19. KAPITEL

Als Faith am Montagmorgen den Hörer auf die Gabel legte, grollte in der Ferne Donner, und die Regentropfen fielen schwer auf den Bürgersteig. Sie starrte geradeaus.

Alex kam ins Zimmer und tippte ihr auf die Schulter, um sie ins Diesseits zurückzuholen. „Wohin guckst du? An der Wand gibt es nichts zu sehen.“

„Nicht einmal einen vernünftigen Anstrich.“ Faith legte ihrem Sohn den Arm um die Taille und zog ihn an sich. „Wie würde es dir gefallen, mir ein bisschen zu zeigen, wie man im Internet surft? Das Gewitter ist nicht so schlimm, dass wir den Computer ausschalten müssen, oder?“

„Surfen? Du?“

Sie konnte es ihm nicht verdenken. In der Familie war sie als Technikbanausin verschrien. Sie besaß eine E-Mail-Adresse, die David ihr eingerichtet hatte, aber sie schaute nie in ihr Postfach.

„Kannst du dir vorstellen, wie viel die Leute einem bezahlen würden, wenn man die Geschichte ihres Hauses recherchierte und aufschriebe? Hunderte, manchmal Tausende von Dollar.“

Alex rümpfte die Nase. „Das ist bedeutend mehr, als ich mit Efeuvernichtung verdiene.“

Sie nahm an, dass der Tag nicht mehr fern war, an dem ihr Sohn ständig die Nase rümpfen würde, wenn er an seinen Hungerlohn dachte. „Ich überlege gerade, ob ich nicht besser damit mein Geld verdienen sollte, statt mir einen Bürojob zu suchen. Ich habe vier Firmen angerufen und mich erkundigt, wie viel sie für solche historische Forschung verlangen. Wenn ich meine Sache gut mache, könnte ich uns damit wahrscheinlich ernähren.“

„Das ist es, was du im Netz herausfinden willst?“

„Exakt, du Genie.“ Sie drückte ihn ein letztes Mal und ließ ihn dann los. „Ich weiß nicht einmal ein Zehntel von dem, was ich wissen muss, aber ich kann es mir aneignen. Hast du gerade Zeit?“

Alex sah aus, als hätte sie ihm gerade einen Privatschlüssel zur Himmelspforte ausgehändigt.

Während das Unwetter näher kam, machte sie sich mit dem Internet vertraut. Mit der Hilfe von Alex und „Scavenger“ durchforstete sie historische Seiten, entdeckte und bestellte Bücher über Nachforschungen und studierte Mailinglisten- und Foren-Archive.

Eine Stunde später schob sie ihren Stuhl von Alex’ Tisch weg. „Toll. Wo war ich, als das erfunden wurde?“

„Kochen.“

Sie warf ihm einen Seitenblick zu und hoffte, dass er scherzte, aber dem war nicht so. „Ich schätze, keine Küche zu haben, ist – so gesehen – ein Fortschritt, hm?“

„Werden wir je wieder eine haben?“ erkundigte er sich mit sehnsuchtsvoller Stimme.

„Wir sind fast so weit. Die Schränke können bald aufgestellt werden.“ Sie bemerkte seinen skeptischen Gesichtsausdruck. „Ehrlich.“

„Vielleicht kannst du dann mal Hühnchen mit Knödeln machen.“

„Gleich als Erstes.“ Sie stand auf. „Ich werde mir einen Computer kaufen müssen, aber ich vermute mal, ich kann ihn als berufliche Ausgabe absetzen. Und ich brauche einen mit möglichst vielen PS.“

„Meinst du Megahertz oder Gigabyte?“

Sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach. „Einen, der schnell ist, so einen wie deinen. Als ich das letzte Mal an einem Computer gesessen habe, hat alles ewig gedauert. Da habe ich die Geduld verloren.“

„Wenn wir uns DSL oder ein Kabelmodem besorgen, kann ich unsere Computer vernetzen. Und wenn du den größten Computer nimmst, den es gibt, ist er auch in ein paar Monaten noch nicht veraltet.“

So, wie er das sagte, klang es gut und einfach durchzuführen. Sie zog eine Grimasse.

„Ich kann dir eine Liste machen, was du alles brauchst.“ Seine kurzen Finger flitzten über die Tastatur.

