8. KAPITEL
Jeder konnte Pavel Quinn gut leiden. Als es den Ostblock noch gab, hatte eine Exgeliebte einmal gesagt, er werde von allen gemocht, weil er von niemandem geliebt werden wolle. Pavel wisse genau, wo die Grenze zwischen beidem verlief, und bewache sie so scharf wie ein DDR-Soldat die Berliner Mauer.
Er hatte natürlich gegen diesen Vergleich protestiert. Gut, er hatte einen russischen Vornamen, aber nicht jeder Russe war ein Kommunist, schon gar nicht in seiner Familie. Und ganz bestimmt hatte nie ein Quinn die innerdeutsche Grenze bewacht. Das Steinewerfen in Belfast lastete sie völlig aus.
Die Geliebte hatte melodramatisch die Arme hochgerissen und war zu seiner Haustür hinausmarschiert. Er hatte ihr mit einer Mischung aus Traurigkeit und Erleichterung nachgeblickt. Sie war eine chilenische Schönheit gewesen, die einfallsreichste Liebhaberin, die er je in sein Bett gebeten hatte, und – wenn es ums Essen ging – eine fast ebenso große Genießerin wie er.
Sie war aber auch besitzergreifend und launenhaft gewesen. Sie hatte in seinem Inneren verzweifelt nach Dingen gesucht, die einfach nicht da waren. Wer könnte das besser beurteilen als er?
Seither hatte Pavel sich Geliebte zugelegt, die sich nicht so verhielten. Er mochte Frauen, die Laute, die sie von sich gaben, wenn sie zufrieden waren, die Wärme, die sie ausstrahlten, wenn er neben ihnen schlief, ihr duftendes Haar, die Brüste, weich wie Kissen. Er würde nicht sagen, dass er sie alle mit derselben Intensität geliebt hatte, aber die Erfahrungen ähnelten sich stark: Frauen traten in sein Leben. Er amüsierte sich prächtig mit ihnen. Sie zogen von dannen.
Heute half er einer von ihnen beim Packen.
„Du bist ein furchtbarer Typ!“ Odette schüttete den Inhalt einer Kommodenschublade in eine Tragetasche. Da die Schublade nur sorgfältig zusammengelegte Unterwäsche enthielt, war anschließend noch Platz in der Tasche. Sie packte ihre Polohemden und die heißesten Shorts südlich der Mason-Dixon-Linie dazu.
„Tja, ich weiß, dass es nicht leicht ist, mit mir zusammenzuleben.“ Pavel, der beflissen einen lilafarbenen Baumwollsweater zusammenfaltete, fühlte sich verpflichtet, einen Teil der Schuld auf sich zu nehmen.
„Keine Frage, aber davon rede ich gar nicht.“ Odette riss die letzte Schublade auf und klaubte ihre Socken und eine Kosmetiktasche zusammen.
„Wovon dann?“
„Du bist ein Radarschirm ohne Leuchtflecke.“
Das hatte man davon, wenn man sich mit einer Fluglotsin zusammentat. „Du wolltest Leuchtflecke?“
Sie reckte sich und runzelte die Stirn. „Jede Frau will das, Pavel. Du bist eigentlich alt genug, um das zu wissen.“
Er war einundvierzig und näherte sich rasant dem Alter, in dem man nichts mehr dazulernte. Vor allem bezüglich der Frauen. „Hast du dich nach mehr Streit gesehnt? Damit wir uns im Bett wieder versöhnen konnten? Nach was, Odette?“
Odette seufzte. Sie war keine besonders gefühlsbetonte Frau. „Nein, Streit liegt mir auch nicht. Vielleicht hätte es mir schon gereicht, wenn ich auf deinem Radarschirm Leuchtflecke hinterlassen hätte.“
„Das hast du. Natürlich.“
Sie blickte auf. „Ich brauche noch eine Tasche. Und nein, das habe ich nicht. Nächste Woche hast du garantiert schon vergessen, dass ich hier gewohnt habe.“
„Vergiss es, Pavel.“ Sie war eine langbeinige Brünette mit offenem Haar, das bis zur Rückenmitte herunterreichte, und der Figur eines Bomberstaffel-Pin-up-Girls. Ihre Gesichtszüge waren etwas zu ausgeprägt, vielleicht sogar derb, aber das hatte er an ihr besonders reizvoll gefunden. Pavel verabscheute Perfektion.
