er den langen gepflasterten Bürgersteig entlang und klopfte vorsichtig an die Haustür. Seine Hände waren kalt, obwohl der Abend schwül war. Die Aussicht, über die Schwelle eines Hauses zu schreiten, das ihm bis heute gehört hatte, machte ihn nervös. Und noch mehr Beklemmungen bereitete ihm die bevorstehende Konfrontation mit der Frau, die immer noch seine Ehefrau war.

Es überraschte ihn, wie schnell sie öffnete. Sie war barfuß, trug Shorts und ein grellgelbes T-Shirt und hatte nasse Haare.

„Dad, ich ...“ Sie riss die Augen auf, als sie David erblickte. „Was tust du hier?“

„Faith, bitte mach die Tür nicht zu. Bitte.“

Sie blieb mitten in der Türöffnung stehen. „Sind heute Nachmittag nicht schon genug Worte gewechselt worden?“

„Tut mir Leid.“

„Das hast du schon gesagt.“

„Nein, es tut mir Leid, dass ich dich heute Abend störe. Aber auf dem Weg nach Ha... nach dem Vertragsabschluss ist mir eingefallen, dass ich die Bücher im Wohnzimmer noch nicht durchgeschaut habe. Die aus meinem Arbeitszimmer habe ich mitgenommen, aber ...“

„Ich werde sie einpacken und dir schicken lassen. Welche brauchst du?“

„Ich weiß es nicht genau. Dazu müsste ich sie durchsehen. Du kannst dabei sitzen, um sicherzugehen, dass ...“

„Ich will keines von deinen Büchern, David.“

„Darf ich dann hereinkommen und sie mitnehmen? Ich habe so lange wie möglich gewartet.“

Sie strich sich die Haare hinter die Ohren. „Du hättest dir keinen schlechteren Augenblick aussuchen können. Mein Vater ist auf dem Weg, um mir eine Standpauke zu halten. Wenn du nichts von dem einstecken willst, was er austeilen wird, solltest du besser verschwinden.“

„Warum macht er dir Vorhaltungen?“

Sie zog eine Braue hoch, um zu signalisieren, dass er kein Recht hatte zu fragen.

Er rang sich ein schiefes Lächeln ab. „Ich könnte dir das abnehmen. Du hast in den letzten Monaten weiß Gott oft genug für mich Prügel eingesteckt, nicht?“

Sie erwiderte das Lächeln nicht. „Mehr als du dir vorstellen kannst.“

Die Frau, die ihm den Zugang verwehrte, kam ihm zugleich vertraut und fremd vor. Sie hatten so viel geteilt, Erinnerungen, die ihn nie loslassen würden. Aber er fragte sich, wie gut er sie wirklich kannte. Vermutlich hatte er Faith unterschätzt. Er hatte eine solche Angst gehabt, ihr die Wahrheit zu sagen; er hatte geglaubt, sie würde zusammenbrechen. Jetzt zeigte sich, dass er falsch gelegen hatte. Ihr Leben ging weiter. Seltsamerweise beunruhigte ihn das.

„Ich ziehe in das Haus an der Prospect Street“, eröffnete sie ihm schließlich.

Einen Moment lang dachte er, er hätte sich verhört. „Prospect Street?“

„Mutters Haus in Georgetown. Es wird irgendwann ohnehin mir gehören, also hat sie es mir jetzt überlassen, eine Art steuerfreie Leihgabe. Aber de facto übernehme ich es diese Woche. Das löst eine Menge Probleme; vor allem haben die Kinder wieder ein eigenes Zuhause. Ich brauche nicht einmal gleich ein Auto. Ich kann in der Innenstadt Arbeit suchen.“

Er wurde ärgerlich. „Findest du nicht, dass du das mit mir hättest besprechen sollen?“

Ihre blauen Augen weiteten sich. „Wie bitte?“

„Es sind auch meine Kinder. Sollte ich nicht mit darüber entscheiden, wo sie leben?“

„Nicht, wenn diese Entscheidung mich persönlich betrifft. Was hättest du gesagt, David? Faith, du musst bei deinen Eltern wohnen? Ich bestehe darauf?“

Er fühlte sich, als müsste er ein Schiff durch einen Strudel lenken. „Natürlich nicht. Ich wäre nur gerne an so einer Entscheidung beteiligt. Ich bin ihr ...“

