20. KAPITEL

Die „Georgetown Regional Library“ öffnete jeden Morgen um zehn, und in den nächsten Wochen wartete Faith jeden Tag bereits auf der Schwelle. Es hatte keinen Sinn mehr, etwas am Haus zu tun, sobald die Kinder zur Schule gegangen waren. Der Bauunternehmer kam jeden Morgen ziemlich früh, um die Schränke aufzubauen und die Lieferungen zu überwachen. Faith war dabei nur im Weg, also suchte sie das Weite.

Sie hatte die Recherchen über ihre Schwester lange genug vor sich her geschoben. Mittlerweile wusste sie mehr über ihre entfernten Vorfahren als über die Menschen, die ihr am nächsten standen. Candace und Violet waren durchaus interessant, aber Hope hatte ihr Leben viel stärker beeinflusst.

Am Dienstag bat Faith Dorothy um das Sammelalbum. Sie las bis zum Mittag und notierte Fragen und Stichpunkte. Sie war erstaunt, wie viele Informationen hier zusammengetragen worden waren. Das Album war eine chronologische Dokumentation der Entführung und der polizeilichen Nachforschungen. Die Grundzüge waren ihr bekannt, aber sie erkannte sofort, dass an der Geschichte mehr dran war. Sie tauchte in den Strudel der Suche, der Verdächtigen, der Alibis, der Theorien ein, lernte sogar die Charakterzüge der Reporter kennen, die offenbar unter dem Druck gestanden hatten, jeden Tag etwas über den Fall zu schreiben, auch wenn es eigentlich nichts Neues gab.

Am Freitag hatte sie mehr Fragen als Antworten. Sie hätte Lydia oder Joe um Aufklärung bitten können, aber beide mieden alle Themen, die mit Hopes Entführung zusammenhingen: Lydia, weil der Verlust sie quälte, Joe, weil er das Verschwinden seiner Tochter als sein persönliches Versagen ansah.

Die Entführung war ihm eine Schmach. Zwar hatte sie ihm eine immense Publizität eingebracht, eine Menge Sympathien und Stimmen bei der nächsten Wahl und letztendlich einen Sitz im Senat, aber Joe war immer noch der Mann, der sich sein Töchterchen hatte klauen lassen.

Außerdem war Joe nachtragend, und solange sie sich nicht für das entschuldigte, was sie während des Unwetters gesagt hatte, existierte Faith für ihn praktisch nicht mehr.

Während der Lektüre legte Faith Listen mit den Namen aller an, die an den Nachforschungen beteiligt gewesen waren, und am Freitagnachmittag rief sie beim FBI und der Distriktpolizei an, um herauszufinden, ob noch einer von ihnen im Dienst war. Die viele Arbeit zahlte sich nicht aus: Alle maßgeblichen Personen hatten längst den Dienst quittiert oder waren versetzt worden. Die Akte war zwar formell nie geschlossen worden, aber der Fall ruhte. Blieben also die ganz normalen Leute, die sich vielleicht an etwas erinnerten, das in den Zeitungen nicht zur Sprache gekommen war. Leute, die nicht zu nah dran waren und deshalb darüber reden konnten.

Alles lief auf Dottie Lee hinaus.

Zwar fand Dottie Lee immer irgendeinen Grund, Faith’ Einladungen auszuschlagen, aber Alex und sie besuchten ihre Nachbarin fast jeden Mittwoch zum Tee. Faith hatte sowohl Dottie Lee als auch Mariana bald ins Herz geschlossen. Aus den kleinen Geschichten, die ihr zusammen mit Scones und Lemon Curd serviert wurden, hatte sie erfahren, dass früher eine handverlesene Auswahl der Washingtoner Elite regelmäßig bei Dottie Lee ein und aus gegangen war. Weitere Andeutungen bezogen sich auf das Skandalfeuerwerk, das Washington erschüttern würde, sobald Dottie Lees Memoiren erschienen – vermutlich erst nach ihrem Tod. Über die Jahre hatte sie Geschichten und Informationen angehäuft, so wie andere Frauen Quilts oder Fabergé-Eier sammelten.

Jetzt griff Faith nach den scharlachroten Rosen, die sie auf dem Rückweg von der Bibliothek gekauft hatte, und klopfte an Dottie Lees Tür. Alex machte mit der Wissenschafts-AG seiner Schule einen Ausflug ins „Smithonian Institute“, und Remy hatte Erlaubnis, den Nachmittag bei Billie zu verbringen. So hatte Faith noch mindestens eine Stunde Ruhe.