„Kann man Computer online kaufen?“ Als er nickte, beauftragte sie ihn, ein paar Preise zu vergleichen. Er machte sich an die Arbeit. Faith nahm an, dass sie vor der Schlafenszeit nichts mehr von ihm hören würde.

Unten in der Küche begutachtete sie, was sie bisher geschafft hatte. In ein paar Tagen würde der Schreiner kommen, um die Schränke aufzubauen. Hühnchen und Knödeln stand bald nichts mehr im Weg.

Und auch ihrem neuen Job blickte sie mit Zuversicht entgegen. Seit ihren Tagen als flachsblonde Wahlkämpferin verfügte Faith über wertvolle Kontakte. Sie hatte Lady Bird Johnson Blumensträuße überreicht und mit Amy Carter im Kino des Weißen Hauses „Die Katze aus dem Weltraum“ und „Superman“ gesehen. Zwar wurde sie nicht mehr zu den wichtigen Partys eingeladen, aber auch die Leute, die nicht durch ihre Gegenwart an den Skandal erinnert werden wollten, würden sie gerne in aller Stille für eine Studie über ihr Haus engagieren. Sie musste nur den Türklopfer betätigen.

Sie streckte den Arm aus. Sie lächelte; sie konnte das kühle, harte Messing des Rings förmlich spüren. Aber selbst wenn der Klopfer real gewesen wäre, hätte sie ihn nicht sehen können, denn es war stockdunkel.

„Mo-om!“

Der Schrei kam von oben, wo Alex gerade seine Zimmertür geöffnet hatte. „Mom, der Strom ist weg. Schraub die Sicherung wieder rein!“

Sie bezweifelte, dass die plötzliche Finsternis irgendetwas mit ihrem Sicherungskasten zu tun hatte. „Geh in mein Zimmer und schau aus dem Fenster“, rief sie ihm zu. „Ich wette, dass die ganze Straße kein Licht hat.“

Von da, wo sie gerade stand, konnte sie erkennen, dass die Straßenlampe vor dem Fenster nicht leuchtete. Das Gewitter hing zwar nicht direkt über ihnen, hatte aber offenbar irgendwo in der Stadt Schaden angerichtet.

Noch eine Tür ging auf. Remy hatte Musik gehört, und für einen kurzen Augenblick war es in ihrem Zimmer bemerkenswert still. „Ohne Strom kann ich gar nichts tun! Das ist Scheiße!“

„Kommt runter, wir zünden Kerzen an. Aber passt auf der Treppe auf.“ Faith ging in die Vorratskammer und stöberte zwei Zimtduftkerzen in Apothekergläsern auf, die Alex und Remy ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatten. Sie zündete sie an und trug sie zum Esszimmertisch. Das alte Haus wirkte gleich viel besser: Man sah nicht mehr, dass sie sich noch nicht für eine bestimmte Wandfarbe entschieden hatte, und die Kratzer im Holz waren kaum der Rede wert.

Alex stand jetzt neben ihr. „Hey, das ist Klasse. So sieht es viel besser aus.“

„Wie schade, dass dein Computer abgestürzt ist und die Arbeit im Internet somit für die Katz war.“

„Ich habe schon einiges gefunden und eine Seite ausgedruckt. Den Rest kann ich später machen. Soll ich noch mehr Kerzen anzünden?“

Alex fand eine Kiste mit Teelichten, und Faith brachte Saftgläser, um die kleinen Kerzen vor Zug zu schützen. Fünf Minuten später tanzten Schatten über die Wände. Faith ließ sich auf dem Sofa nieder und zog die Beine halb unter den Körper.

„Ihr werdet noch die ganze Bude abfackeln.“ Remy kam die Treppe herunter und hockte sich niedergeschlagen auf eine der unteren Stufen.

Faith ahnte, dass ihre Tochter gerade mit sich rang. Remy konnte nichts anderes tun, als mit ihrer Familie zu reden, aber das war eigentlich das Letzte, was sie wollte.

Alex ließ sich neben seine Mutter fallen. „Wir können Scharade spielen, wie früher, als Daddy ...“ Er bremste sich, aber es war zu spät.

„Scharade ist doof“, meinte Remy. „Leute raten lassen, was man darstellt, wenn man es ihnen einfach sagen könnte.“

„Was weißt du schon“, maulte Alex.