Da es nichts mehr zu sagen gab, ging er in die Küche und angelte zwischen Spülmittelflaschen, Putzzeug und schmutzigen Geschirrtüchern eine weitere Plastiktüte hervor. Als er zurückkam, nahm sie sie ihm aus der Hand und warf ihre restlichen Sachen hinein. „Also, das wär’s. Ich muss los.“
„Soll ich dich anrufen? Wir könnten nächstes Wochenende essen gehen.“
„Die Antwort lautet nein.“ Odette schaute ihn an. „Und dabei bleibt’s auch, also bemüh dich nicht.“ Sie lächelte schief. „Hat Spaß gemacht mit dir, großer Junge. Ein schönes Leben noch.“
Da er genau mit dieser Reaktion gerechnet hatte, lächelte er zurück. Und bevor sie sich dagegen wappnen konnte, zog er sie zu einer letzten heftigen Umarmung an seine Brust.
„Das könnte mir fehlen“, meinte sie, sobald er sie losgelassen hatte. „Aber das meiste andere hier nicht. Du solltest jemanden anheuern, der weiß, wie man solche Renovierungen durchführt. Das Haus ist ein Dreckloch.“ Odette hob die Tüten hoch und schüttelte den Kopf, als er ihr eine bis zum Auto tragen wollte. „Ich bin weg.“
Er begleitete sie nach vorn und öffnete eilfertig die Haustür. Dann blieb er auf der Schwelle stehen und beobachtete, wie sie die Stufen hinunterging. Nachdem sie die Tüten im Wagen verstaut und sich hinters Steuer gesetzt hatte, kehrte er ins Haus zurück. Als er in der Küche vorm Kühlschrank stand, ging ihm auf, dass er zumindest hätte warten können, bis sie davongefahren war.
Er schloss den Kühlschrank und schraubte sich ein Heineken auf. Mitten auf dem im Schachbrettmuster gefliesten Küchenboden lag ein neues Spülbecken. Er konnte sich nicht genau erinnern, wie lange es da schon auf seine Montage wartete.
„Es gibt einen Unterschied zwischen einem Dreckloch und einer Herausforderung“, sagte er zu sich selbst.
Das Bier rann seine Kehle hinunter, die noch keine Zeit gehabt hatte, auszutrocknen. Auf seiner Magnolie stimmten die Drosseln gerade ihre ersten Lieder an. Unglücklicherweise hatte Odette zur gefürchteten Spezies der Frühaufsteher gehört, sodass der ganze Tag noch vor ihm lag.
Er verschloss die Flasche und stellte sie in die Kühlschranktür zurück. Um diese Zeit brauchte er etwas anderes als Alkohol. Ihm war nach einem Frühstück und nach Kaffee, aber keins von beidem ließ sich in dieser Küche auftreiben. Als nächster Punkt standen die Wirtschaftsseiten der „Washington Post“ auf seiner Wunschliste, doch wie üblich war sein Exemplar der Zeitung vom Bürgersteig geklaut worden, bevor er es hatte hereinholen können.
Er lebte in Georgetown, wo es Dutzende von Frühstücksgelegenheiten gab. Aber für ihn kam nur ein Ort in Frage. Er fuhr sich mit den Fingern durch die zerzausten dunklen Locken und begab sich auf die Suche nach seinen Sandalen.
