18. KAPITEL

Kurz vor der vereinbarten Rückkehr von Remy und Alex kam Faith nach Hause. Pavel und sie hatten sich bei „Sea Catch“ am C & O Canal mit seinen Freunden getroffen und auf einem schmalen, von Bäumen beschatteten Balkon die besten Meeresfrüchte gegessen, die Virginia zu bieten hatte. Joan und Carter Melvin waren fast ebenso ungezwungen und warmherzig wie Pavel und gaben ihr von Anfang an das Gefühl, in ihrem Kreis willkommen zu sein.

Sie hätte nicht vermutet, dass ihr eine nette Unterhaltung und Krabbenküchlein so gut tun würden. Joan und Carter hatten vor kurzem ein Haus in Glover Park, das an der Grenze zu Georgetown lag, gekauft. Auch sie steckten mitten in der Renovierung, wie offenbar die halbe Stadt. Und sie interessierten sich für historische Themen.

„Sie bringen also wirklich die Geschichte Ihres Hauses zu Papier?“ Joan, eine attraktive Brünette Ende vierzig, wirkte fasziniert. „Mit allem Drum und Dran?“

Faith freute sich, jemandem davon erzählen zu können. „Mir schwebt allerhand vor. Fotos, Grundrisse, Faksimiles von Dokumenten, vielleicht sogar ein Aquarell oder eine Kohlezeichnung auf dem Titel.“

„Das klingt nach einem richtigen Buch“, meinte Pavel.

„Ich denke schon. Ich möchte, dass es ein Andenken wird, das von Generation zu Generation weitergereicht wird. Die jeweils neuen Besitzer sollen die Geschichte nicht jedes Mal aufs Neue rekonstruieren müssen.“

Joan lehnte sich zurück und schob den noch halb vollen Teller mit Meeresfrüchte-Linguine von sich fort. „Und als Nächstes widmen Sie sich meinem Haus, ja?“

Faith hoffte, dass das ein Witz war. „Ich kann in Stichpunkten aufschreiben, wie man an die Informationen kommt, und Ihnen etwas helfen, das Ganze zu strukturieren.“

„Ich meine das ernst. Wären Sie bereit, die Geschichte unseres Hauses aufzuzeichnen?“ Bevor Faith sich irgendwie aus der Affäre ziehen konnte, fügte Joan hinzu: „Ich bitte Sie nicht um einen Freundschaftsdienst. Ihnen macht so etwas offenkundig Spaß, und Sie haben erzählt, dass Sie Arbeit suchen. Warum machen Sie nicht Ihr Hobby zum Beruf?“

Carter Melvin arbeitete in der PR-Abteilung von „Scavenger“ und war nur einen Hauch förmlicher als sein Chef. „Jeder karrierebewusste Angestellte möchte damit prahlen, wer in seinem Reihenhäuschen schon alles gelebt hat und gestorben ist. Allein Georgetown könnte Sie auf Jahre hinaus beschäftigen. Zum Teufel, Jack Kennedy hat in der Hälfte der Häuser gewohnt – und die andere Hälfte besucht.“

Faith fiel Nancy Reagans Freundin ein, die ihr gestanden hatte, wie gerne sie diese Nachforschungen an irgendwen delegieren würde. Nancys Freundin, die vermutlich jeden Fantasiepreis gezahlt hätte, um sich dieser Last zu entledigen, und die das fertige Produkt überall herumgezeigt und ihren Freundinnen verraten hätte, wie man die Verfasserin erreicht. Und es gab viele Leute wie sie.

„Auch ich würde dich engagieren“, sagte Pavel. „Und zwar nicht, um dir einen Gefallen zu tun, sondern weil ich wirklich neugierig auf das bin, was du herausfinden würdest.“

„Ich begreife allmählich, wie ,Scavenger‘ entstanden ist“, meinte Faith.

Die anderen lachten gutmütig und wechselten dann das Thema.

Aber für Faith war das kein Scherz. Der Gedanke hatte sie den ganzen Abend nicht mehr losgelassen. Sie brauchte Arbeit, am besten eine, bei der sie ihre zahlreichen Kontakte in der Stadt nutzen konnte. Sie hatte einen Abschluss in Geschichte – zwar in europäischer Geschichte, aber was machte das schon? Sie hatte gelernt, wie man sich Quellen erschloss und sie auswertete. Auch wenn ihre Themen früher andere gewesen waren, die Methodik ließ sich auch auf Lokalgeschichte anwenden.

Und wie schön müsste es sein, zu Hause zu arbeiten, da zu sein, wenn die Kinder aus der Schule kamen, präsent zu sein, wenn sie ihre Hilfe brauchten. Richtige Kinder waren sie zwar kaum noch, aber sie mussten noch immer beaufsichtigt und unterstützt werden.

Natürlich würde sie viel dazulernen müssen. Dass die Aussicht auf all die Arbeit sie nicht schreckte, zeigte ihr, wie sehr der Gedanke sie schon gefangen genommen hatte.

Als die Kinder hereinspazierten, ihre Großmutter im Schlepptau, war Faith bester Dinge. Gutes Essen. Neue Freunde. Eine mögliche Lösung ihres Jobproblems. Und Pavel Quinn, der natürlich nicht ans Ende dieser Liste gehörte.