Dottie Lee öffnete, und die Freude in ihrem Gesicht überzeugte Faith umgehend, dass sie ruhig öfter spontan bei ihr hereinschneien sollte.

„Denen konnte ich nicht widerstehen.“ Faith hielt ihr die Rosen hin, während Titi gewohnheitsgemäß nach ihrem Knöchel schnappte. „Sie sind schön und riechen gut, und ich dachte mir, dass sie auf Ihrem Kaminsims herrlich aussehen müssten.“

Dottie Lee steckte ihre Nase tief in den Strauß. „Aus, Titi. Die sind großartig. Einfach großartig. Kommen Sie herein.“

Faith wich dem kläffenden Chihuahua aus. Sobald sie das Haus betreten hatte, verschwand das Hündchen, da es seine Aufgabe als erledigt betrachtete.

„Sie schauen doch nicht nur vorbei, um mir Rosen zu schenken. Sie sind hier, weil Sie etwas von meinem Earl Grey möchten.“

„Eine Tasse sehr gern. Bei uns gibt es schon wieder keinen Strom. Sie bringen irgendwas im Keller in Ordnung.“

„Ist Ihre Küche bald benutzbar?“

„Mit etwas Glück werden die Arbeitsflächen am Montagmorgen fertig.“ Während Dottie Lee Mariana bat, Teewasser aufzusetzen, ließ Faith sich auf einem Zweiersofa mit Rosenholzrahmen nieder, dessen Lehnen in Drachenköpfen ausliefen. Dottie Lee gesellte sich zu ihr.

Faith versuchte gar nicht erst so zu tun, als handele es sich um einen reinen Anstandsbesuch. Dottie Lee hatte – wie sie nicht müde wurde zu betonen – zu wenige Jahre vor sich, um auch nur eine Minute zu verschwenden.

„Ich habe den größten Teil der Woche in der Bibliothek verbracht und mich über das Verschwinden meiner Schwester informiert. Sie haben darüber ein ganzes Album angelegt.“

„Und Sie selbst haben nie eigene Nachforschungen angestellt?“

Faith verstand selbst kaum, warum sie es nicht getan hatte. „Ich habe gelernt, kontroversen Themen aus dem Weg zu gehen, und kein Thema war heikler als die Entführung. Sie war das wichtigste Ereignis im Leben meiner Eltern – und das Einzige, worüber sie nie gesprochen haben.“

„Gerade das macht sie auch in Ihrem Leben zum wichtigsten Ereignis.“

„Noch wichtiger als die Entdeckung, dass der Mann, mit dem ich fünfzehn Jahre geschlafen habe, schwul ist?“ In Faith keimte der Verdacht auf, dass Dottie Lee, die nie verheiratet gewesen war, sondern sich nur Liebhaber genommen hatte, damit mehr Grips bewiesen hatte als sie. „Das zeigt ja, wie viel Ahnung ich von den wirklich wichtigen Dingen habe.“

„Und warum sind Sie hier?“

„Ich habe mich gefragt, was Sie mir erzählen können.“

„Sie bitten eine alte Frau, die seit Jahren keinen Gedanken mehr an die Sache verschwendet hat, in ihrem Gedächtnis herumzuwühlen?“

Faith beugte sich vor. „Mir machen Sie nichts vor. Sie erinnern sich an alles. Und in Ihren Memoiren wird die Entführung ein eigenes Kapitel einnehmen, nicht wahr?“

Dottie Lee lächelte schelmisch. „Welche Memoiren?“

„Die, die Sie vor ein paar Wochen erwähnt haben. Ich glaube, wenn Sie wollten, könnten Sie dafür sorgen, dass sich die halbe Stadt in die Wolle kriegt.“

„Das möchte ich aber nicht ... solange ich noch lebe.“ Dottie Lee, deren weißes Haar heute Nachmittag von zahlreichen Strassspangen zusammengehalten wurde, legte den Kopf schief.