Wenn sie früher die Kinder beschäftigen musste, hatte Faith Brettspiele hervorgezaubert oder ihnen aus den Kinderbuchklassikern vorgelesen, wobei das Kerzenlicht über die Seiten geflackert war wie in jenen Tagen, da Candace und Jedediah Wheelwright dieses Haus bezogen hatten.

Daran musste sie jetzt denken. „Als eure Urururgroßmutter in diesem Haus gelebt hat, das damals brandneu war, gab es wahrscheinlich gar keinen Strom. Sie hat Hüte angefertigt. Habe ich euch das schon erzählt? Sie hatte einen kleinen Laden auf der Wisconsin Avenue. Ich glaube, wenn sie abends nach Hause kam, brachte sie kistenweise Federn, Tüll und Perlen mit und all die anderen Sachen, die eine gute Hutmacherin brauchte, und setzte sich in genau dieses Zimmer, um Hüte für die reichen Ladys herzustellen. Alles nur beim Schein von Kerzen und Petroleumlampen.“

„Hüte?“ Remys Tonfall ließ keinen Zweifel daran, was sie davon hielt. Hüte und Mützen waren etwas, das man nur im Winter trug, und auch dann nur unter Protest.

„Damals ging keine Dame, die etwas auf sich hielt, mit unbedecktem Kopf aus dem Haus. Die Frauen hatten ellenlanges Haar, und die Hüte, unter denen sie es verbargen, waren über und über verziert.“

„Mit was für Verzierungen?“ fragte Alex.

„Blumen und Federn. Von echten Vögeln ...“

„Lebenden?“

Faith war in ihrem Element. Sie berichtete ihnen, wie die „Audubon Society“ gegründet worden war, um die Reiher zu schützen, die damals massenhaft abgeschlachtet wurden.

„Woher weißt du das alles?“ Gegen ihren Willen war Remys Interesse doch erwacht.

„Ich habe in der Bibliothek einen Artikel gefunden.“

Alex formte mit seinen Händen einen Vogel, dessen Schatten er über die Wand fliegen ließ. „Wieso hat sie Hüte gemacht? Hat ihr Mann nicht gearbeitet? Mussten damals alle arbeiten?“

Faith war froh, ihr neues Wissen mit jemandem teilen zu können. Die Kraft und der Einfallsreichtum ihrer weiblichen Vorfahren, von denen sie früher nicht das Geringste gewusst hatte, machte sie stolz. Allmählich erkannte sie, dass sie von starken, bemerkenswerten Frauen abstammte.

„Also, ich denke, dass sie angefangen hat zu arbeiten, damit sich die beiden dieses Haus leisten konnten. Jedediah ist jung gestorben. Sie hatten nur ein Kind, eure Ururgroßmutter Violet, und ich vermute, dass Violet im Laden aushelfen musste.“

„Ich ...“ Alex’ nächste Frage wurde von einem Klopfen an der Haustür unterbrochen.

Widerstrebend stand Faith auf. „Ich hoffe, mit Dottie Lee ist alles in Ordnung. Vielleicht braucht sie Kerzen.“

„Dottie Lee hat überall Kerzen“, sagte Alex. „Für eine gemütliche Stimmung, wenn die Männer sie besuchen kamen.“

Faith fragte sich, ob Alex vielleicht doch zu viel Zeit in Gesellschaft ihrer Nachbarin verbrachte.

Mittlerweile schien sich das Unwetter genau über ihnen auszutoben, und der Regen fegte in stahlgrauen Strömen über die Straße. Sie schaute durch das Fenster neben der Tür und sah unter einem Regenschirm ihre Mutter.

Rasch öffnete sie und winkte Lydia herein. „Was tust du da draußen in dieser Waschküche?“ Sie ließ ihrer Mutter keine Zeit zu antworten. „Alex“, rief Faith, „komm, stell den Schirm deiner Großmutter in der Gästetoilette ins Waschbecken.“

Er führte den Auftrag aus und handelte sich dafür eine kurze, feuchte Umarmung ein. Auf der Treppe murmelte Remy einen missmutigen Gruß. Sie war offenkundig der Meinung, dass sich die Lage durch Lydias Eintreffen nicht gerade gebessert hatte. Faith musste dem zustimmen. Ein paar Minuten lang hatte sie wieder das Gefühl gehabt, dass sie und die Kinder eine richtige Familie waren.