„Du scheinst einen netten Abend verbracht zu haben“, sagte Lydia.

Remy musterte Faith kühl. Ihre Tochter freute sich offenbar gar nicht darüber, dass sie sich amüsiert hatte. „Ja, es war sehr nett.“ Faith beschrieb ausführlich, was sie gegessen hatten.

Die Kinder verschwanden nach oben und kabbelten sich, wer als Erster ins Bad durfte, und Lydia brach wieder nach Great Falls auf. Faith schaltete überall das Licht aus und kontrollierte, ob alle Türen und Fenster verschlossen waren; dann ging auch sie nach oben.

Eine Stunde später, nachdem die Kinder ihre Türen endgültig hinter sich zugezogen und allen Zank auf morgen vertagt hatten, lag sie noch immer wach im Bett und starrte die Decke an.

In ein paar Monaten würde sie geschieden sein. Nachdem sie David mit Abraham Stein ertappt hatte, hätte sie schwören können, dass sie sich nie wieder auf einen Mann einlassen würde. Noch einmal zu heiraten, das konnte sie sich immer noch nicht vorstellen. Sie hatte zu viele Jahre im Schatten eines Ehemannes gestanden. Jetzt war es an der Zeit herauszufinden, wer sie wirklich war.

Sie begriff zum ersten Mal seit dem dramatischen Zusammenbruch ihres alten Lebens, dass sie – ganz Joe Hustons Kind – zu sehr einem Schwarz-Weiß-Denken verhaftet gewesen war. Doch sie hatte sich verändert. Die Welt hatte sich verändert. Zum ersten Mal konnte sie nun selbst über den Fortgang ihres Lebens bestimmen und in wichtigen Fragen selbst eine Entscheidung fällen. Zum Beispiel, ob sie mit Pavel Quinn schlafen wollte oder nicht.

Sie musste lächeln. Pavel hatte sie nicht in sein Bett eingeladen. Ihm schien ihre lockere Freundschaft zu gefallen. Sie wusste durchaus noch, wie sich ein Annäherungsversuch abspielte, auch wenn ihre Erfahrungen diesbezüglich schon lange zurücklagen. Pavel war höflich, ungezwungen, freundlich.

Aber Pavel begehrte sie.

Ihre Finger hatten sich berührt und ihre Körper einander gestreift. Sie hatte ihn geküsst und er sie heute Nacht vor ihrer Haustür kurz umarmt – kurz sicher nicht, weil er kein Interesse an ihr hatte, sondern, ganz im Gegenteil, weil er sie nicht durch ein Übermaß an körperlicher Zuwendung vergraulen wollte.

Sie konnte nicht sagen, ob sie schon bereit war, mit ihm zu schlafen. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie im Bett überhaupt viel zu bieten hatte. Aber eines war klar: Für sie gab es kein wirksameres Aphrodisiakum als einen Mann, der sie begehrte.

Sie hatte keine Chance, diesem Gedanken noch ein wenig nachzuhängen. Vom Speicher drang wieder Geheul. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie setzte sich auf und griff nach ihrem Morgenmantel. „Blöde Katze.“ Sobald sie das ausgesprochen hatte, ging es ihr besser, obwohl Gast natürlich nichts dafür konnte, dass sie wie ein Menschenkind schrie.

„Was ist los?“ Remy lief im selben Augenblick auf den Flur wie sie. „Warum schreit sie?“ Auch Alex tauchte auf.

Die Katze hatte ihnen zu verstehen gegeben, dass sie in Ruhe gelassen werden wollte. Futter war in Ordnung. Wasser und Katzenstreu waren prima. Aber immer, wenn sie ihr näher zu kommen versuchten, fauchte Gast sie an. Faith war entschlossen, die ganze Katzenfamilie einzufangen und zum Tierarzt zu schaffen, damit sie untersucht und geimpft werden konnte, aber bis jetzt hatte sie sich noch nicht getraut.

„Wir müssen auf den Dachboden und nachschauen“, sagte sie.

„Was, wenn mit den Kleinen etwas nicht stimmt?“ Remy klang auf einmal gar nicht mehr cool.

„Lass uns nicht den Teufel an die Wand malen.“ Faith ging in Alex’ Zimmer und öffnete die Speichertür.

Am Fuß der Treppe stand Gast, die mit ihren Zähnen eine kleinere graue Ausgabe ihrer selbst vorsichtig am Nacken hielt. Als sie ihr auswichen, fegte Gast an ihnen vorbei, während das Kätzchen miaute und mit den Pfötchen strampelte. Die Mutter verließ den Raum und lief auf Remys Zimmer zu.

„Mom, da oben ist es höllisch heiß!“ Alex wedelte mit der Hand, als der heiße Luftschwall vom Speicher ihn erfasste.

Faith ging zwei Stufen hinauf und betätigte den Schalter, der den Ventilator in Gang setzte. Nichts geschah. „Der Ventilator tut’s nicht. Vielleicht ist die Sicherung rausgesprungen.“

„Die Kätzchen wären beinahe geröstet worden“, meinte Alex.

Faith beobachtete ihre Tochter, die Gast auf Zehenspitzen folgte. In ihrer Tür blieb Remy stehen. Faith stellte sich neben sie.