Als sie die Sprache wiederfand, bebte ihre Stimme vor Wut. Sie trat nach draußen und zog die Tür hinter sich zu. „Ja, du bist ihr Vater. Aber woher nimmst du das Recht, mir in den Rest meines Lebens hereinreden zu wollen? Fünfzehn Jahre lang habe ich alles getan, was du von mir erwartet hast, und wohin hat mich das gebracht? Jetzt bin ich dran mit dem Entscheiden. Und ich nehme die Kinder mit nach Georgetown.“

So wütend hatte er sie noch nie erlebt. „Ohne es mir mitzuteilen.“

„Ich habe es dir mitgeteilt. Die Entscheidung ist heute Abend gefallen, und ich habe es eben erst den Kindern erzählt. Du hast das Recht verwirkt, auf meiner Liste an erster Stelle zu stehen.“

Er tat einen tiefen Atemzug, den er bitter nötig hatte. „Können wir darüber sprechen, ohne uns zu streiten?“

„Es gibt nichts zu besprechen.“

„Wenn es um Alex und Remy geht oder sie betrifft, dann schon. Ich habe zum Beispiel nicht gewusst, dass du den Volvo abgeben musstest, bis ich gestern die Unterlagen vom Autohaus bekam. Warum hast du mir nichts gesagt? Ich lasse dir den Accord da. Das ist der zweite Grund für meinen Besuch. Er gehört dir. Ich überschreibe ihn dir. Ich will nicht, dass du auf die Fahrdienste deiner Mutter angewiesen bist. Du hättest mich informieren sollen.“

„Warum? Vielleicht weil du immer noch willst, dass ich auf dich angewiesen bin? Mich möchtest du nicht, aber du hättest es gerne, wenn ich weiterhin unter deiner Fuchtel stünde, was? Du wirst lachen, ich schaffe es ohne dich, David.“

„Ich will nicht über dein Leben bestimmen.“

„Und ob. Das hast du jahrelang getan, und ich habe dich gewähren lassen. Aber das ist vorbei.“

„Ich will nicht über dein Leben bestimmen“, wiederholte er. „Ich möchte es nur erträglicher machen.“ Unbewusst hob er flehentlich die Arme. „Nimmst du bitte den Accord?“

Bevor sie antworten konnte, hörten sie ein Auto in die Auffahrt einbiegen.

„Na großartig.“ Faith verbarg einen Moment das Gesicht in den Händen. „Tut euch doch gegen mich zusammen.“ Sie blickte auf. „Das wäre doch was, nicht? Du und der Senator, wieder ein Team. Das gemeinsam entscheidet, was ich tun sollte – und wo.“

„Um das klarzustellen, ich weiß nicht, ob ich für oder gegen den Umzug bin. Ich wollte nur ...“

Mit einer heftigen Handbewegung schnitt sie ihm das Wort ab. „Noch hast du Zeit zu verschwinden. Tu es.“

„Das ist es, was Joe erwartet. Weichlinge laufen weg. Richtige Männer bleiben und kämpfen.“

„Er wird dich bis zum jüngsten Tag für einen Waschlappen halten – ganz gleich, was du tust.“

Dass sie ihn bewusst zu verletzen versuchte, passte so wenig zu ihr, dass sie wie eine Fremde auf ihn wirkte. Mit Verzögerung bemerkte er, dass sie ihn vor allem warnen wollte. Aber David brauchte keine Warnung. Er kannte Joe Huston so gut wie sich selbst. Er wusste, wie einfach es war, jemanden zu verdammen, und wie bequem, sich in Selbstgerechtigkeit zu aalen. Er hatte hoch zu Ross gesessen und war tief gefallen. Joe saß immer noch im Sattel.

Da er nicht ging, trat Faith vor. „Warte mal. Wie willst du zu ... wohin auch immer kommen, wenn du das Auto hier lässt?“

Sie las die Antwort in seinen Augen.

„Ich verstehe“, sagte sie. „Mr. Stein ist dir gefolgt. Er wartet irgendwo da draußen?“

Er neigte den Kopf.

„Wie praktisch“, meinte sie.