Als Faith am Umzugstag erwachte, lastete die Angst wie eine geballte Faust auf ihrem Brustkorb. In den Tagen seit ihrem Entschluss, nach Georgetown zu ziehen, hatte sie kaum Zeit gefunden, diese Entscheidung in Frage zu stellen oder sich der Konsequenzen bewusst zu werden. Sie hatte Kisten gepackt, sortiert und markiert, bis sie so erschöpft war, dass sie auch auf eigentlich Unentbehrliches verzichten wollte, nur um es nicht einpacken zu müssen.
Am Dienstag würde ein örtliches Auktionshaus auf dem Grundstück in McLean eine Versteigerung durchführen, und was sie heute nicht in Sicherheit brachte, würde den Sammlern und Schnäppchenjägern in die Finger fallen. Obwohl überall Möbel und andere Dinge herumstanden, von denen sie sich trennen konnte, war fraglich, ob all das, was sie mitnehmen wollte, überhaupt in das Reihenhaus passen würde.
Sie duschte ein letztes Mal im großen Badezimmer, schmiss ihr Handtuch und ein paar übrig gebliebene Toilettenartikel in einen Karton und zog die Jeans und die Hemdbluse an, die sie am Abend beiseite gelegt hatte. Dann guckte sie nach, ob Remy schon wach war.
Ihre Tochter saß auf der Fensterbank und starrte hinaus. Um sie herum stapelten sich Kartons. Letzten Endes hatte Remy sich – von den Möbeln abgesehen – von fast nichts trennen wollen.
„Die Packer kommen in einer halben Stunde.“ Faith trat zu ihr ans Fenster. „Wenn du dich mit dem Duschen beeilst, hast du noch Zeit fürs Frühstück.“
„Ich habe keinen Hunger.“
Faith wusste, dass im Moment jeder Überredungsversuch zwecklos wäre. Dafür fehlten sowohl ihr als auch ihrer Tochter im Moment die nötigen emotionalen Reserven. „Ich schaue mal nach Alex. Ich glaube, ich habe ihn schon gehört.“
„Er ist schon angezogen. Er findet das alles aufregend, wie irgendein blödes Abenteuer.“
„Der Glückliche, was?“
Als Faith eintrat, räumte ihr Sohn gerade ein Bücherregal aus. Sie hatte ihn schon mehrfach gebeten, die Bücher endlich einzupacken. „Du hast nur noch eine halbe Stunde, bis sie kommen“, ermahnte sie.
„Bin fast so weit.“
Er blickte auf und grinste sie an, und sie musste zurücklächeln. „Ich sehe dich dann unten, sobald du fertig bist. Es gibt Saft und Müsli.“
In der Küche schenkte sie in alle Gläser Saft ein und holte die Milch aus dem Kühlschrank. Die übrigen Lebensmittel waren schon verpackt, die Fächer gereinigt. Der kleine Kühlschrank, den sie für das Reihenhaus bestellt hatte, war noch nicht geliefert worden. Mindestens ein paar Tage lang mussten sie ohne ihn zurechtkommen.
Bevor sie das Müsli verteilen konnte, läutete es an der Tür. Die Packer konnten es nicht sein, denn sonst hätten die Hunde der Nachbarn längst angeschlagen. Während sie zur Tür ging, nippte sie an ihrem Glas. Draußen stand David.
Sie war so überrascht, dass sie den Saft im Mund behielt. Sobald sie wieder schlucken konnte, fragte sie: „Was machst du denn hier?“
Er hielt eine Papiertüte hoch. „Ich bringe euch Frühstück.“ Er machte einen Schritt auf sie zu. „Faith, ich weiß, wie schwer das ist. Ich wollte dir helfen.“
„Jetzt hier aufzutauchen hältst du für hilfreich?“
„Lass mich mit den Kindern irgendwohin fahren, damit sie nicht im Weg stehen. Sie müssen ja nicht mit anschauen, wie ihr Leben in Stücke zerlegt wird.“
Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte. Bis jetzt hatte er nicht darauf bestanden, die Kinder endlich zu besuchen, und sie hatte vor, es Remy und Alex selbst zu überlassen, ob und wann sie ihren Vater treffen wollten. Bis jetzt hatte keines der Kinder diesen Wunsch geäußert.