Gast tauchte gerade aus einer offenen Schublade von Remys Kommode auf und sprang zu Boden. Sie wartete, bis die beiden die Tür freigaben, und lief zurück zur Speichertreppe.

„Holt sie sie alle runter?“ flüsterte Remy.

„Ich glaube schon.“ Faith guckte Remy an. So aufgeregt hatte sie ihre Tochter seit Monaten nicht erlebt. Sie sah aus, als hätte sie ein Pony oder ein neues Fahrrad bekommen – so hatte sie häufig ausgeschaut, bevor ihr junges Leben in Scherben gegangen war.

„Warum hat sie sich für mein Zimmer entschieden?“ fragte Remy.

Faith hoffte, dass Alex nicht neidisch würde. Immerhin hatte er Lefty, der inzwischen in einem ordentlichen Käfig mit Laufrad und allen sonstigen Errungenschaften der modernen Nagetierhaltung lebte. „Sie ahnt halt, wo sie eine Freundin findet.“

„Ach, du bist ja blöd.“

„Ich weiß“, meinte Faith leise.

Gast kam mit einem zweiten Kätzchen vorbei, das weiß und lebhafter als sein Geschwisterchen war. Schließlich schleppte sie noch zwei weitere an, ein schwarz-weißes und eines mit einer Art Schildpatt-Muster, und machte es sich dann selbst in der Schublade bequem. Es gab also ein Jungtier mehr, als sie vermutet hatten.

„So endet das Märchen vom Geisterbaby auf dem Dachboden“, sagte Faith. „Morgen bringe ich sie zum Tierarzt.“ Sie tauchte einmal kurz in die mörderische Hitze des Speichers ein, um das Katzenstreu, den Fress- und den Trinknapf zu holen.

Die Kinder verschwanden wieder in ihren Zimmern, Remy mit den Katzenutensilien und einer für sie ungewöhnlich guten Laune.

Faith lächelte. Nachdem sie die Sicherung wieder eingeschraubt hatte und der Ventilator wieder arbeitete, ging Faith zu Bett. Sie wusste, dass sie vorerst keinen Schlaf finden würde. Ihr Blick fiel auf den Papierstapel neben ihrem Bett, und sie rang mit sich, ob sie die Artikel, die Dorothy ihr kopiert hatte, durchsehen sollte.

Schließlich lehnte sie sich an ein Kissen und ergriff den Stapel. Während das Haus in nächtlicher Stille versank, brachte sie die Kopien in eine chronologische Reihenfolge. Zwar hatte Dorothy nur einen kleinen Teil des verfügbaren Materials kopiert, aber er reichte, um sich ein Bild von den Berichten zu machen, die in den Wochen nach Hopes Entführung auf den Titelseiten gestanden hatten.

„Hope is lost.“ Faith schüttelte den Kopf und fragte sich, wie ihr Leben verlaufen wäre, wenn Hope nicht verloren gegangen wäre, wenn sie mit einer Schwester aufgewachsen wäre, der sie sich hätte anvertrauen und mit der sie hätte streiten können – und die ihr zur Seite gestanden hätte, wenn der Hustonsche Haussegen mal wieder besonders schief hing. Vielleicht hätte sie dann mehr Rückgrat entwickelt.

„Am 18. Juli wurde die neugeborene Tochter des Kongressabgeordneten Joe Huston und seiner Frau Lydia, geborene Charles, aus dem Haus der Familie in Georgetown entführt.“

Faith schaute sich mit glasigem Blick im Raum um. Sie seufzte und wandte sich wieder dem Artikel zu. Nachdem sie einen weiteren Absatz gelesen hatte, legte sie die Kopie für morgen beiseite und stand auf, um ihr Lieblingsbuch mit Dave-Barry-Kolumnen zu suchen. Sie wusste, wenn sie jetzt nichts zum Lachen fand, würde sie die ganze Nacht kein Auge zutun.

Lydia schaltete die Alarmanlage wieder an und rief Samuel, den jungen Mann, der ihr Anwesen in Great Falls bewachte, im Gästehaus an, um Bescheid zu geben, dass sie wohlbehalten nach Hause zurückgekehrt war. Sie vermutete, dass er das bereits wusste. Er zahlte keine Miete und erhielt einen anständigen Lohn dafür, dass er das Kommen und Gehen im Hause Huston im Auge behielt. Außerdem spielte er manchmal den Chauffeur, wenn Joe nicht selbst zum Bürohaus des Senats oder zu einer Sitzung irgendwo in der Stadt fahren wollte. Wäre Lydia nicht nach Hause gekommen, so hätte er ihren Mercedes mit Hilfe des GPS-Signals geortet und die Behörden informiert. In Sachen persönliche Sicherheit hatten Joe und sie ihre Lektion gelernt.

Sie knipste alle Lampen bis auf die im Flur aus und ging in den Flügel hinüber, in dem ihr Schlafzimmer lag. Joe hielt sich wahrscheinlich im anderen Flügel auf und steckte tief in Arbeit. Er war dafür bekannt, dass er zwar viele Partys besuchte, aber immer verschwand, bevor die Sauferei richtig losging. Er arbeitete sich einmal durch die Gästeschar, und nach vollbrachter Tat setzte er sich nach Hause ab, bevor die echten Partylöwen überhaupt warm gelaufen waren.

