33. KAPITEL
Als David und die Kinder schließlich wegfuhren, kannte Faith die ganze Geschichte. David hatte ihr den Rest erzählt, während sie wärmere Kleidung für Remys Ausflug nach Maryland zusammensuchte. Als sie jetzt am Fenster stand und sein Auto am Haus vorbeifahren sah, merkte sie, wie sie die Schultern hängen ließ und ihre Kehle sich zuschnürte.
„Du musst eine Million Dinge gleichzeitig fühlen.“
Sie hatte Pavel ganz vergessen. Seine Worte irritierten sie, denn er schien direkt in ihr Herz blicken zu können. „Ich mache mir Sorgen um Remy. Sie hat so viel durchgemacht, und jetzt das.“
„Du bist eine fantastische Mutter. Andere wären ihr furchtbar böse.“
„Natürlich bin ich auch wütend. Was haben sich diese Kerle nur gedacht? Wie konnten sie annehmen, Remy sei bald mit der High School fertig? Und der Typ, der sie fast ...“ Die Worte blieben ihr im Hals stecken. Sie brachte sie nicht heraus. „Er soll froh sein, dass er so glimpflich davonkommt.“
„Nicht so glimpflich, wie er vermutet. Ich habe Freunde bei der Polizei. Sie dürften sich sehr für seine Aktivitäten interessieren.“
„Nein, David hat Recht. Das können wir Remy nicht zumuten. Und dass sie sich als älter ausgegeben hat, macht es schwerer, ihn strafrechtlich zu verfolgen.“
„Ich meine seine Dealerei. Er wird nicht mehr lange im Geschäft sein, und wenn er klug ist, bleibt er auch nicht mehr lange in Georgetown.“
Faith verschränkte die Arme. Remy konnte froh sein: Es gab zwei Männer, die sich um sie sorgten und sie beschützen wollten. Sie hatte eine Mutter und einen Bruder, die alles für sie tun würden. Sie hatte sich danebenbenommen und Dummheiten gemacht, aber sie würde darüber hinwegkommen. Sie hatte alle Hilfe, die sie sich wünschen konnte.
Diese Erkenntnis vermochte sie aber nicht ganz zu beruhigen. Faith war noch immer wütend, und nicht nur auf Enzio. „Ich hätte es merken müssen! Ich habe ja registriert, wie feindselig sie war, aber ich dachte, ich müsste nur Geduld aufbringen und ihr ein Türchen offen halten, dann würde sie schon zu mir zurückkommen. Ich kenne sie besser als jeder andere. Aber ich wäre nie darauf gekommen, dass meine eigene Tochter mich so täuschen würde.“
„Sie ist ein Teenager, und wie du schon gesagt hast, hat sie eine Menge durchgemacht. Und Rebellion richtet sich immer gegen die Nächsten.“
„Sie hat mich belogen. Immer wieder, und es ist mir nicht aufgefallen. Mein Gott, ich muss die dümmste Frau der Welt sein.“
Er stellte sich hinter sie, legte ihr die Hände auf die Arme und strich langsam darüber. „Aber jetzt wird alles gut. Sie ist in Sicherheit, und soweit ich das beurteilen kann, hat sie ihre Lektion gelernt.“
„Und wann werde ich meine Lektion gelernt haben?“ Verärgert drehte sie sich zu ihm um. „Wann werde ich endlich kapieren, dass keiner der ist, für den ich ihn halte? Nicht einmal die Tochter, die ich großziehe. Ich habe sie gehütet wie meinen Augapfel. Ich habe sie meine Werte gelehrt, und ich dachte, das wäre genug. Ich hätte nie gedacht, dass ich mein Bild von ihr vollkommen revidieren müsste.“
Er sagte nichts. Offenbar spürte er, das sie noch nicht fertig war. Sie fuhr fort: „Seit dem Tag meiner Geburt hat mir nie jemand die Wahrheit gesagt. Meine Eltern nicht, mein Mann nicht, nicht einmal meine geliebte Tochter!“
„Ich auch nicht.“
„Stimmt. Du auch nicht.“ Ihr Ärger verwandelte sich allmählich in Wut. Zu entdecken, wie knapp Remy einer Katastrophe entgangen war, hatte ihr Angst eingejagt. Sie fürchtete sich vor all den Dingen, die hätten passieren können. Es ängstigte sie, dass ihr Urteilsvermögen so schlecht gewesen war, dass sie nicht genauer hingesehen und nicht eingegriffen hatte. Doch jetzt packte sie die Wut.