„Sie werden sich nie an die neue Situation gewöhnen, wenn sie keine Zeit mit mir verbringen“, meinte David. „Geduld ist schön und gut, aber so funktioniert das nicht. Sie müssen erfahren, dass ich sie noch genauso liebe wie eh und je.“
Zögerlich trat sie beiseite, um ihn hereinzulassen.
„Ich habe Wurstbrötchen gekauft. Alex kann davon nie genug kriegen.“
„Er kommt gleich runter. Remy braucht länger. Für sie ist es schwerer.“
„Sie ist immer so ausgeglichen gewesen. Ich weiß, dass sie es jetzt schwer hat ...“
„Sie hat nie etwas Schlimmes durchmachen müssen. Deshalb. Wir haben unsere Kinder unter einer Käseglocke großgezogen. Alex ist flexibel, aber Remy findet sich in einer Welt, die nicht wie im Bilderbuch funktioniert, nicht zurecht.“
Er versuchte nicht, ihre Äußerung zu relativieren. Das überraschte Faith, denn wenn sie eine Sonnenbrille auf der Nase gehabt hatte, um die grelle Wirklichkeit nicht so wahrzunehmen, wie sie war, dann hatte er Scheuklappen getragen.
In der Küche stellte er die Tüte auf die Arbeitsplatte, packte das Essen aus und teilte es akkurat in mehrere Stapel auf. „Hast du irgendwelche Tipps?“
„Du fragst mich um Rat?“
„Ja.“ Sein Lächeln vermochte das Leid in seinem Blick nicht zu überspielen. „Ich habe Angst. Angst vor meinen eigenen Kindern.“ Er schüttelte den Kopf, und sein Lächeln erstarb.
Ausnahmsweise versuchte sie nicht diplomatisch zu sein. „Rat könnte ich selbst gebrauchen. Ich fühle mich wie auf einem Blindflug.“
„Du scheinst mit der Situation gut fertig zu werden.“
„Ich habe den Eindruck, dass du auch deinen Weg gefunden hast, damit umzugehen.“
„Ich wache jeden Morgen auf und wünsche mir, ein anderer zu sein. Dann erinnere ich mich daran, dass ich jahrelang ein anderer war und es eines Tages einfach nicht mehr ertragen konnte. Verstehst du?“
„Bitte versuch nicht, in mir irgendein Gefühl außer Wut wachzurufen, okay? Für Mitgefühl ist es zu früh. Ich kann es noch nicht aufbringen.“
„Gib dir Zeit.“
„Versprich dir nicht zu viel.“
Ihre Blicke trafen sich.
„Weißt du, was ich mir mehr als alles andere wünsche?“ fragte er.
„Nein. Und ich will es nicht wissen.“
„Eines Tages möchte ich mich wieder richtig mit dir unterhalten können.“
„Tja, was meinst du? Wie stehen die Chancen dafür, David?“ Die Stimme, mit der sie sprach, klang nach Lydia: sarkastisch und verbittert.
Er schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung.“
„Wir müssen uns um die Kinder kümmern. Mehr kann ich derzeit nicht bewältigen. Alles andere muss warten.“ Sie wandte sich ab, um sich zu sammeln. Auf der Treppe hörte sie Schritte, und als sie sich wieder umdrehte, stand Alex in der Tür.
„Dad.“ Er erstarrte, als wäre der Mann am Küchentisch im Begriff, sie auszurauben.
