14. KAPITEL

In dieser Nacht konnte Pavel nicht einschlafen. Immer, wenn er die Augen schloss, tauchte Faith auf, die fassungslos ihren Ofen in Flammen aufgehen sah. Dieser jüngste Verlust würde sie nicht umbringen, aber er hatte in ihrem Gesicht – außer Entsetzen – einen vertrauten Ausdruck entdeckt, der ihm nun den Schlaf raubte: diesen „Schlagt-mich-wenn-ich-schon-am-Boden-liege-Blick“.

Irgendwann gab er auf und setzte sich an seinen Computer. Eine Stunde später hatte er ihr mehrere Küchengrundrisse entworfen, die von der originalen Raumaufteilung ausgingen, sodass der Denkmalschutzbeauftragte nicht dazwischenfunken konnte. Vielleicht ließ sich nicht alles sofort umsetzen, aber zumindest würde sie dem Elektriker sagen können, wo die Anschlüsse liegen sollten. Er druckte Listen mit zuverlässigen Bauunternehmern, informativen Websites und preiswerten Läden aus, die auch gute Beratung boten. Danach gelang es ihm endlich zu schlafen.

Früh am Morgen, auf dem Weg in die Firma, parkte er vor Faith’ Haus in der zweiten Reihe und klopfte an die Tür. Zu seiner Besprechung würde er sicherlich zu spät erscheinen, aber damit rechneten ohnehin alle. Pünktlichkeit zählte eindeutig nicht zu seinen Stärken.

Als Faith öffnete, ließ er sie gar nicht erst zu Wort kommen, sondern reichte ihr gleich die Mappe: „Ich habe für Sie ein paar Entwürfe erstellt.“ Er erläuterte ihr kurz die Grundrisse, die Schaltpläne und die Listen und hob dann zum Abschied die Hand.

„Äh, guten Morgen, Pavel.“ Faith wirkte, als hätte sie besser geschlafen als er.

Er bemerkte, wie ihr Blick rasch zu seinen Turnschuhen hinabwanderte und dann sein Auto erfasste, einen sechs Jahre alten Subaru voller Dellen, wie sie der Verkehr in der Hauptstadt nun einmal mit sich brachte. „Legerer Freitags-Look am Montag?“

„Legerer Freitags-Look ist bei uns immer angesagt.“

„Die Firma könnte mir gefallen. Nie wieder Strumpfhosen.“

Er nahm sich Zeit, obwohl er eigentlich keine hatte. „Suchen Sie einen Job? Was haben Sie für eine Ausbildung?“

„Ich habe europäische Geschichte studiert. Mit dem Schwerpunkt siebzehntes Jahrhundert, und Sie wissen ja, wie händeringend so jemand auf dem Arbeitsmarkt gesucht wird.“ Sie presste die Mappe an sich. „Das ist sehr nett von Ihnen. Sie haben sich viel Mühe gemacht. Danke!“

„Gern geschehen.“ Der schönen Geste wegen hätte er gern auf seine Armbanduhr geschaut, nur leider trug er keine. Er besaß durchaus einige, darunter eine Rolex, die der Vorstand ihm zu Weihnachten geschenkt hatte, aber seit er sie einmal beim Verputzen einer Wand abzunehmen vergessen hatte, war das Glas mit Mörtelspritzern übersät.

„Viel Erfolg mit dem Elektriker. Richten Sie ihm einen Gruß aus und teilen Sie ihm mit, dass ich ihn empfohlen habe. Oh, das wäre mir fast entfallen.“ Er lief zum Auto zurück und holte etwas aus dem Kofferraum: einen Drahtkäfig.