„Und danach?“

„Danach könnte es Ihnen durchaus Leid tun, mich gekannt zu haben. Nicht, dass ich Sie erwähnen werde. Ich habe mich entschlossen, Sie vollkommen außen vor zu lassen.“

„Sie haben in Erwägung gezogen, auch über mich zu schreiben?“

„Über so ein langweiliges Mauerblümchen? Ja, natürlich! Ihre Geschichte ist so herrlich anstößig – und sie wird immer anstößiger.“

„Dottie Lee!“

„Ich sage doch, ich werde es nicht tun.“ Sie machte eine Kunstpause. „Bei Ihren Eltern verhält sich die Sache natürlich vollkommen anders.“

Faith, die das Thema Memoiren nur angeschnitten hatte, um Dottie Lees Gedanken in die Vergangenheit zu lenken, war entsetzt. „Wollen Sie die Karriere meines Vaters zerstören?“

„Muss ich das tun, oder kommt mir Joe selbst zuvor? Was meinen Sie? Er ist wirklich kein sehr guter Senator. Ja, an Intelligenz mangelt es ihm nicht, und er war weiß Gott das Alphatier seiner politischen Rotte. Aber sein Motor läuft mit Vitriol, und früher oder später werden einige Leute das bemerken und ihn beseitigen. Hoffentlich erledigen sie das im Wahllokal.“

Faith fielen auf Anhieb etliche Politiker ein, die von dem Wunsch angetrieben wurden, es Joe heimzuzahlen. Sie konnte Dottie Lee nicht widersprechen, auch wenn sie selbst ihren Vater noch nie so wahrgenommen hatte. „Was könnten Sie denn ausplaudern, das seine Karriere beenden würde?“

Dorothy zog fragend eine ihrer nachgezogenen Brauen hoch. „Warum sollte ich Ihnen das verraten?“

„Bluffen Sie nur?“

„Durchaus möglich. Ich bin eine alte Frau, die Unterhaltung braucht.“

Faith spürte, dass sie Dottie Lee zum Thema Joe nichts mehr würde entlocken können. „Meinetwegen, amüsieren Sie sich. Und erzählen Sie mir, was Ihnen noch zu der Entführung einfällt.“

„Sagen Sie mir, was Sie am meisten interessiert.“

Mariana kam mit dem Teetablett herein, und Faith unterhielt sich kurz mit ihr. Erst als Mariana den Raum verlassen hatte, antwortete Faith.

„Also gut, ich habe da ein paar Dinge entdeckt, die mich überrascht haben. Ich wusste, dass ein Handwerker, ein Einwanderer namens Dominik Dubrov, verhört und aus Mangel an Beweisen freigelassen worden ist. Ich wusste, dass eine Menge Leute ihn für den Kidnapper gehalten haben, obwohl er ein Alibi hatte.“

„Diese Fakten kannten Sie also schon. Und was war Ihnen neu?“

„Mir war nicht klar, dass er tatsächlich im Haus meiner Eltern gearbeitet hat. Nicht bis neulich.“ Sie berichtete Dottie Lee von der Notiz, die Remy und sie entdeckt hatten.

„Er hat in der Tat dort gearbeitet“, bestätigte Dottie Lee.

„Die Zeitungen haben das ebenfalls geschrieben, und es hieß, er habe einen Schlüssel besessen. Der Polizei erschien das offenbar wichtig; vor allem deshalb hat man ihn verhört.“

„Natürlich war das wichtig“, meinte Dottie Lee. „Wegen dieses Schlüssels geriet Dominik unter Verdacht. Andererseits besaß er auch zu meinem Haus einen Schlüssel und zu denen etlicher weiterer Nachbarn.“

Das hörte Faith zum ersten Mal. „Zu Ihrem Haus?“

„Dominik war ein wunderbarer Mann. Stark, intelligent – aber leider recht ungebildet. Er ist als Jugendlicher mit seinen Eltern aus der Sowjetunion geflohen, und irgendwie haben sie sich bis hierher durchgeschlagen. Da war er schon zu alt, um hier zur Schule zu gehen, und er beherrschte die englische Sprache nicht besonders gut, aber mit den Händen war er ein Meister. Ich habe nie wieder jemanden so gut arbeiten sehen. Ein Handwerker aus der alten Welt.“ Traurig schüttelte sie den Kopf. „Seinesgleichen gibt es nicht mehr.“

