2. KAPITEL
Eine Frau, die an Albträumen leidet, zieht es vor, nicht zu schlafen, aber jahrelange Schlaflosigkeit fordert ihren Tribut. Seit fast vierzig Jahren fürchtete sich Lydia Huston davor, die Augen zu schließen.
Die alles durchdringende Müdigkeit hatte vor den Wechseljahren eingesetzt, doch ihre Lebenslust war Lydia schon lange vorher abhanden gekommen. Sie aß nur, wenn sie musste, und selbst einfachste Aufgaben traute sie sich nicht mehr zu. In den letzten Monaten hatte sie mit ansehen müssen, wie ihr blonder Bubikopf dünner und ihre sorgsam gepflegte Haut faltig und runzlig geworden war.
In ihrem Albtraum blieb sie natürlich jung. Aber sie war nicht die goldmähnige Debütantin, die sich stolz an den Arm ihres Vaters, des Botschafters, lehnte, nicht die eifrige Braut, die sich an den Arm ihres Mannes, des Kongressabgeordneten, schmiegte, sondern eine junge Mutter, verängstigt und allein, der kein Arm der Welt je wieder den nötigen Halt geben konnte.
In diesem Traum lag das Haus um sie herum im Dunkeln. Trotz der kleinen Zimmer und des schmalen Korridors fand sie ihren Weg nicht. Sie tastete sich an Wänden entlang, stolperte über Teppiche, fiel auf die Knie und verlor dabei endgültig die Orientierung.
Musik ertönte, sie hallte von den Wänden wider und stieg zum Dachboden empor. Arpeggio-Akkorde bauten sich auf und brachen zusammen wie die Wellen einer sturmgepeitschten See. Alle paar Augenblicke blieb Lydia stehen, da sie nicht recht wusste, wo oben und wo unten war, und wagte dann wieder einen Schritt.
Sie stolperte über die unterste Treppenstufe und griff nach dem Geländer, um nicht zu stürzen. Sie setzte einen Fuß auf die Treppe, richtete sich auf und zog den anderen Fuß nach. Ihr wurde erneut schwindelig, und sie griff ins Leere.
Die Musik schwoll an, bis sie in den Ohren schmerzte. Lydia versuchte sie auszublenden und aus der Dunkelheit ein Wimmern, ein Murmeln herauszuhorchen, aber jetzt erklangen Tonleitern, die erst auf-, dann abstiegen, Oktave um Oktave.
Mit Mühe gelang ihr der dritte Schritt. Beim vierten verschwand plötzlich das Geländer, sodass sie beinahe hinfiel. Das Geländer hätte da sein müssen – es war immer dort gewesen. Nicht so an diesem Tag.
An diesem Tag. Nicht in dieser Nacht. Es war Tag, auch wenn kein Licht ins Haus drang. Sie näherte sich dem Ziel, aber nicht schnell genug. Der unsichtbare Musiker begann eine temperamentvolle Polonaise, Liszt oder Chopin. Sie hatte auf einen Walzer gehofft, eine Nocturne, irgendetwas, das die Geräusche von oben nicht übertönen würde. Sie lauschte zwischen den Phrasen, während ausgedehnter Fermaten, und betete, dass sie zwischen den musikalischen Themen jenen einen Laut vernehmen würde, nach dem sie sich am meisten sehnte.
Aber es gab wenig Pausen und keine Geräusche aus dem Obergeschoss.
Sie nahm eine weitere Stufe. Etwas – jemand – streifte sie und hätte sie um ein Haar wieder in die Leere zurückgerissen. Sie warf sich nach vorn und taumelte heftig, und gerade als sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte, endete die Musik.
Auf dem Boden, knapp unter ihr, lachte jemand. Ein schreckliches, dämonisches Gelächter, dann das Jammern eines Säuglings. Ein dünnes, durchdringendes Gewimmer, gefolgt von der tiefsten Stille, die man sich vorstellen kann.
Sie versuchte dem Weinen zu folgen. Sie versuchte, um Hilfe zu rufen. Und als sie es tat, erwachte sie – wie immer.
„Hey, die Ampel steht schon ewig auf Grün, Großmutter.“
Albträume können eine Frau auch im Wachzustand überfallen, und Lydia war wieder einmal nicht genügend auf der Hut gewesen. Sie trat aufs Gas und schoss auf die Kreuzung, als die Ampel gerade auf Gelb sprang. „Ich kann sehr wohl ohne deine Hilfe fahren, Alex.“
„Na ja, du hast nicht aufgepasst. Und Remy sagt nie was. Sie will, dass ich den Ärger kriege.“
Lydia war durch den Albtraum und das Ereignis, aus dem er sich speiste, ein anderer Mensch geworden. Toleranz und Geduld waren ihr zur gleichen Zeit wie ihre Energie abhanden gekommen, aber meistens gelang es ihr, das zu kaschieren. Sie konnte Gettoschulen besuchen, spontane Dinnerpartys für fünfzig Leute geben und glaubhaft versichern, ihr Ehemann sei ein Gottesgeschenk für den Senat der Vereinigten Staaten. Aber an den Menschen, die sie eigentlich lieben sollte, fand sie keinen Gefallen und keine Freude. Wenn sie sich um ihre Enkel kümmern musste, was die meisten Großmütter nur zu gerne tun, fühlte sie sich so wohl wie in einem Löwenkäfig.