„Es ist eine Lebendfalle. Sie können die Ratte fangen, ohne sie zu verletzen. Und sollten Sie stattdessen die Katze erwischen, lassen Sie sie einfach wieder laufen.“

„Und was mache ich mit Lefty, wenn ich ihn erst mal habe?“

„Faith, wenn Sie den Ratten Namen geben, haben Sie ein ernstes Problem.“

„Sagt der Mann, der die Tauben tauft.“

Gut gekontert. „Lassen Sie es mich so ausdrücken: Damit haben Sie mehrere Möglichkeiten, die Ihren Kindern allerdings größtenteils nicht gefallen werden.“

Faith nahm die Falle mit spitzen Fingern entgegen, als hätte sie Angst, dass sie gleich zuschnappte. „Wie funktioniert sie?“

„Alex wird das im Handumdrehen herausfinden.“

„Sie müssen wohl los, was? Sie kommen bestimmt zu spät.“

„Das erwartet man von mir.“ Er hob nochmals die Hand. Als er davonfuhr, stand sie noch immer in der Tür, die Falle unterm Arm und die Mappe vor der Brust.

Faith hatte damit gerechnet, dass sie tagelang auf den Elektriker würde warten müssen, aber als sie Pavels Namen erwähnte, versprach er, gleich vorbeizuschauen. Kurz nach dem Mittagessen tauchte er auf. Er war ein gedrungener Typ mit Schnurrbart, dessen Atem bedrohlich rasselte und der Wörter ausstieß, die in einem Bronson-Haus noch nie gefallen waren. Mit Kennerblick begutachtete er Pavels Pläne, malte kurz mit seinem Stift darauf herum und gab sie Faith zurück. „Ich erstelle Ihnen einen Kostenvoranschlag.“

„Es eilt wohl ziemlich.“

„Ich bringe ihn heute Abend auf dem Rückweg vorbei. Am Mittwoch könnte ich jemanden vorbeischicken, der schon mal anfängt.“

„Anfängt?“

„Mit ein bisschen Flickwerk ist es nicht getan. Um das gründlich zu machen, braucht es Zeit, und Ihnen bleibt gar nichts anderes übrig. Nicht, wenn Sie je wieder in dieser Küche arbeiten wollen. Nicht, wenn der Rest des Hauses den gesetzlichen Vorschriften entsprechen soll.“

Faith war froh, dass die Studenten ausgezogen waren, bevor ein Unglück geschehen konnte.

Als der Elektriker gegangen war, guckte sie sich Pavels Pläne genauer an. Er hatte drei Entwürfe gemacht. Der Aufwändigste sah vor, die Küche in den Essbereich auszudehnen, die Wand an der Rückseite zu entfernen, hinter der sich ein ungenutzter Treppenschacht und die Waschküche befanden, und dort einen Frühstückserker anzulegen – mit einer Verandatür, die auf eine kleine Terrasse oberhalb des Gartens führte.

Seit sie nach Georgetown gezogen waren, hatte es Faith nur einmal geschafft, kurz in den hinteren Garten zu gehen. Er war schmal und erstaunlich tief, mit Steinmauern und verfallenen Lattenzäunen eingefasst und leicht terrassiert, da er zur M Street hin abfiel. Man konnte ihn nur vom Keller aus betreten.

Derzeit war der Garten ein Dschungel aus Unkraut, toten Ästen und Efeu, der alles, was ihm unterkam, in grüne Skulpturen umformte. Ganze Bäume hatte er überwuchert, und was er nicht erreichen konnte, hatten Giftsumach und Virginia-Wein erobert. Zum Glück gab es in dieser Gegend noch keinen Kudzu.

Die Natur hatte sich das Grundstück einverleibt. Vor jeder gärtnerischen Tat, noch vor jedem Pflanzplan, musste Faith einfach alles herausreißen und vernichten, was hier noch grünte.

Sie hatte noch nicht viel über die Außengestaltung nachdenken können, aber die Vorteile von Pavels Entwurf leuchteten ihr ein. Im Augenblick war der Blick auf den Fluss und die Stadt am jenseitigen Ufer versperrt.

Wenn sie die Küchenstruktur änderte und eine Terrasse anlegte, hätten sie und die Kinder freie Sicht. Und wenn der Garten auch von hier aus zugänglich wäre, könnte man ihn leichter in Schuss halten. Bisher hatte sich stets David um den Garten gekümmert, aber jetzt verspürte sie plötzlich Lust, sich an diesem kleineren Grundstück selbst zu versuchen.

