6. KAPITEL

David zu hassen wäre das Einfachste gewesen, aber als Faith am nächsten Morgen das Putzzeug in den Accord lud, überwog die Dankbarkeit. Trotz der Benzin- und Versicherungskosten, die jetzt auf sie zukamen, würde der Wagen ihr und den Kindern das Leben erheblich leichter machen.

„Ich sehe nicht ein, warum ich mitmuss.“ Remy trug dezente Shorts und ein T-Shirt im selben Blaugrau wie ihre Augen. Seit sie erfahren hatte, dass sie den Tag in Georgetown verbringen sollte, wiederholte sie diesen einen Satz.

Faith war schon jetzt zermürbt, und der Tag hatte kaum begonnen. „Wann habe ich dir eigentlich beigebracht, dass Quengelei einem nützt, wenn man etwas erreichen möchte?“

„Ich will da nicht hin. Ich hasse es!“

Faith hob eine Kiste mit Putzlappen in den Kofferraum. „Sobald es sauber ist, wirst du es nicht mehr so hassen.“

Remy baute sich direkt vor ihrer Mutter auf, um ihre Entschlossenheit zu unterstreichen. „Ich werde es immer hassen. Ich werde dich hassen, weil du mich zwingst, da zu leben.“

Faith richtete sich auf. „Hör gut zu, Remy. Du hast ein Recht auf deine Gefühle. Du solltest sie nicht unterdrücken. Wirklich. Aber du wirst sie auch nicht an mir auslassen.“

„Dir ist doch egal, wie ich mich fühle.“

„Du musst dich mit den Tatsachen abfinden. Dieses Haus ist unsere beste Chance, und wir werden sie ergreifen. Jetzt geh rein und hol Alex. Wir müssen los.“

Remy brauchte gar nicht loszulaufen. Alex raste schon aus dem Haus. „Darf ich vorne sitzen?“

„Ich will gar nicht nach vorn, damit das klar ist.“ Remy rutschte auf den Rücksitz und schlug die Tür so heftig zu, dass das ganze Auto wackelte.

Alex machte sich die schlechte Laune seiner Schwester zu Nutze und plapperte den ganzen Weg bis in die Stadt. Faith bemerkte, wie selten Alex derjenige war, der mit sich und der Welt zufrieden wirkte. Der Ortswechsel schien ihm gut zu tun.

„Glaubst du, dass es Kinder in der Nachbarschaft gibt?“ Er verriegelte und entriegelte seine Tür bestimmt fünfzehn Mal in ebenso viel Minuten.

Faith durchquerte Key Bridge und fuhr über eine Seitenstraße den Hügel hinauf, die zu ihrem Haus führte. „Jede Menge College-Kids und vielleicht ein paar Politiker – die natürlich nichts für euch sind. Aber wir werden genügend Platz haben, um eure Freunde einzuladen.“

„Als ob uns noch irgendjemand besuchen würde“, murrte Remy.

Faith suchte eine Parklücke. „Auch wenn du nicht hier leben willst: Georgetown ist sehr beliebt. Die Läden und Restaurants sind großartig.“

„Du kannst ruhig aufhören, es schönzureden.“

Da die Stadtführungsmasche nicht zog, ging Faith zur Tagesordnung über: „Eine Aufgabe, die ihr heute erledigen müsst, ist die Zimmerwahl. Ich nehme das Schlafzimmer an der Vorderseite, damit ich alles im Auge behalten kann. Die anderen beiden sind gleich groß. Wenn ihr euch nicht einigen könnt, werfen wir eine Münze.“

„Ich will den Dachboden“, rief Alex ihr ins Gedächtnis.

„Wir gucken ihn uns mal an.“

Faith sah im Rückspiegel, wie Remy die Augen verdrehte. Einige Szenen aus „Der Exorzist“ waren in der Prospect Street gedreht worden. Faith fragte sich, ob es einen geeigneten Priester gäbe, der ihrer Tochter die bösen Geister austreiben könnte, die sich ihres schlanken Körpers bemächtigt zu haben schienen.

Sie mussten zwei Häuserblocks entfernt parken, und Faith nahm sich vor, einen Anwohnerparkausweis zu besorgen. Sie schloss den Kofferraum auf und begann die Kisten und die Reinigungsgeräte auszupacken. Sie drückte Alex und der widerwilligen Remy ein paar Sachen in die Hand.