„Da ist eine Kaltfront, die sich auf dem Weg zu uns befindet. Es wird die ganze Woche schütten.“ Lydia reichte Faith ihren Regenmantel und streifte ihre Ferragamo-Pumps ab, als wären sie irgendwelche Billigschuhe. Sie trug einen eleganten grünen Strick-Zweiteiler mit einer dezenten Perlstickerei am Halsausschnitt.

Faith hängte den Regenmantel in die Garderobe. „Du hast dich so schick gemacht. Bist du auf dem Weg zu einer Party?“

„Ich bin gerade von einer Wahlkampfparty geflohen, drüben in der Dumbarton Street. Die langweiligste Veranstaltung, die ich je besucht habe. Dein Vater ist noch da, um weitere Unterstützung für seine Berufung in den Finanzausschuss zu gewinnen.“

„Du hast dich davongestohlen?“

Lydia lächelte. „Als die Lichter ausgingen, habe ich die Gelegenheit genutzt, um zu verschwinden. Der Gastgeberin habe ich erzählt, dass ich nachschauen muss, ob mit dir und den Kindern alles in Ordnung ist. Ich möchte so ein Unwetter lieber im Familienkreis durchstehen.“

Faith war überrascht und gerührt. „Weiß Dad, dass du hier bist?“

„Er geht davon aus, dass ich die eine Hälfte der Gäste abklappere, während er sich der anderen widmet. Wir laufen uns selten über den Weg. Vielleicht bemerkt er gar nicht, dass ich weg bin.“

Das bezweifelte Faith. Joe Huston entging nichts.

„Und wobei habe ich euch unterbrochen?“ Lydia klang wirklich neugierig.

Faith führte ihre Mutter zum bequemsten Sessel im Wohnzimmer. „Wir haben gerade über Candace Wheelwright gesprochen. Ich habe den Kindern von ihrer Arbeit als Hutmacherin berichtet.“

Faith rechnete damit, dass Lydia – wie fast immer, wenn es um die Vergangenheit ging – das Thema wechselte, aber ihre Mutter tat nichts dergleichen. Stattdessen fragte sie: „Wie hast du denn das in Erfahrung gebracht?“

Jetzt hatte Faith ein Problem. Schließlich wollte sie ihrer Mutter nichts von ihren Nachforschungen verraten, denn das sollte eine Überraschung werden. Sie entschied sich deshalb für eine Halbwahrheit. „Ich habe mich nach der Gartenführung erkundigt, die du erwähnt hast.“

„Meine Großmutter hat mir von den Hüten erzählt, bei deren Anfertigung sie ihrer Mutter geholfen hat.“

„Kannst du dich daran erinnern?“

Lydia setzte sich auf die gleiche Art hin wie Faith, die auf dem Sofa Platz genommen hatte. Im Kerzenlicht sah die ältere Dame jünger aus. Vielleicht lag es auch nur daran, dass sie wirkte, als fühle sie sich hier wohl – als gehöre sie wirklich hierher. „An eine Sache entsinne ich mich.“

„Mom hat gesagt, sie haben echte Vögel auf die Hüte geklebt.“ Über diese Skrupellosigkeit war Alex noch immer nicht hinweggekommen.

„Mag sein, aber ich kann dir nur von Früchten berichten. Meine Großmutter war etwa so alt wie du, Remy, als ihre Mutter einmal krank wurde. Dummerweise hatte die Gemahlin des Vizepräsidenten bei Candace einen Hut in Auftrag gegeben.“

„Wer war damals Vizepräsident?“ Einen Augenblick lang schien Remy ihre Grantigkeit vergessen zu haben.

„Weiß der Himmel. Wir müssten das nachschlagen. War McKinley nicht damals Präsident?“

„Mit dem Computer könnte ich das ruck, zuck herausfinden“, meinte Alex. „Wenn wir Strom hätten.“

Faith war sich bewusst, dass sie Zeugin eines höchst ungewöhnlichen Vorgangs wurde. Ihre Mutter hatte sich wie ein ganz normales Familienmitglied in ihren Kreis eingefügt. Statt das Gespräch zu stören, bereicherte sie es. „Und was hat Candace getan?“ fragte Faith.