Rosen und Hartriegel. Azaleen und Blumenzwiebeln.

„Ich habe Hunger.“ Alex kam hereinspaziert. Er hatte bereits einen Apfel und zwei Müsliriegel verdrückt – mehr hatte sie ohne Kühlschrank und Herd nicht anzubieten.

„Remy schläft noch. Weckst du sie? Sobald sie angezogen ist, können wir frühstücken gehen.“

Aber Remy war schon allein losgezogen.

Remy wusste, dass sie sich nicht ständig aus dem Haus würde schleichen können. Ihre Mutter mochte manchmal blind sein, wenn es um ihre Liebsten ging, aber dumm war sie nicht. Remy würde unter ständiger Beobachtung stehen, bis sie Faith überzeugt hatte, dass sie ihre heimlichen Fluchten wirklich bereute.

Deshalb nahm Remy sich vor, auf dem Rückweg von Colins Haus bei „Booeymonger“ Muffins zu holen. Sie würde ihrer Mutter einfach sagen, dass sie sich damit für ihre gestrige Missetat entschuldigen wolle. Sie hinterließ sogar einen Zettel auf ihrem Bett, falls jemand ihr Verschwinden vorzeitig bemerken sollte. Falls die beiden sie bei „Booeymonger“ suchen würden, könnte sie ihnen erzählen, dass sie sich spontan noch nach ein paar anderen Bäckern umgeschaut hatte.

Als sie Colins Haus erreichte, stand die Tür weit offen. Sie betrat das Haus und rief mehrmals „Hallo“. Zuerst reagierte niemand, doch dann kam Enzio mit entblößtem Oberkörper und verschlafenen Augen aus der Küche. Der Anblick seiner bronzefarbenen Haut und der tief auf den Hüften hängenden, abgewetzten Jeans ließ Remys vierzehnjähriges Herz höher schlagen. Er sah cool aus, wie MTV in echt.

„Was machst ‘n du hier?“ Er gähnte. „Wie spät ist es?“

„Fast zehn. Sonst noch keiner wach?“

„Selim ist irgendwohin unterwegs. Colin hat woanders gepennt. Paul ...“ Er zuckte mit den Schultern.

Hieß das, dass sie zu zweit waren? Mit Enzio allein zu sein fühlte sich sehr erwachsen an. „Ich wollte nur kurz hi sagen.“

Er reagierte nicht. Er schien gelangweilt zu sein.

„Hi“, wiederholte sie.

„Selber hi.“ Er zog eine Zigarettenpackung aus der Hosentasche. „Bist du immer so fröhlich?“

Sie konnte sich nicht erinnern, wie sich Fröhlichkeit überhaupt anfühlte. „Schätze, ich sollte gehen.“

„Warum so eilig?“

„Viel zu tun. Das Übliche.“

„Erst noch ‘n Kaffee?“

Faith hatte ihr noch nie Kaffee angeboten. „Habt ihr welchen fertig?“

„Yeah. In einer Minute.“ Er ließ sich aufs Sofa fallen. Sie überlegte, ob er erwartete, dass sie sich neben ihn setzte. Sie wog das Risiko unangenehmer Überraschungen gegen den Genuss ab, in seiner Nähe zu sein.

„Hast du einen Job?“ fragte er.

Sie hockte sich auf die Sofakante und stützte die Ellbogen auf die Knie, denn sie konnte wirklich nur ein paar Minuten bleiben. „Nein. Gefällt dir deiner?“

„Er ist in Ordnung.“

Sie wusste nicht, worüber sie sich mit ihm unterhalten sollte. Mit den Jungs in ihrem Alter fand sie immer ein Thema. Die waren ja schon begeistert, wenn sie sich dazu herabließ, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken. An Enzio kam man nicht so leicht heran.

„Ich verkaufe ‘ne Menge“, sagte er. „Ich kann gut verkaufen, weil es mir eigentlich egal ist, ob die Leute den Scheiß nehmen, verstehst du?“

Sie verstand es nicht, nickte aber trotzdem.