„Also hat er auch für Sie gearbeitet?“

„Oh ja, und für einige andere hier in der Gegend. So hat er seinen Lebensunterhalt bestritten. Er hatte einen jungen Freund namens Sandor, irgendeinen Cousin, der manchmal mit ihm zusammenarbeitete. Sandors Familie ist während der Revolution aus Ungarn geflohen. Sie konnten alles: Sie verrichteten Sanitär- und Elektroarbeiten, betätigten sich als Tischler oder Maurer.“

Die Auflistung der Handwerkskünste, die Dominik Dubrov beherrschte, interessierte Faith weit weniger als die Frage, was er mit der Entführung zu tun hatte. „Hatten meine Eltern Ihnen diesen Mann empfohlen?“

„Nein. Ich werd’s Ihnen erklären.“ Dottie Lee rang nach den richtigen Worten; schließlich zuckte sie mit den Achseln. „Das kann man unmöglich erzählen, ohne Ihnen die ganze Wahrheit zu verraten. Ihr Vater hat Ihre Mutter dazu getrieben, Dominik zu engagieren.“

Faith Versuchte Sich einen Reim auf diesen Satz zu machen. „Was hat mein Vater damit zu tun?“

„Nachdem Ihre Eltern geheiratet hatten, drängte Ihr Vater Ihre Mutter, das Haus in Schuss zu bringen. Joe hatte das Gefühl, dass er auf seine Reputation achten musste und dass Lydia mit der Instandsetzung überfordert war. Lydia kam zu mir und bat mich um Rat. Ich dachte, dass Dominik der Beste wäre. Er konnte die schwersten Arbeiten übernehmen, aber Lydia würde alle entscheidenden Dinge selbst bestimmen. Alle wären glücklich.“

„Und waren sie mit seiner Arbeit zufrieden?“

„Das ist schwer zu sagen, nicht? Ich kann Ihnen berichten, was ich gesehen und gehört habe, aber nicht, was die Leute gefühlt haben.“

Faith wusste, dass Dottie Lee auswich. „Warum geriet er unter Verdacht? Nur weil er Zugang zum Haus hatte?“

„Was heißt da ,nur‘? Es gab keine Anzeichen für einen Einbruch. Jemand ist einfach durch den Garten gekommen, die Stufen hinaufgestiegen und ins Haus gelangt. Dann ist unser Unbekannter nach oben gegangen und hat sich Ihre Schwester geholt.“ Dottie Lee zuckte mit den Achseln. Für sie waren das alte Hüte.

„Meine Mutter hat mir erzählt, dass sie Klavier spielte. Sie hat nichts gehört. Vielleicht wäre alles anders gelaufen, wenn Hope geweint hätte.“ Sie überlegte kurz. „Vielleicht konnte sie nicht weinen.“

„Die Polizei hat diese Möglichkeit bestimmt in Erwägung gezogen.“

Faith kämpfte gegen die Vorstellung an, dass ein Neugeborenes aus seiner Wiege gehoben und zum Schweigen gebracht worden war, vielleicht gar erstickt, damit der Entführer sich unbemerkt aus dem Staub machen konnte.

„Dottie Lee, glauben Sie, dass Dominik Dubrov der Kidnapper war?“

Die Antwort fiel indirekt aus. „Dominik war hier in meinem Haus, als die Entführung stattfand. Ich hatte einen Rohrbruch. Er war gekommen, um das zu reparieren.“

Sie waren sein Alibi? Er war die ganze Zeit hier?“

Dottie Lee zögerte. „Nicht ganz.“

„Wie meinen Sie das?“

„Er ist einmal fortgegangen, um Ersatzteile zu kaufen. Er war nicht lange weg. Schätzungsweise zwanzig Minuten, vielleicht auch dreißig.“

„Zwanzig Minuten hätten ausgereicht, um meine Schwester zu entführen. Sie lag direkt nebenan.“

„Ja, aber er kam mit den Sachen zurück. Die Rechnung trug das Datum des Tages der Entführung, auch wenn es damals noch keine genauen Zeitstempel gab, wie wir sie heute kennen. Aber ein Angestellter in dem Eisenwarenladen meinte, er erinnere sich daran, Dominik an diesem Nachmittag kurz nach dem Zeitpunkt, als er mein Haus verlassen hatte, bedient zu haben. Und dann war da noch die Frage, wo er das kleine Mädchen so schnell hätte lassen können.“

„Es jemandem geben, mit dem er sich vorher abgesprochen hatte? Jemandem, der in der Nähe wartete?“