„Alex.“ David lächelte. „Ich habe euch Frühstück mitgebracht. Ich dachte mir, dass ihr Hunger haben könntet.“
„Was tust du hier?“
„Das habe ich doch gerade erklärt.“
„Seit Monaten lässt du dich nicht blicken, und dann kommst du ausgerechnet heute?“
„Timing scheint nicht gerade meine Stärke zu sein.“
„Verschwinde“, sagte Alex. „Hast du Mom nicht schon genug wehgetan?“
Das konnte Faith nicht so stehen lassen. „Alex, dein Dad ist nicht hier, weil er mich verletzen will. Er besucht uns, weil er Remy und dich sehen möchte. Ihr fehlt ihm.“
„Aber er hat dir wehgetan. Das weiß ich. Ich hör dich nachts weinen, wenn du annimmst, dass wir schlafen.“
„Es war nie meine Absicht, irgendjemanden zu verletzen“, verkündete David. „Das musst du begreifen. Es ist mir wichtig zu wissen, wie es deiner Mutter geht, und so wird es auch bleiben.“
„Ach ja? Sie ist dir also so wichtig wie ein gewisser Typ?“ „Alex ...“ Faith ging zu Alex hinüber. „Ich kann für mich selbst sprechen. Überlass das bitte mir, ja?“
Alex schaute seinen Vater direkt an. „Ich will dich nicht sehen.“
„Ich möchte mit Remy und dir den Tag verbringen.“
Alex machte kehrt und lief die Treppe hinauf.
„Na, das hat ja prima geklappt“, meinte David.
Faith kämpfte mit den Tränen. „Keins der Kinder geht mit dir irgendwohin, wenn Ham dabei ist.“
„Trau mir doch ein bisschen Sinn und Verstand zu.“
„So lautet meine Bedingung für alle künftigen Besuche.“
„Mit anderen Worten, sie sollen nicht erfahren, wer ich wirklich bin?“
„Ich will nicht, dass du es so direkt zur Schau stellst.“
Er richtete sich etwas auf. „Ich gehe hoch, um mit Remy zu sprechen. Wenn sie sich genauso ablehnend verhält wie Alex, verschwinde ich. Aber sobald ihr euch eingerichtet habt, werde ich regelmäßig kommen. Und wenn ich dafür einen Gerichtsbeschluss brauche.“
Er wartete nicht auf eine Antwort. Sie hörte seine Schritte auf der Treppe und sein wiederholtes Klopfen. Remys Tür war abgeschlossen. Sie antwortete ihm nicht und ließ ihn nicht hinein.
Als die erste Wagenladung zur Prospect Street aufbrach, fuhr Faith vorneweg. Die Kinder hatte sie in der Obhut einer schlecht gelaunten Lydia gelassen, die sich auch um Alex’ Kleiderschrank kümmerte. Nachdem David gegangen war und sie nach Alex sehen wollte, hatte Faith entdeckt, dass seine Sachen noch immer an der Stange hingen, während er selbst auf dem Schrankboden hockte und seine Tränen hinter langen Unterhosen und Hemdzipfeln verbarg.
Ein überraschend preisgünstiges örtliches Unternehmen besorgte den Umzug. Beim Beladen des LKWs hatten die beiden Männer keine Probleme gehabt, aber jetzt fragte sich Faith, wie sie das Rosenholz-Pianino vier schmale Stufen hinauftragen und durch die Haustür bekommen wollten.
Das Pianino hatte Faith’ Urgroßmutter Violet gehört und einstmals in diesem Reihenhaus gestanden. Lydia hatte es schon vor vielen Jahren Faith überlassen.
Faith wusste, dass es dumm war, das Klavier in die Prospect Street zurückzubringen. Sie ließ nützlichere Einrichtungsgegenstände zurück, um für ein Instrument Platz zu schaffen, das selten gespielt wurde. Doch obwohl sie ihre Urgroßmutter nicht gekannt hatte, fühlte sie sich ihr auf unerklärliche Weise verbunden. Das Pianino gehörte viel eher in dieses Haus als der TV-Schrank aus Walnussholz, auf den sie deswegen verzichtet hatte.