Alex und Remy hatten ihn heute Abend nicht oft zu Gesicht bekommen. Als Joe von einem Empfang der „National Archives“ zurückgekehrt war, hatte er einen pflichtschuldigen Abstecher ins Wohnzimmer unternommen, wo die fantastischen X-Men über den Bildschirm geflimmert waren, hatte die Kinder gefragt, wie es in der Schule lief, und Alex befohlen, die Füße vom Couchtisch zu nehmen, und den Raum unter mürrischem Gemurmel über Gewalt in Hollywood-Filmen verlassen. Sie hatte den Blick bemerkt, den ihre Enkel ausgetauscht hatten, und sich gefragt, wie oft sie selbst ihnen schon Anlass gegeben hatte, genervt mit den Augen zu rollen.

In ihrem Zimmer zog sie sich um und setzte sich in ihrem langen Nachthemd aus Baumwolle vor die Frisierkommode, um den Schmuck abzulegen und ihr Make-up zu entfernen. Ihr Spiegelbild missfiel ihr. Ganz gleich, wie sehr eine Frau dagegen ankämpfte, das Alter forderte seinen Tribut. Keine Operation, kein Diät- oder Fitnessprogramm vermochte die Uhr zurückzudrehen. Sie war sechsundsechzig und spürte jedes dieser Jahre.

Im Bett legte sie sich auf die Seite, schloss die Augen und fragte sich, ob dieser Traum sie heute wieder heimsuchen würde. Seltsamerweise hatte sie ihn seltener, seit Faith in die Prospect Street gezogen war. Sie hatte den Verdacht, dass es an den Fortschritten lag, die Faith dort machte. Zu ihrem eigenen Erstaunen gefiel es ihr zu sehen, wie das Haus wieder zum Leben erwachte. Sie hatte erwartet, dass das Haus sie schmerzhaft an den schlimmsten Augenblick ihres Lebens erinnern würde. Stattdessen fiel ihr, während sie beobachtete, wie Faith die Renovierungsarbeiten meisterte, ihre eigenen Begeisterung wieder ein, mit der sie als junge Frau ihr erstes Heim eingerichtet hatte.

Das war natürlich lange her. Sie gab sich selten solchen Erinnerungen hin, da sie meist mit Schuldgefühlen aufgeladen waren. Doch jetzt versetzte sie sich in die Zeit zurück, als sie das Haus gerade erst bezogen hatte – wie auch Joe gerade erst der ihre geworden war. Sie war nicht immer sechsundsechzig gewesen. Damals, mit sechsundzwanzig Jahren, hatte sie viel Energie und Zuversicht besessen, sie war eine junge Frau gewesen, die sich ihren Ehemann aus einer eindrucksvollen Liste von Bewerbern ausgesucht hatte.

Sie hatte vor Lebenslust vibriert und war sich ihrer Liebe sicher gewesen.

Wie lang das her war.

Als Joe und sie von ihrer kurzen Hochzeitsreise von den Bermudas zurückgekehrt waren und Lydia ihre erste gemeinsame Mahlzeit vorbereitete, wählte sie schlanke, rosafarbene Wachskerzen, um den Tisch zu schmücken. Sie polierte die silbernen Kerzenständer, obwohl sie seit der Hochzeit im April noch gar keine Gelegenheit gehabt hatten, anzulaufen. Sie hatte ein Blumengeschäft auf der Wisconsin Avenue besucht, sechs rosa-weiße Pfingstrosen ausgesucht und sie nun mit ein wenig Grün aus Großmutters verwildertem Garten in einer böhmischen Kristallglasvase arrangiert.

Ihr Hochzeitsgeschirr, cremeweiß mit dünnen silbernen und goldenen Rändern, machte sich gut auf dem blassgrünen Leinentischtuch, das Lydias ehemalige Zimmergenossin vom College ihnen geschenkt hatte, und das neue Silberbesteck mit den zierlichen Griffen im Muscheldesign lag auf den cremefarbenen Servietten, die sie von einer von Joes Tanten bekommen hatten.

In Georgetown herrschte im frühen Juni eindeutig schon Sommer. Heute waren die Temperaturen unerwartet auf zweiunddreißig Grad gestiegen, und die Luft kochte förmlich. Sie hatte die hiesigen Sommer, vor denen selbst die robustesten Naturen kapitulieren mussten, schon fast vergessen gehabt. Als Kind hatte sie in Bombay und später in Samoa gelebt. Hitze und Feuchtigkeit waren ihr also vertraut, aber sie hatte verdrängt, dass auch Washington manchmal in den Tropen zu liegen schien.

Das alte Reihenhaus war an die Hitze gewöhnt. Die Wände waren dick genug, um die Einwohner vor dem Schlimmsten abzuschirmen. Im neunzehnten Jahrhundert hatten die Architekten gewusst, wie man bauen musste, um die Hitze erträglich zu machen: hohe Decken, damit die warme Luft nach oben stieg, und einander gegenüberliegende Fenster, dank derer man für Durchzug sorgen konnte.