„Vermutlich. Aber die Polizei fand das Alibi gut genug. Er hatte kein Motiv, Hope verschwinden zu lassen.“

„In einem Artikel wurde behauptet, Geld sei das Motiv gewesen. Er war arm und hatte hohe Arztrechnungen zu begleichen. Sein kleiner Sohn litt unter Asthma und musste häufig ins Krankenhaus.“

„Ja, aber bedenken Sie, dass nie eine Lösegeldforderung einging. Auch nicht, bevor Dominik unter Verdacht geriet. Es hat Tage gedauert, bis die Polizei auf ihn aufmerksam wurde, weil alle Leute ihn so mochten, dass niemand den Ermittlern einen Wink geben wollte.“

„Dass niemand Lösegeld verlangt hat, kann auch heißen, dass Hope bei der Entführung gestorben ist und die Kidnapper die Nerven verloren haben.“

„Es gibt viele, viele Fragezeichen.“

„Es müssen doch noch weitere Verdächtige existiert haben. Ein Kind löst sich nicht einfach in Luft auf.“

„Ich glaube, Sie schauen sich zu viel schlechte Filme an. Es gibt nicht so viele geniale Detektive, wie Hollywood und Agatha Christie uns glauben machen wollen.“

„Was für einen Eindruck hatten Sie von den polizeilichen Ermittlungen?“

„Unprofessionell. Die Leute sind wie ein Heuschreckenschwarm in das Haus eingefallen. Wenn irgendwelche Spuren vorhanden gewesen sein sollten, haben sie sie in den ersten zehn Minuten vernichtet.“

„Das ist furchtbar.“

„Größtenteils jugendlicher Übereifer. Sie wollten den Kidnapper fangen. Sie wussten, dass er noch irgendwo in der Nähe sein musste. In der Hitze des Gefechts haben sie das Haus und die Nachbarschaft auf den Kopf gestellt. Als sie abgezogen waren, gab es nichts mehr, was man noch hätte untersuchen können.“

„Dominik Dubrov ...“

Dottie Lee schüttelte den Kopf. „Sie verdächtigen ihn noch immer?“

„Sechs Monate später hat er Selbstmord begangen. War das nicht fast ein Geständnis?“

„Alle möglichen Leute nehmen sich das Leben, Faith. Es ist eine Seuche. Haben die alle ein Kind entführt?“

„Natürlich nicht, aber ...“

„Dominik ist an dem Skandal zerbrochen. Er war ein guter, anständiger Kerl mit altmodischen Auffassungen. Zwar hat die Polizei ihn nie verhaftet, aber die Zeitungen und die regionalen Fernsehsender haben ihm den Prozess gemacht und ihn für schuldig erklärt. Sie hatten sonst nicht viel, worüber sie berichten konnten, also stürzten sie sich auf den Fall. Dominik hatte wahrscheinlich einen Nervenzusammenbruch, wie man das damals nannte. Er hat sich erhängt.“

„Sie halten ihn für unschuldig. So viel steht fest.“

„Habe ich das gesagt?“

„Nicht direkt.“

„Wenn Sie wirklich herausfinden wollen, was vorgefallen ist, dürfen Sie sich nicht auf das plausibelste Szenario versteifen. Das hat die Polizei schon getan – ohne Erfolg.“

Faith beugte sich vor. „Dottie Lee, wissen Sie, wer meine Schwester mitgenommen hat?“

Dottie Lee wich ihrem Blick nicht aus. „Diese Frage hat mir zuletzt ein ungehobelter junger Hauptwachtmeister gestellt, der in mein Haus kam, sich auf genau dieses Sofa setzte, auf dem Sie jetzt sitzen, und mit seinem Finger vor meinem Gesicht herumfuchtelte.“

„Was haben Sie ihm geantwortet?“

„Dasselbe, was ich Ihnen jetzt sage: Ich war nicht dabei. Ich habe nichts gesehen und nichts gehört, und was ich glaube, ist für die Ermittlungen irrelevant.“

„Dann vermuten Sie also etwas?“

Dottie Lee griff nach ihrer Teetasse. „Jeder macht sich so seine Gedanken, meine Liebe – wenn er nicht an fortgeschrittener Hirnerweichung leidet. Ich prophezeie Ihnen, dass Sie selbst die eine oder andere Theorie bezüglich der Entführung aufstellen werden, bevor diese Sache abgeschlossen ist.“