„Die kommen zu mir, weil sie spüren, dass es mir schnurz ist“, fuhr er fort.

Sie fing an, sich Sorgen zu machen. Es war so spät, dass zu Hause bestimmt schon jemand an ihre Tür geklopft hatte. „Kriegst du mehr Lohn, wenn du mehr verkaufst?“

„Yeah. Verrückt, was? Ich verkaufe mehr, weil es mir egal ist, und sie blechen mehr, weil es ihnen nicht egal ist.“

Das klang ziemlich scharfsinnig. „Soll ich mal nach dem Kaffee sehen?“

„Yeah. Ich nehm Zucker. Viel.“

Das Chaos in der Küche war schlimmer als zu Hause, obwohl Colin und seine Freunde nicht gerade erst eingezogen waren. Unter dem Hahn spülte sie zwei schmutzige Tassen aus und suchte im Hängeschrank nach Zucker.

Aus der Tüte ergoss sich ein Strom roter Ameisen. Sie schaufelte löffelweise ameisenfreien Zucker in die Tassen und füllte sie mit Kaffee auf. Die Milch im Kühlschrank roch unverdächtig, also nahm sie sich einen Schuss. Wieder im Wohnzimmer, reichte sie Enzio seine Tasse. Mit einem Nicken forderte er sie auf, sich wieder aufs Sofa zu setzen.

„Warum hast du keinen Job? Wollen deine Mom und dein Daddy das nicht?“

Sie hörte den Spott heraus, aber sie konnte ihm ja schlecht erklären, dass Vierzehnjährige froh sein mussten, wenn sie zum Babysitten oder Hundeausführen engagiert wurden. „Ach, die finden, dass ich meine Zeit zum Lernen verwenden sollte.“ Sie nahm einen Schluck Kaffee und hätte ihn beinahe wieder ausgewürgt. Es war, als würde man geschmolzene Eiscreme trinken.

„Bist du so schlecht in der Schule?“

„Sie wollen mich auf ein wirklich gutes College schicken.“

„College?“ Er schnaubte verächtlich. „Versprich dir nicht zu viel davon. Die Profs ziehen alle ihr eigenes Ding durch. Man kann froh sein, wenn man sie in den Vorlesungen zu Gesicht bekommt. Niemand benutzt seinen Verstand.“ Er tippte sich an die Schläfe. „Außer mir.“

Sie war beeindruckt. Enzio unterschied sich so stark von den Jungs, die sie kannte, dass er ihr zu einer anderen Spezies zu gehören schien. „Du machst nicht weiter?“ Sie suchte nach einem Platz für ihre Tasse. Ihr Magen hätte keinen zweiten Schluck vertragen.

„Ich mache meinen eigenen Laden auf. Ich weiß, was sich wirklich verkauft. Ich muss nur noch das nötige Geld zusammenkriegen.“

„Wie?“ Sie hatte keine Ahnung von Klamotten-Läden, aber es war völlig klar, dass man eine Menge Geld brauchte, um selbst einen zu eröffnen.

„Ich habe meine Methoden. Klamotten sind nicht das Einzige, was ich verkaufe.“ Zur Bekräftigung zog er eine seiner ausgeprägten schwarzen Brauen hoch.

Eine ganze Weile begriff sie nicht, wovon er sprach. Dann fiel der Groschen: Drogen. Enzio dealte.

Sie wollte aufstehen, aber er hielt sie am Handgelenk zurück. „Keine Angst. Ich verkaufe nichts, wofür sie einen richtig drankriegen können. Wie alt warst du noch gleich?“

„Alt genug, um mich zu fragen, wieso du das Risiko eingehst, hochgenommen zu werden.“

„Weil da richtig Kohle drinsteckt.“ Er schüttelte den Kopf, als könne er nicht glauben, dass sie so dumm war.