„Tut mir Leid, aber ich muss doch irgendwie nach Hause kommen.“

„Nach Hause ...“ Als sie die Schritte ihres Vaters hörte, reckte sie sich. „Wir haben immer drum herum geredet, aber jetzt ist es raus, hm? Also, du hast ein Zuhause, und ich brauche eins. Es gibt nichts an diesem Umzug, was wir noch ausdiskutieren müssten. Es ist alles geklärt. Fertig, aus.“

Joe Huston tauchte auf. Als er David sah, blieb er stehen, sichtlich überrascht, seinen Schwiegersohn hier anzutreffen. Mit achtundsechzig war der Senator immer noch ein großer Mann, eine eindrucksvolle Erscheinung. Sein dünner werdendes Haar war militärisch kurz geschnitten, auch seine Haltung wirkte soldatisch.

Faith’ Vater war ein Veteran des Korea-Krieges, ein echter Kriegsheld. Seine bravouröse Dienstzeit bei der Marine hatte ihm den Ruf eines unerschrockenen Patrioten eingebracht. Man traute ihm zu, selbst in den härtesten Kampagnen Erfolge zu verbuchen. Falls Joe jemals müde sein sollte, konnte er das gut kaschieren. Vor zwei Jahren hatte er sich an der George-Washington-Universitätsklinik für eine Bypass-Operation angemeldet, und bis zu diesem Augenblick hatte niemand auch nur geahnt, dass er unter Brustschmerzen litt.

„Was macht er hier?“ wollte Joe von Faith wissen, als hätte David sein Recht zu reden verwirkt.

David antwortete trotzdem. „Ich bin gekommen, um Faith das Auto zu überlassen. Und um ein paar Bücher abzuholen.“

Joe würdigte ihn keines Blickes. „Wolltest du ihn hineinlassen?“ fragte er Faith.

„Ich wollte gar nichts.“ Faith richtete sich noch weiter auf. „Aber seine Bücher darf er gerne mitnehmen. David, such dir aus den Regalen, was immer du haben möchtest. Mein Vater und ich werden uns hier draußen unterhalten.“

„Nein, ich finde, er sollte das mit anhören“, widersprach Joe. „Ich glaube, er kann diesem Umzug nach Georgetown ebenso wenig abgewinnen wie ich.“

„Ich schätze deine Meinung, Dad“, sagte Faith ruhig. „Aber letzten Endes ist das meine Entscheidung. Nicht deine und nicht Davids. Ich muss tun, was ich für das Beste halte.“

Joe kniff die Augen zusammen und starrte sie an, als wäre sie eine besonders halsstarrige Angeklagte in einem Amtsenthebungsverfahren. Er war nie ein gut aussehender Mann gewesen, auch in seiner Jugend nicht. Seine Züge waren zu derb, seine Brauen zu buschig, und das Alter hatte ihn nicht attraktiver gemacht. Aber er verfügte über eine bemerkenswerte Präsenz. Seine Stimme dröhnte, seine Augen blitzten, und seine Intensität fegte, wenn sie einmal entfesselt war, jeden Gedanken an physische Schönheit vom Tisch. Senator Joe Huston war bei den Liberalen und Gemäßigten beider Parteien unbeliebt, aber niemand machte den Fehler, ihn zu unterschätzen.

Schließlich schüttelte Joe den Kopf. „Du irrst dich. Ein fataler Irrtum. Und ich lasse das nicht zu. Ich habe mir das Haus heute Abend angesehen. Wie kannst du annehmen, das sei der richtige Ort, um meine Enkel aufzuziehen? Es ist eine Bruchbude.“

Sie seufzte. „Es ist meine Bruchbude. Und wenn ich die Ärmel hochkremple und in die Hände spucke, wird es mein Zuhause werden.“

„Was stimmt denn nicht mit dem Haus?“ David wandte sich an Joe, da Faith ihm bestimmt nichts verraten würde.

Er bemerkte, wie Joe mit sich rang, ob er ihn ignorieren oder sich mit ihm verbünden sollte. „Nichts stimmt mit dem Haus.“ Joe fand eine Kompromisslösung: Er sprach mit David, schaute ihn aber nicht an. „Es ist unbewohnbar.“

„Das Haus ist vernachlässigt worden“, erläuterte Faith. „Man muss viel daran tun. Einen Teil kann ich selbst erledigen, für alles andere finde ich Handwerker. Als Erstes werde ich es von oben bis unten putzen. Danach wird es immer noch nicht schön aussehen, aber bewohnbar sein.“

„Und was ist mit der Schule?“ wollte Joe wissen. „Ist dir klar, wie viele Stunden die Kinder jeden Tag unterwegs sein werden?“

Faith wagte nicht, ihn direkt anzublicken. „Sie werden auf eine staatliche Schule gehen. Die Akademie kann ich mir nicht mehr leisten, und für Alex ist sie ohnehin nicht das Wahre.“

„Du wolltest die Kinder umschulen, ohne mir etwas zu sagen?“ brach es aus David heraus.