Als sie den Mercedes in die schmale Gasse lenkte, in der Faith wartete, blaffte sie ihren Enkelsohn noch einmal an. „Ich dulde keine weiteren Unverschämtheiten, Alex. Ich habe genug gehört. Deine Schwester will nur ihre Ruhe haben.“ Genau wie ich, fügte sie im Stillen hinzu.
„Du bist immer auf ihrer Seite.“
„Auf ihrer Seite wird wenigstens nicht geboxt und geschubst.“
„Ich habe sie nicht angerührt.“ Pause. „In letzter Zeit nicht.“
Alex war zumindest aufrichtig, das musste sie ihm zugestehen. Sie schaute kurz über die Schulter und betrachtete das rote Wuschelhaar und das breite Gesicht ihres Enkelsohns, der momentan recht missmutig dreinblickte. „Willst du nach Hause laufen? Du bist auf dem besten Wege.“
Er erwiderte nichts. Für den Augenblick zumindest hatte sie gewonnen.
Lydia hielt neben ihrer Tochter an und entriegelte die Tür. Faith’ dunkelblondes Haar schimmerte in der Sommersonne und reichte ihr fast bis auf die Schultern. Sie war blass, hielt sich aber – wie man es ihr als Mädchen beigebracht hatte – gerade wie ein Fahnenmast, und als sie einstieg, brachte sie ihren Kindern zuliebe ein Lächeln zu Stande.
Sie war wohl erzogen, eben ganz Lydias Tochter.
„Hi, ihr beiden. Hattet ihr einen guten Tag?“ Faith drehte sich zu ihnen um.
„Als ob das möglich wäre“, antwortete Remy.
Lydias vierzehnjährige Enkeltochter sah Faith – und damit auch Lydia – ziemlich ähnlich. Remy war zierlich und blond, hatte eine makellose Haut und gerade Zähne, womit sie sich von einigen ihrer Freundinnen deutlich abhob. Lydia hoffte, dass Remy mit diesem gottgegebenen Vorsprung klug umging.
„Und du, Alex?“ fragte Faith.
„Ich darf nichts sagen!“
Faith warf ihrer Mutter einen raschen Blick zu. „Und der Grund dafür wäre ...?“
„Weil er nichts mitzuteilen hat, was wir hören wollen.“
„Wie lange ist er schon im Wagen eingepfercht?“
Lydia schaute ihre Tochter warnend an. „In einem Mercedes auf Einkaufsfahrt zu gehen kann man nun nicht gerade als ,eingesperrt sein‘ bezeichnen.“
„Alex, halt durch“, wies Faith ihren Sohn an. „Wir sind bald zu Hause.“
„Du verwöhnst ihn“, meinte Lydia.
„Wer würde das nicht? Er ist unwiderstehlich.“ Faith zwinkerte ihm zu.
Lydia nahm den Fuß von der Bremse, und das Auto rollte an. Sie fädelte sich in den Verkehr ein. „Übrigens fahren wir nicht nach Hause. Es sei denn, du hast einen zwingenden Grund.“
Faith lehnte sich im Ledersitz zurück. „Wohin geht’s?“
Lydia presste die Antwort heraus, wobei sie die „r“s besonders betonte. „Prospect Street.“
Faith war angemessen überrascht. „Jetzt? Wozu?“
„Das Haus steht leer.“
„Leer? Hast du es nicht an Studenten der Georgetown-Uni vermietet? Das Studienjahr fängt bald an.“
„Sie haben sich aus dem Staub gemacht. Offenbar letzte Woche. Die Verwalterin war dort, um sich um die Reparatur eines Dachfensters zu kümmern – was sie schon vor Monaten erledigen sollte –, und hat das Haus verlassen vorgefunden.“
Lydia wechselte die Spur und beschleunigte, um einen Unfall zu vermeiden. „Ich habe den ganzen Morgen am Telefon verbracht, um die Studenten ausfindig zu machen. Offenbar hat einer von ihnen einen Praktikumsplatz irgendwo außerhalb der Stadt erhalten. Ein anderer ist zu seiner Freundin gezogen. Der dritte im Bunde hat keine neuen Mitbewohner gefunden und pendelt jetzt von Maryland.“
„Und niemand hat es für nötig gehalten, dich zu verständigen?“
„Nach dem ersten Jahr hat die Maklerin den Mietvertrag nicht verlängert. Sie scheint nicht geglaubt zu haben, dass sie sich eine andere Bleibe suchen könnten, weil es ziemlich schwer ist, so nahe an der Universität eine Unterkunft zu finden. Also hat sie sich um den Vertrag keine Gedanken gemacht.“
„Wie steht’s mit der Kaution?“
„Die Studenten hatten ohnehin keine Chance, das Geld zurückzubekommen, also haben sie es gar nicht erst versucht.“
Faith warf Alex, der schon wieder an Remy herumzupfte, einen Blick zu. Lydia hoffte, ihre Tochter würde den Jungen endlich einmal zur Ordnung rufen. Er war rüpelhaft und unhöflich, so gar nicht das Kind, das man bei ruhigen, gesitteten Eltern wie Faith und David erwarten würde. Die Aussicht, dass er und seine Schwester bald bei ihr wohnen würden, vermochte ihr großmütterliches Herz nicht gerade zu weiten.