„Ja und? Warum arbeitest du nicht gleich als Killer?“

„Auf welchem Planeten lebst du? Was ich mache, schadet keinem. Die Leute rauchen ein bisschen Gras und fühlen sich ein wenig besser. Ich tu was für ihr Wohlergehen, wie ein Arzt. Es ist besser als Prozac. Und nicht so teuer.“

Man hatte ihr eingetrichtert, dass alle Arten von Drogen Teufelszeug waren. Sowohl in der Schule als auch zu Hause hatte man ihr beigebracht, einfach zu allem Nein zu sagen, was den Werten ihres Elternhauses entgegenstand. Aber in letzter Zeit waren so viele ihrer Überzeugungen den Bach runtergegangen, dass sie allmählich den Überblick verlor. Ihr „Was würde Jesus tun“-Armreif lag jetzt ganz unten in der T-Shirt-Schublade, weil ihr auf diese Frage derzeit einfach keine Antworten einfielen.

Enzio schaute sie ungläubig an. „Erzähl mir nicht, dass du noch nie was geraucht hast.“

Sie stand auf, und diesmal hielt er sie nicht fest. „Wissen die anderen, was du tust? Colin? Selim?“

„Als ob die das kümmert. Die würden doch ihre eigenen Omas verkaufen, wenn sie Geld bräuchten. Nur gut, dass sie es nicht nötig haben. Colins Dad gehört das größte Autohaus von New Jersey. Selims Vater besitzt drei Elektrogeschäfte. Selim und seine Schwester arbeiten nur, weil ihr Alter glaubt, sie bräuchten diese Erfahrung.“

„Ich geh besser.“

Er lachte. „Hey, hab ich was Falsches gesagt?“

„Nein, aber ich muss nach Hause.“

„Klar, du Baby. Lauf doch zu deiner Mama.“

Sie war beleidigt, aber clever genug, ihm das nicht zu zeigen. „Ja, mach ich. Wenigstens kann ich da nicht hopsgenommen werden.“

„Mich nimmt keiner hops. Ich weiß, was ich tue. Glaubst du, die Hauptstadt-Cops kümmern sich um kleine Fische wie mich? Sie sind hinter den Typen her, die die Koksnasen und Junkies versorgen.“

Das leuchtete ihr irgendwie ein. Die Leere, die ihr Vater in ihr zurückgelassen hatte, füllte sich mit aufregenden Dingen. Vielleicht war überhaupt alles, was man ihr beigebracht hatte, großer Quatsch. Vielleicht sollte sie auf andere Leute hören und selbst zu denken anfangen. Im Augenblick hatte sie allerdings genug damit zu tun, nach Hause zu kommen, ohne sich Ärger einzuhandeln.

Sie winkte ihm neckisch zu. „Also, ich bin weg. Lass dich heute nicht einbuchten.“

Ein Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit und verschlug ihr schier den Atem. Sie war sich nicht sicher gewesen, ob Enzio überhaupt je lächelte, und dass es so umwerfend sein würde, hätte sie nie für möglich gehalten. Sie spürte, wie ihr warm wurde.

„Geht in Ordnung, kleines Mädchen.“

Sie trat aus dem Haus und sah sich in beiden Richtungen nach ihrer Mutter um. Dann lief sie zu „Booeymonger“ hinüber und hoffte inständig, dass zu Hause niemand im falschen Augenblick zum Fenster hinausguckte.

Gott wollte sie wohl doch nicht strafen. Ihre Familie wartete nicht im Laden auf sie. Sie kaufte Muffins für alle und einen Milchkaffee für ihre Mutter und machte sich auf den Heimweg.

Am frühen Nachmittag war fast alles, was sie täglich brauchten, aus den Kisten zum Vorschein gekommen, und die restlichen Kartons waren umgepackt, beschriftet und verstaut. Die Möbel standen an ihrem Platz, und die meisten Teppiche waren ausgerollt. Das Haus wirkte wohnlicher, als Faith es sich vorgestellt hatte.

Oben war Alex gerade dabei, „eine bessere Mausefalle zu bauen“. Bevor sie es verhindern konnte, hatte er den Käfig, den Pavel ihnen geliehen hatte, auseinander genommen, und jetzt wollte er einen empfindlicheren Auslöser einbauen. Eines Tages würden die Leute Alex die Tür einrennen.