Sobald der LKW angekommen war, wachte sie darüber, dass die Betten, Kommoden und Teppiche in den richtigen Zimmern landeten und die Kisten in der Küche aufgestapelt wurden. Dann stand sie mit verschränkten Armen an der Seite und guckte den Männern zu, wie sie das Abladen des Pianinos vorbereiteten.
„Sind Sie sicher, dass Sie keinen dritten Mann benötigen?“
Der Fahrer grinste sie an. Sie schätzte ihn auf hundertzwanzig Kilo pure Muskelmasse. „Für das kleine Ding? Das trage ich doch auf einer Handfläche.“
„Bitte nicht.“
„Sobald es steht, spiele ich Ihnen was Nettes darauf vor.“
Faith hörte eine Tür zuschlagen und blickte über die Schulter. Dottie Lee stand auf ihrem Rasen; sie trug scharlachrote Gaze-Pumphosen und eine passende, silberbestickte Tunika. Der ganze Wirbel schien ihr Freude zu bereiten.
„Violets Pianino“, sagte Dottie Lee. „Auf genau diesem Instrument hat sie mir die erste Tonleiter beigebracht.“
Faith warf ihr einen raschen Gruß zu. „Hat sie gut gespielt?“
„Liebe Güte, Faith, sie war eine begnadete Musikerin. Ihr Mann hat ihr das Klavier zur Hochzeit geschenkt. Wie traurig, dass Sie so wenig wissen. Spielt Ihre Mutter noch? Sie hat Violets Talent geerbt.“
„Meine Mutter?“ Faith konnte sich nicht entsinnen, dass ihre Mutter das Instrument je angerührt hatte. Sie hätte nicht einmal sagen können, ob Lydia einen Ton vom anderen zu unterscheiden vermochte. Faith war als Kind zwar in allerlei schönen Künsten unterrichtet worden, aber zu Klavierstunden hatte Lydia sie nie angehalten.
„Ich schätze, Lydia hat ihre Musik zusammen mit ihrem Geist aufgegeben“, meinte Dottie Lee.
„Meine Tochter hat als kleines Kind darauf gespielt.“ Faith fragte sich, wohin Remys Musikbegeisterung sich verflüchtigt hatte.
Die Akademie war zu klein, um mehr als eine musikalische Grundausbildung anzubieten, aber Remy hatte sich nie darüber beschwert. Stattdessen hatte sie mit Turnen und Fußball angefangen, um mit ihren Freundinnen aus der Nachbarschaft zusammen zu sein.
„Jetzt spielt niemand mehr auf dem Klavier“, erklärte Faith. „Aber es wollte zurück nach Hause.“
„Natürlich wollte es das. Ich bin froh, dass Sie auf es gehört haben.“ Dottie Lee verschwand wieder im Haus.
Die Träger standen auf den ersten Stufen, und bislang waren sie nicht ins Schwitzen geraten. Faith wusste nicht, welcher der Männer mehr Mitgefühl verdiente: der untere, auf dem das meiste Gewicht lastete, oder der obere, der sich weit vornüber beugen musste, damit das Pianino nicht kippte.
Sie wünschte, das Instrument wäre größer, sodass die Packer einen zusätzlichen Mann benötigt hätten. Das Zusehen machte sie nervös, aber weggucken konnte sie auch nicht.
Mit einem Minimum an Stöhnen und Ächzen schafften die Männer es bis auf die oberste Stufe. Schon den ganzen Morgen waren Schaulustige auf dem Bürgersteig stehen geblieben, vor allem Studenten, die von der Georgetown-Universität zur Wisconsin Avenue wollten. Jetzt hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt, die das Klavier offenbar interessanter fand als die Schaufenster der Läden.