Sie wollte eine Klimaanlage einbauen lassen, war aber noch nicht dazu gekommen, Bauunternehmer zu suchen und Angebote einzuholen. Kaum dass Joe und sie von den Bermudas zurückgekehrt waren, hatte sich Joe zu einer Untersuchungsmission nach Kuba aufgemacht. Er war eigentlich noch nicht lange genug im Kongress, um für so verantwortungsvolle Aufgaben ausgewählt zu werden, aber man betrachtete ihn als Kriegsheld, der bei Inchon sein Leben aufs Spiel gesetzt und seinen Einsatz für ein starkes, kommunistenfreies Amerika unter Beweis gestellt hatte. Also musste er natürlich gehen, denn der Kuba-Auftrag stellte eine Art Auszeichnung dar.

Lydia war so stolz auf ihn, aber sie hatte sich auch oft einsam gefühlt, als sie das Haus einrichtete. Von Kuba war Joe nach Norfolk geflogen, dann weiter nach Roanoke und Richmond, zu einer kurzen Vortragsreise durch seinen Bundesstaat. Reisen und Kampagnen gehörten zu seinem Beruf, das verstand Lydia. Sie war dennoch heilfroh, dass er heute Abend nach Hause kommen würde.

In den Wochen seiner Abwesenheit hatte sie sich bemüht, das Haus zu verschönern. Sie wusste, das ihr Mann das Reihenhaus eigentlich nicht mochte, obwohl andere Leute fanden, dass Georgetown für einen Politiker genau die richtige Adresse war. Ihm gefiel vermutlich vor allem, dass sie hier kostenlos wohnen konnten. Nach dem Tod ihrer Großmutter war das Haus Lydia quasi in den Schoß gefallen. Wie viele junge Abgeordnete hatten schon das Glück, ihre Karriere zu beginnen, ohne sich ständig darüber Sorgen machen zu müssen, wie sie ihre Unterkunft finanzieren sollten? Dennoch, Joe war ein einfacher, geradliniger Charakter, der den engen, baumgesäumten Straßen von Georgetown mit ihrem eigenartigen Charme nichts abgewinnen konnte.

Sie lächelte liebevoll. Joe war einer dieser Männer, die hier lieber effiziente, moderne Hochhäuser aufragen sähen, wie sie am anderen Ufer immer häufiger zu finden waren. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er Georgetown komplett planiert, auch wenn sein politischer Instinkt ihm verbot, das offen auszusprechen.

Sie verschob ihren Teller drei Millimeter nach rechts und ging in die Küche, um die Vorbereitungen fürs Abendessen abzuschließen. Auf ihrer Hochzeitsreise hatte sie entdeckt, dass Joe auch in Sachen Essen und Trinken einfache Dinge bevorzugte. Er war mit Landschinken, Maisbrot und Bohnen aufgewachsen, wie die meisten Bewohner des Südens von Virginia. Was für die Leute, die ihn wählten, gut genug war, sollte auch für ihn gut genug sein. Sie fand seine Vorlieben amüsant und hatte sich vorgenommen, ihm manche Dinge allmählich abzugewöhnen.

Für ihre heutige Wiedersehensfeier hatte sie Bœuf Stroganoff zubereitet, mit dem feinsten Fleisch, das der hiesige Metzger zu bieten hatte. Was war Bœuf Stroganoff schon anderes als Steak mit Rahmsauce? Sie hatte grüne Bohnen gekocht – länger, als es ihr lieb war, aber dafür bereitete sie jetzt eine Sauce aus Butter und blanchierten Mandeln zu, die sie vorm Servieren über die Bohnen geben würde. Sie hatte Brötchen gebacken, und zum Nachtisch sollte es ein Soufflee mit frischen Erdbeeren geben.

Joe würde beeindruckt sein.

Ebenso sicher war sie sich, dass ihn all das, was sie am Haus getan hatte, beeindrucken würde. Sie hatte die alten Möbel ihrer Großmutter gesichtet und nur behalten, was wertvoll war oder wovon sie sich nicht trennen konnte. Dazu gesellten sich nun die besten Stücke aus der Wohnung, in der sie vor der Hochzeit gelebt hatte, und ein paar gute Möbel aus Joes Familienbesitz.

Sie hatte Violets schwere, ausgeblichene Vorhänge entfernt und durch preiswerte Meterware von „Woody’s“ ersetzt. Mochte der junge Jack Kennedy auch mit seinem eigenen Koch nach Georgetown gezogen sein, nicht alle Kongressabgeordneten hatten eine derart einflussreiche Familie und verfügten über einen unbegrenzten Kreditrahmen.

Lydia hatte gehofft, noch vor Joes Rückkehr mit der Küchenrenovierung fertig zu werden, aber es war mehr Arbeit, als sie angenommen hatte. Sie war drauf und dran, wieder herunterzureißen, was sie mühsam an die Wände geklebt hatte, und die Küche in einem hellen Zitronengelb zu streichen. Sie würde diese wilde Farborgie jedes Mal genießen, wenn sie durch die Tür trat.

Als in der Küche alles fertig war, lief sie nach oben, um ihr Lieblingskleid anzuziehen und die Banane, die ihre Friseuse am Nachmittag kreiert hatte, mit ein paar zusätzlichen Haarnadeln zu sichern. Wie alles in der Hauptstadt löste sich die Steckfrisur schon ansatzweise auf, trotz der Unmengen von Haarspray, aber sie sah noch nicht zu zerzaust aus. Anlässlich ihrer Verlobung mit Joe hatte der Kolumnist der „Post“ Lydias blonde, aristokratische Erscheinung mit Fürstin Gracia Patricia verglichen. Das Leben war großartig.