„Sie hat meiner Großmutter gesagt, dass sie den Hut fertig stellen müsse. Die Gattin des Vizepräsidentin wollte ihn auf einem Gartenfest tragen, das anlässlich irgendeines Handelsabkommens mit Südamerika gegeben wurde. An die Einzelheiten erinnere ich mich nicht. Ich weiß nur, dass Bananen eine Rolle spielten, denn die Gattin des Vizepräsidenten wollte einen Obstsalat auf dem Kopf haben.“

Remy kicherte, ein Klang, den Faith seit Monaten nicht mehr gehört hatte. „Also musste Violet bei ihrem ersten eigenen Hut gleich einen Obstsalat gestalten?“

„Genau. Nur war sie übereifrig. Ihre Mutter hatte eine große Auswahl an Wachsfrüchten bestellt, und Violet konnte sich nicht entscheiden. Als sie fertig war, war der Hut so schwer, dass die Krempe ihre Last nicht tragen konnte. Als die Dame zur Anprobe kam, knickte der Hut ein, und das Obst kullerte ihr in den Schoß und der armen Violet über die Füße.“

„Oh nein!“ Remy prustete los. „Das war ihr bestimmt superpeinlich.“

Lydia lächelte, zufrieden mit ihrem Erfolg. „Natürlich ist Violet in Tränen ausgebrochen, aber nach dem ersten Schreck hat die Frau einfach gelacht. Sie lachte noch immer, als sie den Laden verließ, aber erst nachdem sie Violet erklärt hatte, dass sie morgen zur nächsten Anprobe wiederkäme und dann gerne eine Kinderportion Obstsalat hätte.“

„Das ist herrlich.“ Faith freute sich, dass ihre Mutter sich an diese Anekdote erinnerte. Nach einer kleinen Recherche über die Gattinnen der Vizepräsidenten konnte sie das in die Geschichte des Hauses aufnehmen. „Und wurde der Hut rechtzeitig fertig und Candace wieder gesund?“

„Candace lebte noch etwa zwanzig Jahre. Und der Hut war ein Erfolg, obwohl Violet behauptete, die Besitzerin hätte sich an den Bienen gestört, die ihn immer umschwirrten.“

Wieder lachten sie, und danach breitete sich eine wohlige Stille im Zimmer aus. Faith brach das Schweigen erst, als Alex herumzuzappeln begann. „Ich habe etwas über die Garten-Tour herausgefunden.“

Lydia schmiegte sich tiefer in ihren Sessel. „Gut, erzähl es uns. Mir ist jeder Grund recht, nicht wieder in den Regen hinaus zu müssen.“

Dich hat niemand gewählt. Lass Dad zur Abwechslung mal allein seine Brötchen verdienen.“

Lydia lächelte dünn. „Das klingt gut.“

„Du hattest Recht mit der Führung. Ich habe zwei kurze Notizen in alten Zeitungen aus Georgetown gefunden und eine Erwähnung in der ,Post‘.“

„Mir war nicht klar, dass du dir so viel Mühe machen würdest.“

Faith ruderte zurück. „Ich musste nur einmal in die Bibliothek gehen. An einem Tag im April 1941 ist ein beträchtlicher Prozentsatz der Einwohner von Washington D.C. durch unser Haus marschiert, die Stufen zum Keller hinunter und raus in den Garten.“

„Nur um das Grundstück von irgendwem zu besichtigen?“ Remy fiel es schwer, das zu glauben.

Lydia versuchte, es ihrer Enkelin zu erklären. „Das muss ein unheimliche Ehre gewesen sein. Meine Großmutter war eine einfache Frau, die von einfachen Arbeitern abstammte. Allerdings war ihre Liebe zu meinem Großvater ziemlich außergewöhnlich.“

Da Remy Interesse signalisierte, fuhr Lydia fort: „Stell dir mal vor: Violet, die keinen Vater, keine Brüder und sehr wenig Umgang mit Männern hat, geht eines Morgens, als sie erst siebzehn ist, zum Hutmacherladen, um aufzuschließen. Kaum steht sie hinter dem Tresen, betritt dieser unglaublich attraktive Mann den Laden – mit einer ebenso attraktiven Frau am Arm.“

Remy beugte sich vor. „Woher weißt du, dass er so toll ausgeschaut hat?“

„Ich habe Fotos gesehen. Wahrscheinlich habe ich sie noch in irgendeiner Kiste.“

„Welch ein Jammer! Du solltest sie hervorholen, Mutter!“ schimpfte Faith.