„Das wird kein Zuckerschlecken“, räumte sie ein, als sie das Zeug zum Haus schleppten. „Heute werden wir nur das Allergröbste erledigen. Nächste Woche kommt ein Team, das die Fußböden neu versiegelt. Wenn sie damit fertig sind, haben wir gerade noch genug Zeit, noch einmal zu putzen und dann einzuziehen.“ Irgendwie hatte Lydia Geld für die Handwerker aufgetrieben; sie beharrte darauf, dass sie die Kosten für die Fußböden und die zerbrochenen Dachschindeln übernehmen wollte.

Remy blieb vor dem Haus stehen. „Ich hoffe, sie machen nicht nur die Böden.“

„Dafür fehlt die Zeit, aber du wirst dich wundern, wie viel besser das Ganze schon aussieht, wenn wir es ein bisschen ausbessern und streichen. Und wenn wir neue Küchengeräte haben.“

„Können wir unseren Kühlschrank mitbringen?“ Alex liebte den Side-by-Side-Kühlschrank, den sie für ihr Haus in McLean angeschafft hatten. Er hatte den Eisspender fast verschlissen bei dem Versuch herauszufinden, wie er funktionierte.

„Ich fürchte nicht. Er würde die ganze Küche blockieren.“

„Keine Sorge, Alex.“ Remy imitierte die Stimme ihrer Mutter. „Wir können jederzeit in einem der groß-ar-ti-gen Restaurants von Georgetown essen gehen, wenn unser neuer Kühlschrank zu klein für irgendwelche Vorräte ist.“

Faith lachte, was nicht in Remys Sinne war. „Hört mal, ich habe in meinem Leben so viele Mahlzeiten zubereitet, dass es wirklich traumhaft wäre, jeden Abend essen zu gehen.“

„Du kochst doch gerne“, meinte Alex. „Du machst das alles gerne.“

Faith fragte sich, ob es stimmte, was er sagte. Sie hatte nie viel übers Kochen nachgedacht. Sie hatte es einfach als ihre Bestimmung betrachtet, jeden Tag drei gesunde Mahlzeiten auf den Tisch zu bringen. „Also, ich mag auch Pizza, und wenn ich erst einmal einen Job gefunden habe, werden wir öfter so etwas essen. Es sei denn, ihr lernt kochen.“

Auf der Vortreppe hielt sie kurz inne, da sie aus dem Augenwinkel eine flüchtige Bewegung wahrgenommen hatte. Sie drehte sich um und starrte auf das Nachbarhaus, in dem die alte Frau mit dem Turban am Fenster gestanden hatte, als sie mit Lydia hier gewesen war.

Da stand sie wieder und war ähnlich gekleidet. Diesmal trug sie allerdings hauptsächlich ein kräftiges Fuchsienrot. Faith winkte. Ihre Mutter hatte sie zwar gewarnt, aber immerhin würde diese Frau ihre Nachbarin werden. Also stellte sie sich vor: „Hi, ich bin Faith Bronson. Und das sind meine Kinder, Remy und Alex. Nächste Woche ziehen wir ein.“

„Es ist nicht bewohnbar. Ihre Mutter hat es dem Mutwillen von Fremden anheim fallen lassen.“

Faith erkannte, dass die Frau bereits wusste, wer sie war. „Ich fürchte, meine Mutter hat mir Ihren Namen nicht verraten.“

Die Frau verschwand. Einen Augenblick später hörte Faith, wie das Fenster geschlossen wurde.

Remy trat beiseite, sodass ihre Mutter die Tür aufsperren konnte. „Na super. Auch noch verrückte Nachbarn.“ Faith konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Ich wette, dahinter verbirgt sich eine Geschichte.“

Remy flitzte hinein, sobald die Tür offen war. „Alex, du gehst als Nächster“, ordnete Faith an. „Nur für den Fall, dass es da drinnen Drachen gibt.“

Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, gesellte sie sich zu ihrem Nachwuchs. Zusammen standen sie mitten im Wohnzimmer und betrachteten ihr neues Zuhause. Einen Moment lang erlag Faith derselben Verzweiflung, die sie in den Augen ihrer Tochter las. Sie konnte sich das Haus nicht anders vorstellen, als es jetzt aussah: ein dreckiges, verwahrlostes Loch, in dem die Geister besserer Zeiten spukten – und schlechterer.