Als die Haustür aufging, hielt sie sich noch oben auf. Sie lächelte und freute sich, dass ihr so die Gelegenheit geboten wurde, einen großen Auftritt auf der Treppe hinzulegen. Bevor sie ihren Mann begrüßen ging, strich sie ihr Kleid glatt und richtete die Goldkette mit der Tropfenperle, die Joe ihr am Hochzeitstag geschenkt hatte.

Joe stand am Fuß der Treppe, als sie hinabschwebte. Er riss die Augen auf und seine struppigen Brauen schossen in die Höhe, sodass sie fast mit dem Haaransatz verschmolzen, als er sie erblickte. Er war kein Lächler – das hatte sie gleich bei ihrem ersten Treffen bemerkt. Aber sein mürrischer Ausdruck war ihr im Laufe der Monate ans Herz gewachsen. Wenn er einmal lächelte, war der Effekt umwerfend.

„Abgeordneter Joseph Huston, wie ich vermute?“ Ein paar Stufen vor dem Ende der Treppe hielt sie inne und warf sich in Pose. „Welchem Umstand verdanke ich das Vergnügen?“

„Du siehst hinreißend aus, Lydia. Zum Vernaschen schön.“

Da sie sich den Ausklang des Abends genau so vorgestellt hatte, war sein Kommentar ermutigend. „Und du wirkst wie ein Mann, der Eistee und einen Kuss braucht.“

Er breitete die Arme aus, und sie schmiegte sich an ihn.

Minuten später ließ er sie los. „Ich habe dein Make-up ruiniert.“

„Das macht nichts. Du gehst hoch und ziehst dich um, und ich richte mich wieder her. Wenn du wiederkommst, ist dein Tee fertig.“

Als er wieder auftauchte, hatten sich auf den Gläsern Kondenstropfen gebildet. Im Anzug schaute er annehmbar aus, aber da er wie seine bäuerlichen Vorfahren gebaut war, stand ihm legere Kleidung besser. Er hatte ein gestreiftes Oxford-Hemd, graue Bügelfaltenhosen und Halbschuhe angezogen.

Joe war nicht hübsch. Niemand wäre je auf die Idee gekommen, ihn als schönen Mann zu bezeichnen. Aber seine ausgeprägten Gesichtszüge vermittelten den Eindruck, dass man sich auf ihn verlassen konnte, was die breiten Schultern und der kräftige Körperbau noch unterstrichen. Innerhalb weniger Jahre hatte sie Mutter und Vater und Großeltern verloren, aber in der Stunde der Not war Lydia Joe begegnet.

Mit einem adretten Lächeln reichte sie ihm seinen Tee. „Ich habe viel Zucker und Zitrone hineingetan – und etwas Minze aus Großmutters Garten. Vielleicht kann ich ihn wieder in Schuss bringen, bevor er vollends verwildert.“

Er nahm drei große Schlucke, bevor er antwortete. „Ich hoffe, du betrachtest das nicht als deine vornehmliche Aufgabe, meine Liebe.“

„Nein, hier drinnen gibt es wichtigere Probleme. Diese Tapete zum Beispiel.“ Sie zog eine Grimasse. „Es tut mir Leid. Das ist schwieriger, als ich dachte. Vielleicht sollte ich sie abreißen und die Wand streichen.“

Er sah aus, als verkniffe er sich einen Kommentar – was ungewöhnlich genug war, um ihre Neugier zu wecken. „Joe? Du hast noch gar nichts zu den Veränderungen gesagt, die ich vorgenommen habe.“

„Viel Gelegenheit hatte ich noch nicht, oder?“

Sie hob den Deckel vom Fleischtopf. „Guck dich doch um, während ich das Essen auftrage. Und dann sag mir, was du davon hältst.“

Als er die Küche verließ, rührte sie den Sauerrahm ein und füllte das Bœuf Stroganoff in eine Servierschale um. Die Nudeln hatten gerade den richtigen Biss; sie schüttete das Wasser ab und füllte sie ebenfalls um. Die grünen Bohnen kamen in eine dritte Schüssel, und sie trug alles ins Esszimmer.

„Ich hatte nicht erwartet, diesen alten Tisch hier wieder vorzufinden.“ Joe schielte auf ihre Tafeldekoration.

„Das ist Mahagoni. Sobald ich ihn ein bisschen aufpoliert habe, wird er sich fantastisch in diesem Zimmer machen.“

„Ich mag dieses alte Zeug nicht. Wir leben im zwanzigsten Jahrhundert.“

Die Schärfe in seiner Stimme überraschte sie, aber sie führte sie auf seine Erschöpfung zurück. „Schatz, wir leben in Georgetown. Hier strotzt alles vor Geschichte. Die Antiquitäten passen zum Haus und zur Gegend. Plastik und Kunstleder wären hier wohl fehl am Platz, oder?“

Sie war enttäuscht, dass er kein freundliches Wort darüber verloren hatte, wie herrlich der Tisch gedeckt war, aber sie trug es mit Fassung.

Männer zogen in die Welt hinaus, um Drachen zu töten, und wenn sie zurückkehrten, schwangen sie noch immer ihre kleinen Schwerter. Es war die Aufgabe der Frauen, sie zu beruhigen und wieder zivilisierte Wesen aus ihnen zu machen. Und an manchen Tagen dauerte das halt etwas länger als sonst.