Faith wandte sich Lydia zu. „Ich nehme an, das Haus ist in einem üblen Zustand?“
„Das ist zwar eine recht drastische Formulierung, aber ich vermute, sie trifft die Sache ziemlich genau.“ Trotz allem, was im Haus an der Prospect Street geschehen war, betrübte dieser Gedanke Lydia. „Ich habe so viel wie möglich aus der Verwalterin herausgequetscht, bevor ich sie gefeuert habe. Aber ich dachte, am besten schaue ich es mir selbst an.“
„Ich verstehe nicht, warum wir mitkommen müssen.“ Remy beugte sich vor. Im Rückspiegel konnte Lydia gerade eben den Kopf ihrer Enkelin sehen. „Ich wollte mit Megan ins Kino.“
„Weil ich keine Zeit habe, euch erst nach Hause zu bringen“, erwiderte Lydia. „Um Himmels willen, Remy. Bei all dem, was ich für dich getan habe, wirst du doch sicher auch mir mal einen Gefallen tun können.“
Remys Kopf verschwand aus dem Spiegel.
Faith dämpfte ihre Stimme. „Mutter, das ist für uns alle eine schwere Zeit. Lass uns bei Remy und Alex im Zweifel für die Angeklagten entscheiden, okay?“
„Ich tue den ganzen Tag lang kaum etwas anderes, im Grunde schon fast den ganzen Sommer über.“ Lydia hörte ihren eigenen scharfen Tonfall und fragte sich einen Moment lang, wer da sprach. Wann hatte sie in ihrem Inneren Platz für diese Stimme geschaffen? Wann hatte sich die sanfte, leise junge Frau in die zänkische, gefühllose Matrone verwandelt?
Die Antwort war einfach. Die Transformation hatte in der Prospect Street begonnen.
„Wir sind alle dankbar für deine Hilfe“, sagte Faith, aber irgendwie klang es nicht aufrichtig. Sie wirkte verwundet und verwundbar, wie wohl jeder Mensch in einer solchen Situation. Das Leben, das sie sich aufgebaut hatte, war vorüber, und ihre Zukunft konnte ungewisser nicht sein.
Lydia suchte tief in ihrem Inneren nach einem Überrest jener sanfteren Person. „Nach Georgetown zu kommen ist mir nie leicht gefallen. Ich wollte ...“ Sie wusste nicht weiter.
„Es tut mir Leid. Wir sind froh, dass wir dich begleiten und unterstützen können.“ Faith berührte ihre Mutter am Arm. „Ich zumindest. Die Kinder sind dann eben unsere Gefangenen.“
Lydia erinnerte sich, wie Faith ihr als ganz kleines Mädchen die Finger auf den Arm gelegt hatte. Wie sie ihre Mutter aus riesengroßen Augen angesehen hatte, als hielte Lydia die Antworten auf alle Fragen des Lebens parat. Lydia erinnerte sich, wie sie die winzige Hand abgeschüttelt hatte, aus Furcht, aus der übermächtigen Furcht, dass die Antworten, die sie in ihrem kurzen Leben gefunden hatte, ihre Tochter zerstören könnten.
Sie fädelte sich in die Abbiegerspur ein, um über die Chain Bridge nach Washington D. C. zu fahren. „Es wird nicht lange dauern. Heute kann ich ohnehin nichts tun. Ich muss mir nur einen Überblick verschaffen. Warum ist das alles ausgerechnet jetzt passiert? In ein paar Wochen fängt das Studienjahr an, und bis dahin können größere Reparaturen nicht mehr erledigt werden. Wahrscheinlich finde ich erst zum zweiten Semester neue Mieter.“
„Ich wünschte, du würdest das Haus einfach verkaufen“, sagte Faith. „Ich habe nie begriffen, warum du es behältst.“
„Dieses Haus gehört unserer Familie seit seiner Erbauung, und eines Tages wirst du es besitzen. Hoffentlich wird Remy es irgendwann erben.“
Faith beugte sich zu ihrer Mutter hinüber. „Es ist den Schmerz nicht wert, den es verursacht.“
Lydia bremste ab und überquerte die Brücke im Schritttempo, in einer Autoschlange, die sich bis ins Herz der Hauptstadt fortzusetzen schien. Dann zwang der Stau sie zum Halten. „Du verstehst es wirklich nicht, was?“
„Sorry, nein.“
Lydia wandte sich ihrer Tochter zu. „Die Prospect Street war der Ort, an dem ich deine Schwester zuletzt gesehen habe. Wie könnte ich dieses Haus an Fremde verkaufen, Faith? Wie könnte ich das je tun?“