Faith spürte, dass sie etwas sagen sollte. „Manchmal ... manchmal muss man eine Sache erst von ihrer schlimmsten Seite kennen lernen, um später ihre besseren würdigen zu können.“

Mit einem nachhallenden Knall setzte Remy die Kiste mit den Lappen ab. „Hast du eigentlich für jede Gelegenheit einen dummen Spruch parat?“ Bevor Faith etwas erwidern konnte, brach Remy in Tränen aus und stürzte die Treppe hinauf.

Alex kam näher, sodass Faith ihm den Arm um die Schultern legen konnte. „Remy weiß nicht, wie man die Dinge betrachten muss, um zu erkennen, wie sie sein können“, meinte er. „Erfinder können das.“

„Hm-m.“ Faith kämpfte selbst mit den Tränen. „Kannst du bitte rasch etwas erfinden, um dieses Haus in Ordnung zu bringen?“

„Das ist bereits erfunden.“

„Feuer?“

Er stupste ihr den Ellbogen in die Seite. „Harte Arbeit. Das hast du uns erzählt, weißt du noch?“

Sie tröstete sich damit, dass sie – wenn schon sonst nichts im Leben – doch diesen jungen Mann zu Stande gebracht hatte. „Dann lass uns loslegen, in Ordnung? Wir können genauso gut in der Küche anfangen.“

„Da hat Remy die Ratte gesehen.“ Er klang nicht beunruhigt.

„Ich habe heute früh einen Kammerjäger bestellt. Er kommt irgendwann im Laufe dieses Jahrhunderts.“

„Wenn ich sie vor ihm fange, darf ich sie dann in meinem Zimmer in einem Käfig halten?“

„Auf keinen Fall.“

Remy war es egal, welches Zimmer Alex haben wollte. Sie nahm das an der Rückseite, weil es zwei Fenster hatte. Sie brauchte Fluchtwege.

Sie konnte nicht fassen, dass ihre Mutter wirklich beabsichtigte, sich hier niederzulassen. Monatelang hatte Remy jeden Morgen beim Aufwachen gehofft, dass die ganze Katastrophe nur ein Traum war. Sie hatte geglaubt, wenn sie aufstand und hinunterging, säße dort ihr Vater in einem frischen weißen Hemd über seiner Schüssel Müsli am Esszimmertisch. Sie würde ihn auf die Wange küssen, und er würde sie fragen, wie sie geschlafen habe.

Dann würde er sich wieder in seine Zeitung vertiefen, und sie würde in die Küche laufen, wo ihre Mutter Zimtschnecken backte oder Orangen auspresste, wie in einer dieser alten Sendungen auf dem Kinderkanal. Ihre Mutter würde sagen, wie gut ihr die Farbe stand, die sie gerade trug (gleich welche), und sie fragen, ob sie nach der Schule noch irgendwelche Termine hatte.

Remy stellte nichts davon in Frage. So sollte es sein. Das war die gottgegebene Ordnung der Dinge.

Aber sie hatte diese schlimmen Sachen nicht geträumt. Sie waren wirklich geschehen. Dieses Haus war real. Die Sünde ihres Vaters war real, und alles, was aus ihr folgte.

Das war alles nicht fair. Sie hatte ein gutes Leben geführt. Sie rauchte und fluchte nicht. Sie lernte so viel wie nötig und schrieb glatte Einsen, ohne sich groß anzustrengen. Als eine Freundin einmal eine Dose Bier geklaut hatte und sie mit ihr teilen wollte, hatte Remy es Faith erzählt. Sie war kein Schmutzfink wie Alex, und bis zu dieser fürchterlichen Sache mit ihrem Vater war sie nie unhöflich gewesen.

Was hatte das Gutsein für einen Zweck, wenn trotzdem solche Sachen passierten? Ihr fiel nichts ein, was sie falsch gemacht haben könnte, bis auf ein paar Lappalien, zum Beispiel dass sie Alex ausgesperrt hatte, als ihre Mutter beim Einkaufen gewesen war. Sie kam zu dem Schluss, dass es eigentlich überhaupt nichts brachte, gut zu sein. Denn andere Menschen konnten den Zorn Gottes heraufbeschwören, und man selbst wurde in Mitleidenschaft gezogen, weil man diesen Leuten nahe stand.

Und wieder, wie seit Monaten, sann sie darüber nach, ob sie dafür bestraft wurde, dass sie nicht die perfekte Tochter gewesen war. Wenn ihr Vater sie mehr geliebt hätte oder stolzer auf sie gewesen wäre, hätte er sich dann nicht von Satan fern gehalten?