Lydia winkte ab. „Ich werde sie suchen und dir geben. Neben der Treppe würden sie sich gut machen, nicht? Wie auch immer, der schöne Mann war gekommen, um für seine Verlobte, eine Frau aus einer der besten Familien von Georgetown, einen Hut zu kaufen. Er hieß James Atkins, war Gelehrter und Lehrer und zu dieser Zeit bereits für seine Lincoln-Biografie bekannt. Seine Reaktion auf den Anblick meiner Großmutter war allerdings recht unakademisch. Er verliebte sich stehenden Fußes in sie, löste seine Verlobung und heiratete Violet sechs Monate später. Ein richtiger Skandal.“

„Der Teil ist langweilig“, befand Alex.

Lydia tätschelte sein Knie. „In Ordnung, dann überspringen wir das und kommen zu den Heldentaten. Weißt du irgendwas über den Ersten Weltkrieg?“

„Er kam vor dem Zweiten Weltkrieg.“

„Brillant“, meinte Remy. „Und mir hat der andere Teil gefallen.“

Lydia warf ihr ein Lächeln zu. „James, mein Großvater, hat sich freiwillig gemeldet und wollte auch nicht in der Verwaltung eingesetzt werden. Unglücklicherweise ist er in Frankreich in einen Giftgasangriff geraten und fast gestorben. Man schickte ihn nach Hause, und er hat noch viele Jahre gelebt, aber er war nur noch ein Schatten seiner selbst. Er wurde so etwas wie ein Einsiedler. Meine Großmutter wagte es wegen seines Zustands nicht, außer Haus zu arbeiten, also machte sie ihre einzige echte Begabung zum Beruf und wurde Klavierlehrerin. Sie hat in diesem Zimmer unterrichtet, an diesem Klavier.“

„Das war aber nicht ihr einziger Broterwerb.“ Faith hatte sich ein paar Einzelheiten gemerkt, die sich jetzt zu einem Bild zusammenfügten. „Nicht ganz.“

„Nein?“

„Violet hat in ihrem Garten Topfpflanzen gezüchtet. Im Frühling Tulpen und Narzissen. Im Herbst einjährige Zierpflanzen. Aus dem ganzen Westteil von Georgetown kamen Kunden zu ihr. So ist sie auch in die Garten-Tour aufgenommen worden. In den Zeitungsausschnitten, die ich gefunden habe, wird sie ,Violet mit dem grünen Daumen‘ genannt. Die hiesigen Damen der Gesellschaft haben sich bei ihr Pflanzen besorgt.“

„Großmutter hat ständig gearbeitet“, sagte Lydia. „An die Pflanzen erinnere ich mich nicht. Vielleicht hat sie aufgehört, sie zu verkaufen, als Amerika in den Krieg eintrat, aber ich weiß, dass sie immer viel zu tun hatte.“

„In unserer Familie gab es einige vorbildliche Frauen.“ Faith sprach mit Lydia, hoffte aber, dass Remy noch zuhörte. „Einschließlich deiner Mutter, die die ganze Welt bereist hat, um deinem Vater zu helfen, unser Land zu vertreten.“

Lydia antwortete nicht. Faith fragte sich, was ihrer Mutter durch den Kopf ging. Überlegte sie, was ihre eigenen Nachfahren dereinst von ihr denken würden? Sie hatte die Entführung ihrer Tochter durchgestanden, aber um welchen Preis?

Und was würden Remys Kinder und Enkelkinder später über Faith erzählen? Dass sie nach ihrer Scheidung verbittert war? Dass sie in Selbstmitleid gebadet hatte – oder dass sie sich, wie ihre weiblichen Vorfahren, wieder aufgerappelt und um ihr Glück gekämpft hatte? Nie war ihr so deutlich geworden wie jetzt, wie sehr sie sich das Letztere wünschte.