Sie bemühte sich, seine schlechte Laune durch Neckerei zu vertreiben. „Außerdem bist du doch derjenige, Joe, der immer davon redet, dass sich die Dinge zu schnell ändern und wir innehalten und uns auf die Werte unserer Vorväter besinnen sollten. Versuch die Antiquitäten doch einfach unter diesem Aspekt zu sehen.“

„Ich nehme an, wenn sie dir gefallen ...“

„Mir? Mir gefällt mein Ehemann, und ich will nur, dass er glücklich ist.“

Das schien ihn ein wenig zu besänftigen. Als alles aufgetragen war, zog er ihren Stuhl zurück und ließ sie Platz nehmen. Sie reichte ihm jede Schüssel und tat sich erst auf, wenn er sich bedient hatte. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie er den ersten Bissen vom Bœuf Stroganoff in den Mund steckte und sich Widerwille auf seinen Zügen abzeichnete. Er kaute und schluckte, nahm aber keinen zweiten Bissen, sondern wandte sich den grünen Bohnen zu.

„Magst du kein Bœuf Stroganoff?“ Sie konnte sich das gar nicht vorstellen. Ihr Vater hatte das Rezept aus dem Chefkoch des „Mayflower Hotel“ herausgekitzelt. Harold Charles hatte behauptet, es sei schwerer gewesen, an dieses Rezept zu gelangen, als Joseph Stalin nach dem Zweiten Weltkrieg zu Zugeständnissen zu bewegen.

Joe wirkte gequält. „Ich mag keine Pilze. Ich finde sie eklig.“

„Meine Güte. Ich hatte keine Ahnung. Du hast es mir nie erzählt.“

„Das ist nicht gerade ein gängiges Gesprächsthema, Lydia.“

„Ja, aber wir sind jetzt verheiratet, Joe. Ich sollte so etwas wissen. Am besten machst du mir eine Liste.“

Er hielt eine Gabel Bohnen hoch und starrte sie zornig an. „Ich kann auch Nüsse an meinem Gemüse nicht leiden.“

„Das sind nur ein paar Mandeln, Schatz. Zur Geschmacksverbesserung.“

„Grüne Bohnen haben auch so genug Geschmack.“

Ihre Freude an dem Essen, an der Tafeldekoration, an seiner Rückkehr schmolz rasch dahin. „Tja, dann kannst du die Sachen, die du nicht magst, ja liegen lassen.“

Er legte die Gabel hin. „Das wäre so ziemlich alles.“

Ihr schossen Tränen in die Augen. „Ich habe mir mit dieser Mahlzeit viel Mühe gegeben. Ich wollte, dass sie etwas Besonderes wird.“

Er schien sich eines Besseren zu besinnen, holte tief Luft und nahm die Gabel wieder in die Hand. „Ich weiß, dass du dir Mühe gegeben hast. Vielleicht muss ich mir etwas mehr Mühe geben, meinen Geschmack zu ändern.“

Sie blinzelte unter Tränen und konzentrierte sich auf das Essen auf ihrem Teller, das ihr jetzt ungefähr so schmackhaft erschien wie Pappe.

„Und was ist mit den Vorhängen passiert?“ Joe nahm einen großen Schluck Eiswasser. Er trank nach jedem Bissen einen Schluck.

„Sie waren alt und ausgeblichen. Der schwere Stoff hat überhaupt kein Licht hereingelassen, und ich möchte mitbekommen, was draußen vor sich geht. Und diese Reihenhäuser sind oft so düster.“

„Jetzt kann uns die ganze Welt beobachten.“

„Man nimmt doch höchstens ein paar Silhouetten wahr.“

„Ich bin im Kongress. Ich will nicht, dass alle wissen, was ich mache und mit wem ich mich unterhalte.“

Sie blickte auf. „Joe, wenn dich hier jemand Wichtiges besucht, muss er aus dem Auto steigen und zur Haustür gehen. Da kann ihn ohnehin jeder sehen. Sobald er drinnen ist, wird er zu einem Schatten hinter der Gardine.“

„Was, wenn jemand mir oder meinen Besuchern Schaden zufügen will? Er kann jederzeit erkennen, wo wir sind.“

Sie schob ihren Stuhl zurück und warf ihre Serviette auf den Tisch. „Dann such du die Gardinen aus, ja? Du klapperst die Geschäfte ab und suchst den Stoff aus, oder – noch besser – du gehst in einen Army-Laden und besorgst uns Verdunkelungsvorhänge aus dem Zweiten Weltkrieg. Und wenn du schon dabei bist, kauf auch gleich ein paar Möbel, die dir gefallen. Nichts von dem, was ich bis jetzt getan habe, sagt dir zu. Warum sollte ich weitermachen?“

„Nun werd nicht hysterisch. Um Himmels willen, ich habe mich nur über den Sicherheitsaspekt geäußert.“

„Und über Pilze und Mahagoni und Nüsse in deinem Gemüse.

Oder was du für Nüsse hältst!“ Sie erhob sich, nahm ihren Teller und stürmte in die Küche.