Wenn ihre Mutter eine bessere, liebevollere Ehefrau gewesen wäre, wäre ihr Vater dann nicht daheim geblieben, wo er hingehörte?

Sie bedauerte, dass es nichts gab, worauf sie sich setzen konnte, denn sie hatte nicht vor, sich an der Putzaktion zu beteiligen, ganz gleich, was Faith sagte. Sie durchmaß das kleine Zimmer und fragte sich, wo sie ihre Sachen unterbringen sollte. Sie hatte blöde Möbel, die sie ausgesucht hatte, als sie selbst noch klein und blöd gewesen war. Jetzt versuchte sie sich auszumalen, wie sie in diesem absolut schrecklichen Zimmer aussehen würden. Sie brauchte kein Maßband, um herauszufinden, dass sich nicht alle ihre Sachen hier unterbringen ließen. Das Bett mit dem Baldachin mochte hineinpassen, denn die Decken waren hoch. Aber der Toilettentisch und die Truhe, die dazugehörten, würden den ganzen Platz an der Wand einnehmen. Für das Spielzeug und Puppen, die sie auf ihrem Spezialregal aufbewahrte, war sie jetzt zu alt, aber sie benötigte doch ein Bücherregal und einen Tisch, nur für den Fall, dass man an ihrer neuen Schule überhaupt lesen und schreiben musste.

Remy wischte sich mit dem Saum ihres T-Shirts die Augen trocken. Sie hatte erwartet, dass ihre Mutter zu ihr kam, aber Faith und Alex unterhielten sich unten. Weil die Räume alle leer standen, konnte der Schall fast bis zu ihr nach oben dringen. Sie hätte wetten mögen, dass Alex die Gelegenheit nutzte und sie anschwärzte.

Sie kickte einen Ball aus zusammengeknülltem Papier quer durch den Raum; er landete am Rand einer der Matratzen. Sie folgte ihm und trat gegen die Matratze, um zu prüfen, ob sich irgendetwas darin eingenistet hatte. Als nichts geschah, trat sie noch einmal zu. Sie ging zur Kopfseite und schob das Ding mit dem Fuß von der Wand weg. Nichts kam zum Vorschein.

Auch egal! Sie beschloss, sich bis zum Mittagessen nicht mehr unten blicken zu lassen.

Die Matratzen stanken, und sie wollte die Dinger loswerden. Sitzen konnte man jedenfalls nicht darauf. Also zerrte sie sie in den Flur, und als sie ins Zimmer zurückkehrte, ekelte sie sich vor den Spinnweben. Sie hatte keine Lust darauf, dass ihr eine Spinne – oder noch etwas Schlimmeres – auf den Kopf fiel, wenn sie herumlief.

Sie ging hinunter, um Lappen und einen Besen zu holen.

Nach einer Stunde Putzen hatte Faith ihre Pizza-Fantasie auf drei Mahlzeiten am Tag ausgedehnt. Selbst mit neuen Geräten konnte man in dieser Küche noch nicht kochen. In den Billigschränken fehlten Bretter. Das Spülbecken war angeschlagen, und der Abfluss leckte. Alex’ geliebte Ratte hatte sich in einer Ecke der Vorratskammer ein Nest gebaut und als Zugabe das Stromkabel angeknabbert, das zum Herd führte.

Als Alex sich zu ihr gesellte, richtete sie sich mühsam auf. Es war ihr nicht gelungen, die Flecken auf dem PVC-Bodenbelag wegzuwischen. „Wir müssen eine Liste machen.“

Alex hatte die Fenster an der Vorderseite des Hauses geputzt und sich bei Laune gehalten, indem er seine Putzmethode „wissenschaftlich“ optimiert hatte. „Was für eine Liste?“

„Mit allem, was hier getan werden muss.“

„Was ist denn nicht in Ordnung?“

Sie schüttelte den Kopf. „So ziemlich alles.“

„Mir gefällt’s hier trotzdem.“

Sie fragte sich, ob er das nur ihr zuliebe sagte und sie wirklich schon bereit für einen derart ergreifenden Rollentausch war.