Pavel legte den Kopf schräg. „Tja, Faith, was bringt die Leute wohl dazu, dich zu belügen? Vielleicht bist du einfach leichtgläubig geboren. Ist es das, was du glaubst? Oder es ist eine Verschwörung. Wir alle treffen uns regelmäßig und schmieden Pläne, wie wir dich am besten täuschen können. Ein Geheimbund der Lügner, dessen einziges Ziel es ist, das Selbstvertrauen von Faith Bronson in Schutt und Asche zu legen.“
In seiner Stimme lag kein Sarkasmus. Er stellte ihr diese Frage, als kenne sie wirklich die Antwort.
„Wie kannst du es wagen!“ Sie kniff die Augen zusammen und ballte die Fäuste. „Du hältst das für witzig? Findest du das, was du mir angetan hast, witzig, Pavel? Dich so zu verstellen?“
„Ich bin kein großer Psychologe, aber eins habe ich in der Geschäftswelt gelernt. Das, was wir an anderen am wenigsten mögen, ist genau das, was wir an uns selbst nicht leiden können.“
Ihre Hände zitterten. „Ich – bin – ehrlich. Ich belüge niemanden bezüglich meiner Identität. Ich gebe nicht vor, eine andere zu sein.“
„Dann lass mal was von deiner berühmten Ehrlichkeit hören. Du bist wütend auf deine Tochter, weil sie dich belogen hat, obwohl du weißt, dass sie ein ganz normales Kind ist. Du bist sauer, obwohl es hier gar nicht um dich geht.“
„So kommt es mir aber vor!“
„Mag sein, aber es trifft dich so stark, weil es dich an deine eigene Unaufrichtigkeit erinnert.“
„Du meinst also, du wüsstest, was ich fühle? Gerade jetzt habe ich das Gefühl, dass ich dich nie wiedersehen will.“ Sie trat an ihn heran. „Du hast am allerwenigsten das Recht, mich zu belehren. Guck dir mal deine eigene Bilanz in Sachen Ehrlichkeit an.“
„Wie oft hast du dir diesen Satz in den letzten Monaten vorgebetet? Solange man sich auf die Lügen der anderen konzentriert, muss man sich mit den eigenen nicht befassen, nicht wahr?“
„Welche Lügen?“ schrie sie.
„Komm schon, was fühlst du, Faith? Außer Ärger? Außer dem Schmerz darüber, dass dich schon wieder jemand belogen hat?“ Er legte ihr die Hände auf die Schultern und zog sie ein wenig stärker an sich heran. „Was zum Teufel spürst du?“
„Sie sind ohne mich gefahren!“ Sie presste die Handflächen gegen seinen Brustkorb, aber er wich nicht zurück. Sie bemerkte nicht, dass sie diese Worte laut ausgesprochen hatte, bis Pavel seinen Griff verstärkte.
„Sie haben dich zurückgelassen?“
Ihr Magen war in Aufruhr, ihre Handflächen wurden feucht. Zum ersten Mal ahnte sie, wie David sich all die Monate gefühlt haben musste. Sein Leben war von dem seiner Familie abgetrennt worden. Wo eben noch vier gewesen waren, war nur noch einer. Allein. Ja, er hatte Ham, aber all die Menschen, die er zuvor geliebt hatte, waren verschwunden. Seine geliebten Kinder waren weg. Das Leben, das er gekannt hatte, war vorbei.
Und sie hatte es so gewollt. Seit jenem Tag im Cottage hatte sie sich selbst etwas vorgemacht. Sie hatte David genauso verletzen wollen wie er sie. Tief. Dauerhaft. Das ganze Jahr über hatte sie versucht, nicht mehr das gute Mädchen zu spielen, aber im Grunde war sie von Anfang an kein gutes Mädchen gewesen. Sie war genau wie alle anderen. Voller Schwächen, unehrlich, unbarmherzig.
Die nächsten Worte presste sie mühsam hervor. „Mir war nicht klar, wie sehr ich es genossen habe, ihn auszuschließen. Ich hielt das für eine gerechte Strafe. Er hatte mich für einen anderen Mann verlassen, aber ich hatte die Kinder. Wir drei gegen die Welt. Und gegen ihn. Und jetzt ist das vorbei.“
Er strich mit den Händen über ihre Schultern. „Und du weißt auch, wie natürlich das ist, oder?“
„Aber so bin ich nicht! Ich dachte, ich wäre nicht so. Ich dachte, ich stünde über so etwas. Als ich mich vom ersten Schock erholt hatte, wollte ich die Scheidung perfekt über die Bühne bringen. Den Kindern ein Zuhause schaffen, gelassen und vernünftig sein, mein Leben wieder in den Griff bekommen, allen anderen Halt geben.“
Sie weinte, aber das war ihr egal. „Und was ich ... wirklich wollte ... war, David wehtun ... und ihn aus der Familie ausschließen. Ich hatte vor zu beweisen ... dass ich diejenige bin, auf die Verlass ist.“
„Okay, aber ich habe dich beobachtet. Vielleicht waren das deine geheimsten Gefühle, aber gehandelt hast du anders. Du bist darüber hinausgewachsen, Faith. Vielleicht wolltest du David bestrafen, aber du hast es nicht getan. Okay, du hast ihm nicht gerade die Hand entgegengestreckt, aber du hast zugelassen, dass er schließlich zu eurer Familie zurückgefunden hat.“
Aber Faith ging es nicht um das, was sie getan hatte, sondern darum, wer sie war. Nicht das gute Mädchen. Nicht das große Vorbild. Ein Mensch mit einer dunklen Seite. Wie die anderen Menschen in ihrem Leben. Wie die Menschen, die sie liebte.