Faith hörte eine Männerstimme sagen: „Fünf Mäuse, dass der untere Typ es fallen lässt.“
Als sie sich umschaute, entdeckte sie zwei junge Männer in den T-Shirts des Georgetown-Basketballteams, die ihre Wette per Handschlag besiegelten. Ihr Magen verkrampfte sich.
Als sie wieder zu den Packern blickte, waren diese in ihrer Position erstarrt. Dann schob der Fahrer langsam die Hände tiefer, um das Klavier höher anheben zu können. Das Pianino begann sich zu neigen, und der Fahrer stieß einen Fluch aus. Faith keuchte vor Anspannung.
Aus der Menge löste sich ein Mann und eilte zu Hilfe. Er war groß und muskulös, und bevor einer der Träger etwas einwenden konnte, hatte er das Klavier schon mit dem Brustkorb und den Knien stabilisiert. Dann beugte er sich vorsichtig vor und schob seine Hände unter das Instrument, um den Fahrer zu entlasten. Der konnte nun das Pianino ein wenig anheben und die nächste Stufe erklimmen. Noch ein Schritt, und das Klavier war auf dem Treppenabsatz, von wo die Männer es durch die Tür manövrierten.
„Also, wenn der Typ nicht gekommen wäre, hätten sie es fallen lassen“, meinte der Wettverlierer zu seinem Freund.
„Du schuldest mir fünf Mäuse.“
Faith blieb nicht lange genug stehen, um zu beobachten, ob die Wettschuld beglichen wurde. Sie ging die Treppe hinauf und betrat das Wohnzimmer in dem Augenblick, als die drei Männer das Klavier an der vorgesehenen Wand absetzten. Sobald der Fremde sich aufgerichtet hatte, sprach sie ihn an.
„Ich kann Ihnen gar nicht genug danken.“ Sie streckte die Hand aus. „Ich bin Faith Bronson, und das ist das Klavier meiner Urgroßmutter.“
Der Mann wischte sich die Hände an den Beinen seiner abgeschnittenen, ausgefransten Jeans ab und ergriff ihre Hand. „Pavel Quinn. Ich wohne auf der O Street.“
Er war ein Riese, so breitschultrig und stämmig, dass er problemlos beim Umzugsunternehmen hätte anheuern können. Die wuscheligen Locken, die ihm über die Stirn und die Ohren fielen, waren schokoladenbraun, genau wie seine Augen. Er hatte sich eindeutig seit Tagen nicht rasiert – vielleicht seit einer Woche –, und sein T-Shirt war mit Farbklecksen übersät. Aber im Augenblick kam er Faith wie ein Held vor.
„Ich bin froh, dass Sie eingeschritten sind“, beteuerte sie.
„Wir hätten es nicht fallen lassen“, versicherte der Fahrer. „Hab nie in all den Jahren ein Klavier fallen lassen.“ Die Packer gingen hinaus, um den Rest der Ladung ins Haus zu schaffen und dann für die letzte Fuhre nach McLean aufzubrechen.