„Der Boden ist immer noch ganz schön eklig.“ Er ging zu einer Ecke, an der nichts auf dem Fußbodenbelag stand, und schob das Kittmesser darunter, mit dem Faith einen alten Kaugummi abzulösen versucht hatte. „Darunter sind noch andere Schichten.“

„Ich weiß.“

„Was ist ganz unten?“

Sie war sich nicht sicher. Als er die PVC-Schichten zurückbog, ließ sie ihn gewähren. Alex lief zur Bestform auf, wenn es etwas zu entdecken gab. „Irgendwas Interessantes?“

„Einfach Holz. Wie im ganzen Haus.“

Genau darauf hatte sie gehofft. „Fantastisch. Wir sagen den Handwerkern, sie sollen das ganze Plastikzeug entfernen und die Dielen wieder aufmöbeln.“ Sie fühlte sich ein bisschen besser.

„Was ist sonst noch nicht in Ordnung?“

„Alles muss neu gemacht werden. Strom- und Wasserleitungen, Arbeitsflächen, Schränke.“

„Was ist denn mit diesen hier? Können wir sie nicht einfach anstreichen?“ Alex klopfte an den Schrank, der am nächsten an der Frühstücksnische stand – einem fensterlosen Winkel, gerade groß genug für einen Tisch.

„Du meinst, wenn wir sie mit weißem Lack aufmöbeln ...“

„Weiß? Rot!“

„Rote Schränke?“ Voller Sehnsucht dachte sie an ihre Shaker-Stil-Küche in McLean, die aus naturbelassenem Ahorn und vanillefarbenem Corian bestand.

„Niemand sonst hat so eine Küche, und sie gehört uns, stimmt’s? Also können wir es uns aussuchen.“

Jemand hämmerte gegen die Haustür. Faith fragte sich, wer das sein mochte und mit welchen neuen Unglücksbotschaften sie jetzt wieder rechnen musste. „Ich schaue mal nach.“

„In Ordnung. Ich suche so lange nach Lefty.“

Großartig. Ihr Sohn hatte sich einen Namen für das Ungeziefer ausgedacht.

Sie lugte zum Seitenfenster heraus und erblickte eine unbekannte Frau. Faith öffnete die Tür. Ohne Turban und in schwarzen Crêpe gekleidet, sah die Nachbarin zwar völlig anders aus, aber Faith erkannte sie am graziösen, langen Hals und ihren bemerkenswerten Wangenknochen.

„Oh, hallo. Wie schön ...“ Mehr fiel ihr nicht ein. Wie sich zeigte, war das auch gar nicht nötig.

„Ich bringe Ihnen eine Flasche Scotch. Glenfiddich, um genau zu sein. Ein guter Single Malt. Unter den gegebenen Umständen durfte es auch nichts anderes sein. Schlechter Scotch macht einen nur betrunken – was vielleicht gar nicht so dumm wäre, wenn man bedenkt, was Sie sich hier aufgeladen haben. Aber guter Scotch wird Sie glauben lassen, dass nichts unmöglich ist – was natürlich nicht stimmt, aber ich garantiere Ihnen, dass Ihnen das egal sein wird.“ Sie hielt Faith die Flasche hin.

Faith, die nicht trank, nahm sie entgegen. „Ja, also ...“

„Ich würde gerne reinkommen und mir angucken, was hier passiert.“

Faith trat zurück. „Schauen Sie sich ruhig um, aber das Haus ist eine echte Katastrophe.“

„Niemand weiß das besser als ich.“ Nach kurzem Zögern trat die Frau ein. Ihr feines weißes Haar war schulterlang und ihre Haut von Falten durchfurcht, aber perfekt gepflegt. „Ich kann Ihnen genau sagen, wie es zu dieser Katastrophe gekommen ist, aber das ist eine Geschichte für einen anderen Tag.“

„Entschuldigung, aber ich kenne Ihren Namen noch immer nicht.“

„Das ist unbegreiflich. Ich bin Dottie Lee Fairbanks. Ich lebe seit einundachtzig Jahren im Nachbarhaus, und man wird mich nur auf einer Bahre da rauskriegen. Wenn ich so kalt und hart bin wie mein Türgriff.“

„Angenehm, Mrs. Fairbanks.“

„Nie Mrs. Nur Dottie Lee, und bitte nie ohne das Lee.“

„Ich werd’s mir merken.“ Faith stellte den Glenfiddich auf der untersten Treppenstufe ab und folgte der Frau, deren Gang die einundachtzig Lebensjahre nicht verriet. „Und ich bin Faith.“