„Dieses Gespräch verlangt nach einer kleinen Expedition“, sagte Lydia schließlich, stand auf und griff nach einer Kerze. „Wollt ihr sehen, was Candace uns hinterlassen hat?“

„Noch eine Inschrift?“ Alex war schon auf den Beinen. „Die im Garten habe ich noch nicht entdeckt.“

„Dich kann ich wirklich nicht überraschen, so sehr ich es auch versuche.“ Lydia ging an Remy vorbei die Treppe hinauf, und sofort bildete sich hinter ihr eine kurze Schlange. Sie führte die drei in Faith’ Zimmer.

„Als Jedediah gestorben war, wollte Candace nicht mehr in diesem Zimmer schlafen. Zu viele Erinnerungen, nehme ich an. Deshalb machte sie es zu ihrer Werkstatt. Hier hat sie abends und an den Sonntagen an ihren Hüten gearbeitet. Meine Großmutter erzählte mir, dass Candace genau hier gesessen hat.“ Lydia zeigte in die Mitte des Raums. „An einem Tisch, von dem sie zum Fenster hinausblicken konnte. Sie wartete darauf, dass Jedediah nach Hause kam.“

„Aber der war tot.“ Alex zog die Brauen hoch. „War sie verrückt?“

„Nein, aber als er noch lebte, hatte sie sich immer umgezogen und ihr Haar in Ordnung gebracht, bevor er abends nach Hause kam. Sie war also normalerweise in diesem Zimmer und hielt nach ihm Ausschau. Sie vertraute mir an, dass der Höhepunkt ihres Tages darin bestand, Jedediah auf der Prospect Street zu entdecken, und als er gestorben war, versuchte sie diese Momente wieder heraufzubeschwören. Sie meinte, dass sie sich ihm dann nahe fühlte.“

Faith kämpfte mit den Tränen. Sie räusperte sich. „Ich schätze, ich weiß, wo sie die Inschrift hinterlassen hat.“ Sie trat ans Fenster und kniete sich hin, sodass sie unter den breiten Sims gucken konnte. „Da ist sie.“

Remy war als Erste an ihrer Seite. Sie hockte sich ebenfalls hin und betrachtete die eingeritzten Worte. „Weil sie hier so oft auf ihren Mann gewartet hat?“

„Bestimmt.“

Remy fuhr mit der Fingerspitze über die Buchstaben, die mit der Zeit schwächer geworden und von Anfang an nicht das Werk einer Expertin gewesen waren. Ein einfaches viktorianisches Graffito. Ein Liebesgedicht.

Alex kam zu ihnen, und Faith machte ihm Platz. „Ist dein Name auch irgendwo, Großmutter?“

„Nein.“

Faith war froh, als es abermals an der Tür klopfte, sodass die Stille endete. Wo hätte Lydia ihren Namen hinterlassen? Auf dem Fußboden unter dem Bettchen, in das sie ihre erste Tochter für ihr erstes und einziges Nickerchen in der Prospect Street gelegt hatte?

„Wenn die Sonne scheint, haben wir weniger Besuch.“ Alex sprang auf und rannte die Treppe hinunter. „Hey, es ist Pavel.“

Faith warf ihrer Mutter einen Blick zu und sah, dass Lydia aufmerkte. Die beiden waren sich noch nicht begegnet. Faith unterdrückte das Bedürfnis, sich mit den Fingern durchs Haar zu fahren. Sie ging barfuß die Treppe hinunter und kam gerade unten an, als sich Pavel wie ein Wasserspaniel schüttelte. Alex trug seinen Regenschirm bereits ins Gäste-WC, wo er Lydias Schirm Gesellschaft leisten konnte.

„Hey, hallo. Hast du dich im Dunkeln einsam gefühlt?“ Als sie die Worte aussprach, ging ihr auf, wie missverständlich sie waren.

Er grinste; offenbar hatte er die Worte genauso ausgelegt. „Ich habe mir um dich und die Kinder Sorgen gemacht. Sieht so aus, als bliebe der Strom noch eine Weile weg. Offenbar eine größere Sache. Ich wusste nicht, ob ihr darauf vorbereitet seid, also habe ich Kerzen und Streichhölzer und eine zweite Taschenlampe gekauft.“ Zum Beweis schwenkte er eine Plastiktüte.