Pavel schüttelte den Kopf und zog sie dann an sich. „Faith, Faith ...“ Er schlang die Arme um sie. „Du bist nur eine nettere Ausgabe von allen anderen, wusstest du das nicht?“
Sie heulte zu sehr, um zu antworten. Er hielt sie fest und streichelte ihr den Rücken, während sie sich ausweinte. Die Tränen flossen und flossen, ein Strom von Tränen, der sich in ihr aufgestaut hatte. Dann brach es aus ihr hervor: „Ich wusste nur ... ich weiß nur, dass mich niemand liebt, wenn ich nicht vollkommen bin.“
„Also hast du dich davon überzeugt, dass du beides bist: liebenswürdig und vollkommen. Die magische Kombination.“
Sie schüttelte den Kopf und wischte sich die Wangen an seinem Hemd ab. „Nicht liebenswürdig. Nicht im Innersten ... nicht da, wo es zählt.“
„Und als wir alle dich belogen haben, hast du noch mehr an dir gezweifelt, hm? Denn wenn du ein bisschen perfekter gewesen wärst, hätten wir dich wohl nicht angelogen, was?“
„Es hätte Möglichkeiten gegeben, Remy mit David zu versöhnen. Ich ... hätte mich um eine Therapie kümmern können. Wir wollten nach den Feiertagen damit anfangen, aber ... ich hätte früher dafür sorgen können. Vielleicht ... hatte ich Angst, dass sie uns tatsächlich helfen würde.“
Er machte einen Schritt nach hinten und hielt sie an den Schultern. „Guck mich an.“
Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. „Ich sehe furchtbar aus.“
„Mir gefällst du so. Schau mich an.“
Sie tat es. Mit roten Augen und roter Nase, die Wangen fleckig und feucht. Unvollkommen.
„Du warst David böse“, sagte er. „Natürlich wolltest du ihn nicht in deiner Nähe haben. Aber du bist eine gute Mutter, und du hast getan, was du für das Richtige gehalten hast.“
„Ich habe mir etwas vorgemacht und mich selbst belogen.“
„Willkommen im Club.“
Zitternd holte sie tief Luft. Nach einem weiteren tiefen Atemzug versuchte sie zu lächeln. Der Versuch misslang, aber die Absicht zählte. „Wie haltet ihr anderen das aus?“
„Jahrelange Übung. Die meisten von uns haben schon vor langem herausgefunden, wie unvollkommen wir sind. Wir verzeihen uns das.“
Und das macht es uns leichter, einander zu verzeihen. Das war die unausgesprochene Botschaft, das, was er nicht explizit sagen wollte. Aber sie verstand es auch so und fühlte sich beschämt.
Das Gespräch drehte sich nicht mehr um Remy. Es ging nicht um David oder um die Lügen, die ihre Eltern ihr erzählt hatten. Sie sprachen über sich. Faith wusste das, und ihr war klar, dass dieses Thema ebenso wichtig war wie die anderen. Denn hier ging es um ihre Zukunft.
Pavel Quinn war ein guter Mann. Mit Webfehlern, ja. Genau wie sie. Geformt durch das Trauma seiner Kindheit. So wie sie. Auf der Hut vor Gefühlen. Zum Betrug fähig. Genau wie sie.
Und doch, unter alldem, ein guter Mann.
„Ich wünschte, du hättest mir gleich mitgeteilt, wer du bist“, meinte sie.
„Ja. Das wünschte ich mir auch.“
Sie konnten die Vergangenheit nicht ändern, wohl aber die Zukunft. Das erkannte sie jetzt. Sie konnte die Zukunft aller Menschen beeinflussen, die sie liebte, angefangen bei sich selbst.