Mit gesenktem Kopf stand sie vor der Spüle. Der eingeschaltete Ventilator auf der Arbeitsfläche ließ ihre losen Haarsträhnen flattern, und sie kitzelten sie im Gesicht. Ein Fetzen abgelöster Tapete schabte jedes Mal, wenn der Ventilator in seine Richtung blies, an der Wand entlang, fast im selben Rhythmus, in dem ihre Tränen in das Becken fielen.

Als das Schlimmste vorüber war, richtete sie sich auf und fing an, die Töpfe und Pfannen auszuscheuern. Sie arbeitete so verbissen, dass sie Joe erst bemerkte, als er direkt hinter ihr stand.

„Du reagierst ein wenig übertrieben.“

Sie vermutete, dass das seiner Vorstellung von einer Entschuldigung entsprach. „Du hast nicht ein nettes Wort für meine Arbeit hier übrig gehabt.“

„Ich bin jetzt im Kongress. Ich lebe im Licht der Öffentlichkeit. Wir sind nicht irgendein junges Paar, das einen Haushalt aufbaut. Es gibt Ansprüche, denen wir genügen müssen.“

Sie wandte sich ihm zu. Dass ihre Wimperntusche wahrscheinlich vollkommen verlaufen war, störte sie nicht. „Ich bin die Tochter eines Botschafters, Joe. Meinst du nicht, dass ich mich mit diesen Standards auskenne? Zu den ersten Sachen, die mein Vater mir beigebracht hat, zählten zwei Dinge: Sei niemals grausam zu anderen Menschen und versteige dich niemals zu der Haltung, dass deine Art, etwas anzupacken, die einzig Richtige ist.“

„Dann wirst du wohl einräumen, dass deine Art in diesem Fall falsch war.“

Sie konnte nicht fassen, dass er versuchte, sie mit ihren eigenen Worten zu schlagen, und völlig ignorierte, was sie damit eigentlich hatte ausdrücken wollen. „Was soll ich deiner Meinung nach tun?“

„Du brauchst professionellen Rat. Such dir jemanden, der die Arbeit macht und entscheidet, was hier hineinpasst. Ich werde mich bei ein paar Kollegen erkundigen, wer für so etwas in Frage kommt.“

„Ein Innenausstatter? Du möchtest, dass ich einen Innenausstatter beschäftige?“

„Nur fürs Grundsätzliche. Damit alles seine Ordnung hat.“

„Ich brauche niemanden, der mir sagt, was richtig ist. Ich habe Geschmack. Ich habe Stil.“

„Ich will es aber.“

Sie erwog, seinen Wunsch abzulehnen. Was würde er dann tun? Wie würde er sie bestrafen?

„Bitte.“ Er rang sich ein Lächeln ab. „Das ist eine zu schwere Aufgabe für eine kleine Frau. Du wirst genügend anderes im Kopf haben. Wir müssen eine Familie gründen. Ich möchte nicht, dass du Möbel streichst und Farbdämpfe einatmest und auf Leitern kletterst, wenn du schwanger bist.“

In diesem Augenblick konnte sie sich nicht vorstellen, die Mutter seiner Kinder zu werden. Sie war zu wütend und vor allem zu verletzt. Sie wandte sich ab und starrte die Wand über der Spüle an.

Joe legte ihr die Hände auf die Schultern. „Du hast schon so viel getan, um das Haus wohnlicher zu gestalten. Warum lässt du dir nicht helfen? Dann wirst du mehr Zeit für andere Dinge haben und kannst dich mit ein paar Frauen aus der Nachbarschaft anfreunden.“

Das Haus gehörte ihr. Ihr! Und sie liebte es auf eine Weise, mit der kein Innenausstatter mithalten konnte. Sie verkniff sich diesen Kommentar. „Ich werde mir ein paar Namen besorgen und mich beraten lassen. Aber nur beraten, Joe. Was das Haus angeht, treffe ich die letzten Entscheidungen. Sind wir uns einig?“

„Wenn du versprichst, die Arbeit nicht selbst zu machen. Du musst an Wichtigeres denken. Du willst doch ein Baby, oder?“

Sie fragte sich, warum er eins wollte. Genoss er die Vorstellung, jemanden im Hause zu haben, den er durch seine pure körperliche Überlegenheit dazu bringen konnte, all seinen Anordnungen zu gehorchen?

Dieser Gedanke ängstigte sie. Sie übertrieb sicherlich maßlos. Joe war müde, und es war heiß. Sie hatte den Fehler begangen, Stroganoff zuzubereiten, sodass er auch noch Hunger hatte. Aber er war der Mann, für den sie sich entschieden hatte. Der Mann, den sie liebte.

„Ich verspreche es“, sagte sie mit fester Stimme. „Und ja, natürlich möchte ich ein Baby. Aber vielleicht nicht sofort. Ich will mich erst einleben.“

Er strich ihr über die Oberarme. „Dann leben wir uns ein. Ruf morgen gleich ein paar Leute an, in Ordnung?“ Er drehte sie zu sich um. „Sehe ich da Erdbeeren?“

„Und Soufflee.“ Sie reckte das Kinn vor. „Das magst du wahrscheinlich auch nicht.“

„Ich sterbe für beides. Ich kann es kaum erwarten.“ Er beugte sich vor und küsste sie.

Sie ließ ihn gewähren, aber die Lust war ihr vergangen.