„Und warum sollte sie dir irgendetwas sagen?“ fuhr Joe ihn an, wobei er ihn zum ersten Mal direkt anschaute. „Du hast dein Recht verwirkt, diese Kinder mitzuerziehen. Es sollte Gesetze geben, um Kinder vor Leuten wie dir zu schützen. Wenn es nach mir ginge, gäbe es sie.“

„Dad!“ Faith ging dazwischen. „Das reicht.“ Sie wandte sich an David. „Wie gesagt, das ist alles ganz frisch.“

„Und wann wolltest du es mir mitteilen? Nach ihrer Ummeldung?“

„Wie hätte ich denn deiner Meinung nach das Schulgeld aufbringen sollen?“

Das ließ ihn verstummen. Hatte er wirklich erwartet, dass sie zu ihren Eltern zog, damit die Kinder weiterhin die Schule besuchen konnten, die er für sie ausgewählt hatte?

„Ich kann für meine Enkelkinder sorgen.“ Joe lächelte nicht, aber der Gedanke, dass er ihnen die Sicherheit geben konnte, die ihr schwuler Vater nicht zu bieten hatte, gefiel ihm sichtlich.

Faith schüttelte den Kopf. „Danke, aber ich sorge für die Kinder, Dad. Ich bin für sie verantwortlich.“

Wir sind für sie verantwortlich, nicht du“, warf David ein.

Joe schnaubte ungläubig. „Zu dumm, nicht wahr, dass du daran nicht gedacht hast, als du gemeint hast, nicht länger ohne Abraham Stein leben zu können. Ich vermute, dir ist gar nicht in den Sinn gekommen, dass ein homosexueller Lebenswandel sich äußerst negativ auf die Beziehung zu deinen Kindern auswirken könnte.“

Faith hob die Hände. „Ich gehe rein. David, hol deine Bücher morgen ab. Ich werde die Kinder morgens in die Prospect Street mitnehmen, um mit dem Aufräumen anzufangen. Nimm dir, was du willst, denn das meiste passt ohnehin nicht in das Reihenhaus. Dad, du kannst mir das nicht ausreden. Ich habe mich entschieden. Lasst uns die Unterhaltung weiterführen, wenn sich alle beruhigt haben.“

Bevor jemand etwas erwidern konnte, war Faith im Haus verschwunden und hatte die Tür geschlossen. David hörte, wie der Riegel vorgeschoben wurde. Fürs Erste hatte Faith sie beide aus ihrem Leben ausgesperrt.

„Wie fühlt es sich an, sie zerstört zu haben?“ fragte Joe.

David erwiderte nichts. Ihm fehlten die Worte, um das zu beschreiben.

„Ich werde dafür sorgen, dass du nie wieder eine vernünftige Arbeit findest“, sagte Joe. „Dass du nie wieder auch nur den geringsten Einfluss haben wirst. Dass niemand dich je wieder um Rat oder auch nur um deine Meinung bittet. Kein echter Christenmensch will dich im Zehn-Meilen-Umkreis seiner Kirche sehen. Nicht einmal liberale Konfessionsgemeinschaften wissen mit deiner Sorte etwas anzufangen, David, und die religiöse Rechte erst recht nicht.“

„Bereitet dir das Vergnügen, Joe?“

„Die ganze Welt stand dir offen, und du hast dich in den Abgrund gestürzt. Wofür? Für einen Mann! Einen jüdischen Reporter, um genau zu sein! Und meine Tochter hast du mitgerissen. Das werde ich dir nie verzeihen.“

David blickte ihm in die Augen. „Was genau: dass ich deiner Tochter wehgetan oder dass ich deiner Karriere geschadet habe? Ist das nicht der wahre Grund für deine selbstgerechte Raserei: dass du dich rechtfertigen musst? Du hast mich als deinen Nachfolger aufgebaut, obwohl ich dir immer wieder erzählt habe, dass ich daran nicht interessiert bin. Jetzt hast du plötzlich einen schwulen Schwiegersohn ...“