„Das war sehr umsichtig.“ Sie trat zur Seite, sodass Lydia herunterkommen konnte. „Ich glaube, du kennst meine Mutter noch nicht.“ Sie stellte die beiden einander vor.

Einen Moment lang sagte niemand etwas. Lydia stand still da und musterte ihn. Pavel machte die erste Bewegung. Er kam näher und blieb unmittelbar vor ihr stehen. Lydia streckte die Hand aus, er ergriff sie, und sie murmelten etwas Höfliches.

Pavel sah sich im Zimmer um. „Diese alten Häuser sollte man immer so beleuchten. Das sieht schön aus.“

„Komm, setz dich zu uns“, sagte Faith. „Aber ich muss dich warnen: Wir erzählen alte Familiengeschichten.“

„Danke, aber ich muss nach Hause. In eines der Schlafzimmer oben regnet es rein.“

„Pavel renoviert sein Haus ganz allein“, erläuterte Faith Lydia. „Du solltest mal sehen, was er schon geschafft hat.“

„Kann ich es sehen?“ fragte Alex. „Kann ich mal vorbeikommen?“

„Du und Remy, ihr seid mir jederzeit willkommen“, sagte Pavel.

Remy rümpfte die Nase.

Der Türklopfer klapperte schon wieder, diesmal allerdings lauter. Faith schlüpfte an Pavel vorbei, um aufzumachen. Unter einem großen schwarzen Schirm blickte Joe Huston sie finster an. „Faith.“ Er nickte knapp.

Sie winkte ihn hinein, nahm seinen Schirm und schüttelte das Wasser ab. Da das Waschbecken in der Gästetoilette belegt war, lehnte sie den Schirm einfach an die Wand.

Joe ging nicht weiter hinein als bis zur Fußmatte. „Lydia, unsere Gastgeberin hat mir gesagt, dass ich dich hier finde. Es war mir peinlich zu bleiben, wo du schon gegangen warst.“

„Ich wäre ja wiedergekommen. Ich wollte nur sichergehen, dass Faith und die Kinder wohlauf sind.“

Faith stellte ihm Pavel vor, und die Männer schüttelten kurz die Hände. Joe rang sich ein grantiges Hallo in Richtung seiner Enkelkinder ab.

Faith nahm ihn am Arm, um ihn vom Eingang wegzulotsen. „Ich bin froh, dass du hier bist. Jetzt kannst du dir ansehen, was ich seit deinem letzten Besuch geschafft habe.“

„Nicht heute, Faith.“ Er schüttelte sie nicht ab, aber sie fühlte, wie sich sein ganzer Körper sträubte, und er bewegte sich partout nicht vom Fleck. Erst als sie ihn losließ, schien er zu bemerken, dass er sehr abweisend reagiert hatte. „Deine Mutter und ich müssen nach Hause. Du kannst mich später einmal herumführen. Wenn es genügend Licht gibt.“

„Wir sind mit zwei Autos da, Joe“, rief ihm Lydia in Erinnerung. „Ich komme nach, sobald das Unwetter nachgelassen hat.“

„Nein, für Samuel ist es leichter, wenn wir zusammen kommen.“

„Du kannst ihm ja sagen, dass ich bald nachkomme.“

Einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle er weiterstreiten;

dann zog er die Schultern hoch. „Ich sehe dich also zu Hause.“

Lydia sah aus, als bezweifle sie das sehr.

Faith öffnete die Tür und reichte ihm seinen Schirm. Er hatte die zerbrechliche Harmonie der Familie und ihrer Erinnerungen zerstört. Allzu kurz war das Haus durch beides zu neuem Leben erwacht. Sie war ihm böse, um ihrer selbst und um der anderen willen.

„Komm, sobald du Zeit hast“, sagte sie höflich. Und so leise, dass die anderen es nicht hören konnten, setzte sie mit wutbebender Stimme hinzu: „Und nur, wenn du besserer Stimmung bist. Das ist das zweite Mal, dass du mich in meinen eigenen vier Wänden brüskiert hast.“

Sie konnte kaum glauben, dass sie das wirklich ausgesprochen hatte. Er erstarrte. Da sie sich nicht traute, noch etwas zu sagen, trat sie ins Haus zurück und ließ die Tür fest ins Schloss fallen.