Remy telefonierte mit Megan, und zwar seit fast einer Stunde. Faith hütete sich, über Kleinigkeiten wie hohe Telefonrechnungen zu streiten. Außerdem gab Remys großzügige Geste von heute Morgen Anlass zur Hoffnung. Ein Muffin reichte schon fast, um sie zu überzeugen, dass Remy wieder ganz das süße, unkomplizierte Töchterchen war. Die Kunst der Verdrängung beherrschte Faith wirklich fast perfekt.

Sie stand gerade am Fenster zur Straße und überlegte, ob sie eine Pause einlegen sollte, bevor sie die Küche in Angriff nahm, als sie eine vertraute Gestalt heranhuschen sah. Dottie Lee wollte sie besuchen.

Faith öffnete die Tür und begrüßte sie herzlich. Dottie Lee blieb auf der Schwelle stehen und kam unmittelbar zur Sache.

„Offensichtlich haben Sie Pavel Quinn kennen gelernt.“

„Dottie Lee, möchten Sie nicht hereinkommen?“

Dottie Lee schüttelte den Kopf. Sie wirkte leicht beunruhigt. „Ich kann nur einen Moment bleiben.“

Faith dachte, wenn das Thema schon angeschnitten worden war, könnte sie ihre Nachbarin auch gleich ein bisschen über ihn ausquetschen. „Wir sind uns am Umzugstag begegnet. Was wissen Sie über Pavel? Er scheint nett zu sein, aber wenn es Grund zur Vorsicht gibt, warnen Sie mich bitte rechtzeitig.“

„Warnen?“ Dottie Lee zog ihren mit Elefantensafari-Szenen bestickten violetten Chiffonschal enger um ihre schmalen Schultern. „Wovor?“

Darauf fiel Faith selbst keine Antwort ein. Wovor konnte man jemanden warnen? Hätte ihr jemand verraten, dass ihr Mann schwul war, hätte sie ihm das abgekauft?

Dann ging Dottie Lee doch auf Faith’ Frage ein. „Mit Pavel kann man bedenkenlos seine Zeit verbringen. Um Ihre Sicherheit müssen Sie sich keine Sorgen machen. Ich kenne ihn seit Jahren. Niemand verliert ein schlechtes Wort über ihn.“ Sie zögerte. „Allerdings kennt ihn auch niemand besonders gut.“

Für Faith klang das nicht besonders beruhigend. „So könnte man auch eine Menge Serienmörder beschreiben.“

„Mord gehört nicht zu Pavels Repertoire. Und Sie wissen ja selbst, dass derart wichtige Leute in unserer Gesellschaft praktisch rund um die Uhr unter Beobachtung stehen.“

„Wieso wichtig?“

Dottie Lee zog die nachgezogenen Brauen hoch. „Offensichtlich haben Sie keine Ahnung, wer er ist!“

„Er hat gesagt, dass er etwas mit Computern macht. Mit dem Internet, glaube ich.“ Faith erinnerte sich, dass er am Anfang ihres abendlichen Gespräches auch erwähnt hatte, dass er sein eigener Chef war. „Gehört ihm irgendeine Firma?“

„Nicht irgendeine Firma, meine Liebe. Er ist der Präsident und Gründer von ,Scavenger‘.“

Sogar Faith, die sich mit Computern kaum auskannte, hatte von „Scavenger“ gehört, einer weltweiten, ungemein beliebten Suchmaschine. Die Firma hatte ihren Sitz in Nord-Virginia, praktisch direkt neben dem „AOL“-Gelände.

Der Mann, der ihr die günstigsten Bauunternehmer aufgelistet und bis spät in der Nacht Pläne für ihre Küche entworfen hatte, der Mann, der unter ihr Waschbecken gekrochen war, schien ein Multimillionär zu sein.