„Nicht mehr lange.“

„Gut, sagen wir, der Vater deiner Enkel ist ein Schwuler. Das wird auch nach der Scheidung so bleiben. Newt Gingrich musste für seine lesbische Schwester geradestehen. Im nächsten Wahlkampf wirst du dich für mich rechtfertigen müssen. Und das bringt dich um. Mit so etwas hast du nicht gerechnet. Das kannst du nicht unter den Teppich kehren.“

„Unsinn, du passt doch gut ins Bild. Du und deinesgleichen, ihr lauert überall. Versteckt euch hinter anständigen Frauen. Stehlt euch in die Machtzentralen. Ich werde den Leuten erklären, dass selbst ich hereingelegt worden bin, dass wir alle noch wachsamer sein müssen, um die Sünder aufzustöbern und zu vertreiben!“

David war schockiert. Er kannte Joes Ansichten über Homosexualität, aber eine derartige Hasstirade hatte er von seinem Schwiegervater noch nie gehört. „Du hast jedes Augenmaß verloren. Das kann dich die Wiederwahl kosten, was vielleicht kein Verlust wäre.“

„Halt dich von meiner Tochter fern, und komm meinen Enkelkindern nicht zu nahe! Wenn sie etwas brauchen, werde ich mich darum kümmern.“

„Ich werde meine Kinder sehen“, erwiderte David. „Bald. Kein Gericht in diesem Land wird das verhindern. Und ich werde Arbeit finden, damit ich für sie sorgen kann. Im Übrigen rate ich dir, deine Tochter nicht zu unterschätzen. Sie ist entschlossen, ihren eigenen Weg zu gehen, und daran wird keiner von uns sie hindern können. Also entspann dich.“

„An dem Tag, an dem ich von dir Rat annehme, will ich tot umfallen.“

Es war sinnlos. David ließ den Senator einfach auf der Schwelle stehen, wo er weiterhin die Tür anstarrte, die ihn von seiner Tochter trennte.

Auf der Straße öffnete David die Beifahrertür von Hams Limousine und nahm Platz. Er sagte nichts.

„Lässt du den Accord auf der Straße stehen?“ fragte Ham. David nickte.

„Es ist schlecht gelaufen, was?“

David warf ihm einen Blick zu. Ham trug ein schäbiges blaues Sporthemd und Khaki-Shorts. Er besaß zwei Krawatten, die er – wenn es sein musste – abwechselnd trug, ein Sportsakko und für die gelegentlichen Dinnerpartys im Weißen Haus einen teuren Smoking. Sein Apartment am Dupont Circle – das er nun mit David teilte – war mit modernen dänischen Möbeln und zeitgenössischer Kunst eingerichtet, und auf dem Boden stapelten sich seine Unterlagen und Bücher.

Ham hatte schon in der Junior High School verkündet, dass er schwul war, dann die Bestürzung seiner Eltern durchgestanden und sich anschließend mit ihnen ausgesöhnt. Die Steins störte nicht, dass David ein Mann, sondern nur, dass er Christ und konservativ war.

Davids Herz schlug immer noch schneller, wenn Ham ihn anschaute.

„Es wird nie gut laufen.“

„Hast du die Kinder gesehen?“

„Ich bin nicht einmal drinnen gewesen.“

„Du hast ein Recht, sie zu treffen. Je länger du die Begegnung mit ihnen hinauszögerst, desto schwieriger wird es für alle Beteiligten werden.“ Ham drehte den Zündschlüssel, parkte aus und wendete am Ende der Sackgasse, um zur Hauptstraße zurückzukehren.

David fragte sich, ob je der Tag kommen würde, an dem er wieder am Leben seiner Kinder teilhaben durfte, ein Tag, an dem er sie sogar mit Ham bekannt machen könnte.

Er rief sich Joe Hustons Gesichtsausdruck ins Gedächtnis. Wenn es nach dem Senator ginge, wäre David selbst bald ein Fremder für sie.

„Ich werde einen Besuch arrangieren.“ David lehnte sich zurück und schloss die Augen. „Aber ich möchte wetten, dass sie im Moment auf mich keine Lust haben.“

„Du hast einen schweren Stand, David. Ich denke mal, sie glauben an all das, was du ihnen jahrelang erzählt hast.“

David wusste nicht mehr, woraus er früher das Recht abgeleitet hatte, anderen Leuten vorzuschreiben, wie sie zu leben hatten.