„Ich bin nicht vollkommen“, erklärte sie. „Kannst du mir das verzeihen?“
„Faith, ich weiß das schon lange. Ich genieße das. Perfektion stößt mich ab.“
„Ich verstehe, warum du mir nichts von deinem Vater gesagt hast. Ich habe es schon an dem Abend begriffen, an dem wir uns gestritten haben. Ich konnte nur nicht ...“
Er seufzte. „Du konntest dir selbst nicht vergeben, dass du dich wieder hattest reinlegen lassen.“
Sie fühlte sich leer, bis er lächelte. Er hatte ein großartiges Lächeln, voller Wärme. Sein Lächeln wirkte ehrlich.
Er hob ihr Kinn an, sodass sie einander in die Augen blickten. „Das ist okay. Mir war klar, dass du dahinter kommen würdest. Ich habe einfach abgewartet.“
Sie schniefte und wusste nicht weiter. Sie fühlte sich reingewaschen und zugleich leer. Es gab im Moment nichts mehr zu sagen. Sie hatte keine Ahnung, wer sie war. Sie wusste nicht, was sie von ihm erwarten durfte.
Er verstand das. Das las sie in seinen Augen, kurz bevor er sie küsste. Er zog sie an sich, und seine warmen Lippen fanden ihren Mund. Sie drängte ihren Körper noch dichter an seinen, legte ihm die Arme um den Nacken und überließ sich dankbar diesem nicht enden wollenden Kuss.
Nach einer halben Ewigkeit löste er sich zögerlich von ihr. „Wir sind am falschen Ort dafür, Faith, und es gibt noch immer zu viele offene Fragen, die uns umtreiben. Ich will wieder mit dir zusammen sein, aber nicht jetzt. Erst, wenn alle Hindernisse aus dem Weg geräumt sind. Alle Geheimnisse. Alle Lügen. Diese Vergangenheit, die wir nicht begreifen.“
Erst, wenn sie sich selbst etwas besser verstand. Er sprach es nicht aus, aber sie erkannte, dass das ihr größtes Problem war. Er wollte jetzt nicht von ihrer momentanen Schwäche profitieren, nur um ihr Vertrauen später womöglich erneut zu verlieren.
„Ist dir klar, dass wir die Sache vielleicht nie aufklären werden?“
„Irgendwann müssen wir das Leben unserer Eltern hinter uns lassen, aber noch ist der Zeitpunkt nicht gekommen. Und du bist noch zu wackelig auf den Beinen, um eine weitere Komplikation durchzustehen.“
„Du bist eine Komplikation? Gibst du das zu?“
„Komm wieder auf die Füße. Ich werde da sein.“
Sie wusste, dass er Recht hatte. Sosehr sie ihn auch wollte – und ihr Begehren war selbst im schlimmsten Streit nicht erloschen –, er sah das ganz richtig, und dafür war sie ihm dankbar. Denn sein Kuss hatte ihr gezeigt, dass es ihm nicht leicht fiel, noch länger zu warten.
„Und jetzt sollte ich mich zurückziehen, solange ich den Weg noch finde“, meinte er. „Du musst jetzt allein sein, und für eine weitere Konfrontation hast du heute nicht mehr die nötigen Reserven. Dottie Lee können wir ein andermal befragen.“
Sie wollte nicht, dass Pavel jetzt das Haus verließ. Was sollte sie mit dem Rest des Wochenendes anfangen? Sich grämen, dass sie sich selbst so lange etwas vorgemacht hatte? Mit sich ins Gericht gehen, weil sie Remy nicht schon vor Monaten in eine Therapie gesteckt hatte? Sich fragen, was passiert wäre, wenn David es heute nicht auf sich genommen hätte, Remy zu suchen?
Sich überlegen, wer sie sein wollte, wenn sie sich endlich eingestand, wer sie war? Und ob sie bei diesem Showdown Pavel um sich haben wollte?
Sie griff nach seinen Händen. „Nein, bitte. Ich möchte nicht, dass du gehst.“
„Bist du sicher?“ Er wartete, bis sie nickte. „Dann bleibe ich.“
„Ich wasche mir schnell das Gesicht und verschnaufe ein bisschen, und dann besuchen wir Dottie Lee und reden mit ihr. Je eher wir das tun, desto eher können wir weitermachen.“
„Vielleicht erwarten uns schlechte Neuigkeiten. Es könnte sein, dass wir das, was sie uns zu sagen hat, lieber nicht hören würden.“
„Ich will es hinter mich bringen. Was wir auch erfahren, ich kann damit leben.“
„In Ordnung. Ich hoffe, sie ist zu Hause.“
Sie drückte seine Hände. „Darauf können wir Gift nehmen, Pavel. Ich erklär’s dir.“