„Ja, ich weiß, wer Sie sind. Ich habe Ihren Ehemann in einigen Talk-Shows gesehen.“

Faith senkte die Stimme. „Exmann. Sehr bald.“

„Ja, nun, er wirkte recht nett, obwohl er bei jeder politischen Debatte auf der falschen Seite steht. David Bronson ist ein gutes Beispiel dafür, wie leicht ein kluger Mensch in die Irre geführt werden kann.“

„In die Irre geführt?“

„Er ist gegen alles, was er unterstützen sollte. Wenn man seine Politik auf den Kopf stellt, erhält man ein perfektes Parteiprogramm. Ihr Vater hingegen bräuchte mehr als nur eine 180-Grad-Wende. Bei Joe Huston hilft nur eine Lobotomie. Ich hoffe, Sie haben den klaren Kopf Ihrer Mutter geerbt, Mädchen. Selber denken! Selber denken!“

Faith war zu neugierig, um beleidigt zu sein. „Wie gut kennen Sie meine Eltern?“

„Besser als mir lieb ist – vor allem Ihren Vater. Ihre Mutter ...“ Sie blieb mitten im Esszimmer stehen und zog eine Grimasse. „Ihre Mutter ist nicht mehr die Frau, die sie einmal war.“

Dottie Lee ging weiter, auf Alex zu. „Und wen haben wir hier? Alex Bronson. Ähnelt Joe ein bisschen, sieht aber besser aus. Viel besser.“

Alex war fasziniert. „Sie sind die Dame von nebenan.“

Dottie Lee lachte. „Oh, bitte nicht, junger Mann. Niemals Dame. Damen sind langweilig!“

Alex schielte zu seiner Mutter hinüber, als wollte er sie fragen, was er darauf antworten sollte.

„Und was denkst du über euren Umzug in dieses Haus, Alex Bronson?“ wollte Dottie Lee wissen. „Was hältst du davon?“

„Tja, ich finde, es ist besser, als bei meinem Großvater zu wohnen.“

„Bei Joe? Natürlich ist es besser. Wie ich sehe, putzt du Fenster, Alex Bronson. Ich habe dir von draußen zugesehen. Wenn du hier fertig bist, möchtest du dir dann vielleicht meine Fenster vornehmen?“

Alex guckte seine Mutter fragend an. Faith zuckte mit den Schultern.

„Klar“, sagte er. „Aber es wird ‘ne Weile dauern. Hier gibt es viel zu tun. In ein paar Wochen vielleicht.“

„Und du hilfst deiner Mutter?“

„Hm-m.“

„Ja, Ma’am“, korrigierte Faith.

Dottie Lee schüttelte den Kopf. „Auch niemals Ma’am, bitte, selbst wenn wir in einer Stadt der Südstaaten leben, was die Leute manchmal vergessen. Du kannst mich Dottie Lee nennen“, erklärte sie Alex.

„Okay, Dottie Lee.“

Faith verkniff sich einen Kommentar.

„Und jetzt muss ich gehen. Das Obergeschoss schaue ich mir nächstes Mal an. Für einen Tag reicht es jetzt.“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging rasch zur Tür zurück. Faith folgte ihr.

„Bei mir gibt es jeden Mittwochnachmittag um vier Tee“, sagte Dottie Lee. „Das ist eine schöne Sitte, selbst wenn sie von den Engländern stammt. Um die Zeit werden Sie eine Pause gebrauchen können. Ich erwarte Sie und Ihre Kinder bei mir.“ Sie öffnete die Tür.

„Ich bin mir nicht sicher, ob ...“

Dottie Lee drehte sich um. „Faith, in der Prospect Street gelten ein paar eiserne Regeln. Dazu gehört, dass man meine Einladungen niemals ausschlägt.“ Dann lächelte sie.

Faith hatte das Gefühl, dass das Zimmer um fünfzig Kilowatt heller wurde. Das Lächeln war umwerfend. „Wir kommen. Zumindest Alex und ich. Ich weiß nicht, ob ich meine Tochter dazu bringen kann, ihr Zimmer zu verlassen.“

„Wie alt ist sie?“

„Vierzehn.“

„Und unglücklich.“ Dottie Lee nickte, wandte sich dann um und ging die Stufen hinab.

Faith blickte ihr nach und fragte sich, wie wohl die anderen Lebensregeln der Prospect Street lauteten.