Pavel Quinn schaute sich im Haus um. „Ihren Vermieter sollte man an die Wand stellen.“
Sie war zu erleichtert, um beleidigt zu reagieren. „Das ist mein Haus. Meine Baustelle, sollte ich wohl besser sagen.“
„Ihr Haus?“ Er runzelte die Stirn. „Haben die Hustons es nach all den Jahren doch noch verkauft?“
Sie war nicht überrascht, dass Pavel Quinn die Geschichte kannte. Jeder schien darüber Bescheid zu wissen. „Mein Mädchenname ist Huston. Bronson heiße ich erst seit meiner Heirat.“ Sie hatte sich noch nicht entschieden, ob sie ihren Mädchennamen wieder annehmen sollte, tendierte aber dazu. „Und nicht mehr lange, wie es aussieht.“
Er betrachtete sie mit einem Lächeln. „Scheidung?“
„Tut mir Leid.“ Er blickte sie noch immer an. Man konnte fast zugucken, wie sich die Informationen in seinem Gehirn wie Puzzlestücke zusammenfügten. Sie ließ die Schultern hängen. Sie war erschöpft. Der Umzug forderte all ihre physischen Kräfte, und die Erleichterung über das gerettete Klavier war schon verflogen. „Mein Leben ist ein offenes Buch, was? Gibt es irgendwen in Washington, der meine Schuhgröße nicht kennt?“
Er fuhr zusammen. „Es tut mir Leid. Wirklich. Es ist nur so, dass mich Lokalgeschichte interessiert. Eine Art Hobby. Und dieses Haus ...“
Mehr musste er nicht sagen. „Ich weiß. Es ist eine Sehenswürdigkeit.“
„Meins auch. Im neunzehnten Jahrhundert ist dort ein Außenminister bei einer Dinnerparty gestorben. Wer in Georgetown wohnt, ist von Ruhm umgeben. Sie werden sich daran gewöhnen.“
Sie fand es nett von ihm, dass er versuchte, sie abzulenken, aber sie war zu müde, um so zu tun, als wäre es ihm gelungen. „Hat Ihre Gattin Sie wegen einer anderen Frau verlassen?“
„Ich bin unverheiratet.“
„Dann haben Sie keine Ahnung, wie mein Leben derzeit aussieht.“
„In wie viele Fettnäpfchen bin ich schon getrampelt, seit ich Ihr Haus betreten habe?“
Sie holte tief und langsam Luft. „Entschuldigung. Sie sind nur freundlich gewesen. Im Gegensatz zu mir. Ich ...“
„Übernehmen Sie immer die Verantwortung für anderer Leute Unhöflichkeit?“
„Immer.“
„Für meine bitte nicht. Abgemacht?“
Beschämt ging sie mit ihm zur Haustür. „Vielen Dank, dass Sie zur richtigen Zeit am rechten Ort waren.“
„Ich war bei ,Booeymonger‘ frühstücken.“
„Und Sie wollten sich den Spaß hier angucken. Wir sind heute die Attraktion im Viertel.“
„Sie werden feststellen, dass wir hier alle furchtbar neugierig sind. Wir sind eine Kleinstadt im Herzen einer Großstadt.“
„Sie sollten mal meine Nachbarin kennen lernen.“
„Dottie Lee?“ Er grinste. Sein Lächeln ging durch und durch, es lag nichts Aufgesetztes oder Förmliches darin. „Ich kenne Dottie Lee. Es hat Sie direkt neben unsere Lokalhistorikerin verschlagen.“
Die Packer kamen mit einem Sofa herein und setzten es gegenüber vom Klavier geräuschvoll ab. „Das wär’s“, meinte der Fahrer. „Wir fahren jetzt nach Virginia zurück.“ Sie eilten über die Stufen nach draußen.
Faith wollte das Haus abschließen und ihnen folgen. „Also, vielen Dank für Ihre Neugier“, sagte sie zu Pavel. „Sie haben ein Stück Geschichte gerettet.“
„Ich bin mir sicher, dass wir uns wieder über den Weg laufen werden. Wenn Sie in der O Street sind, schauen Sie doch mal vorbei. Mein Haus ist das viktorianische im Stick-Stil, an der Ecke zur 31. Straße. Aber hoffen Sie nicht, dass es von innen genauso gut aussieht wie von außen. Es ist ebenfalls eine Baustelle.“
Als sie sich die Hände schüttelten, verschwand ihre Hand völlig in seiner. An diesem Mann schien wirklich alles großzügig bemessen.
Als Pavel gegangen war, strich sie mit den Fingern über die Tasten des Pianinos. Es klang schrecklich verstimmt. Jahrelang war das kleine Klavier nur ein Möbelstück unter vielen gewesen. Jetzt dominierte es den Raum. Es konnte wirklich eine Generalüberholung vertragen.
Genauso wie Faith’ Leben.