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. „Er hat mir erzählt, dass er ein Haus in Eigenarbeit renoviert.“

Dottie Lee warf kurz einen Blick über die Schulter und schaute zu ihrem eigenen Haus hinüber, als müsse sie dringend dorthin zurück. „Er ist ein ausgewiesener Exzentriker, unser Pavel. Durch und durch ein Populist. Kein Mensch auf Erden gibt sich ungezwungener.“

„Aber er fährt einen Subaru. Einen alten.“

„Pavel hat für Statussymbole ebenso wenig übrig wie für Leute, denen sie wichtig sind.“

„Was tut er dann in dieser Stadt?“

„Ich glaube, ich weiß, warum er nie geheiratet hat“, meinte Dottie Lee, als hätte sie die Frage gar nicht gehört.

Faith wollte nicht zugeben, dass sie das brennend interessierte.

„Sie sind neugierig, das sehe ich doch“, meinte Dottie Lee.

„Na gut. Warum nicht?“

„Im Grunde ist er der verschlossenste Mensch, den man weit und breit finden kann.“

„Pavel?“

„Ja, erstaunlich, nicht? Seine lockere Art ist nur Fassade. Dahinter schlägt ein Herz, das sich niemandem offenbart. Er würde das natürlich abstreiten, aber es stimmt.“

„Kennen Sie den Grund?“

„Nur Spekulationen. Massenhaft Spekulationen, die zu verbreiten Zeitverschwendung wäre.“

Bevor Faith weitere Fragen stellen konnte, winkte Dottie Lee und eilte nach Hause. Faith wusste nicht, was kurioser war: der Inhalt oder die Form von Dottie Lees Mitteilung.

Pavel Quinn, nicht nur ein erfolgreicher Geschäftsmann, sondern eine Ikone der Computerwelt. Dottie Lee Fairbanks, die geheimnisvolle Gefährtin der Reichen und Mächtigen. Faith fand, dass die Leute in Georgetown nach der McLeanschen Fußballmütter-Monokultur etwas gewöhnungsbedürftig waren.

Um sechs standen nur noch ein paar kleine Kartons in der Küche, die das Geschirr und Besteck enthielten, das sie in den nächsten Wochen brauchen würden. Faith hatte sich an Pavels Ratschlag gehalten und die wenigen Dinge, die schon verstaut gewesen waren, wieder aus den Schränken geholt und fast alles in einer Ecke des Esszimmers untergebracht. Sobald der Elektriker mit der Arbeit anfing, würde die Küche praktisch nicht mehr existieren.

Sie wollte gerade die Kinder rufen, um Pläne fürs Abendessen zu schmieden, als sie ein Lincoln Town Car erblickte, das sich vor dem Haus in eine Parklücke zu zwängen versuchte. Sie kannte die Limousine und ihren Fahrer nur zu gut.

Joe Huston kam zu Besuch.

Faith versuchte ihr Haar mit den Händen zu glätten, während sie beobachtete, wie ihr Vater ausstieg und die Straße überquerte. Seit jenem Abend, als er nach McLean gekommen war, um ihr den Umzug auszureden, hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen, und sie bezweifelte, dass er seine Meinung inzwischen geändert hatte. Als Vater wie als Senator war er unerbittlich.

Sie begrüßte ihn, und als er eingetreten war, beugte er sich vor, um ihre Wange flüchtig mit den Lippen zu berühren. Zärtlichkeit hatte ihm noch nie gelegen. Das höchste der Gefühle war, wenn er einem den Arm um die Schultern legte oder einen umarmte. Dass er jetzt lediglich einen Kuss andeutete, verhieß nichts Gutes. Ihr Vater war offenbar in diplomatischer Mission hier.

„Du siehst erschöpft aus, Faith. Dünn.“

Sie widersprach ihm nicht, obwohl sie kein Pfund abgenommen hatte. Seit Davids Auszug hatte sie nicht weniger, sondern mehr gegessen. Das war ihre Art, mit Depressionen fertig zu werden. „Umziehen ist ein Kraftakt. Ich bin froh, dass das Schlimmste vorbei ist.“

Er schwieg, aber als sein Blick durchs Zimmer wanderte, verriet sein Mienenspiel alles: Joe war der Ansicht, dass ihr das Schlimmste noch bevorstand.

Sie flüchtete sich in ihre guten Manieren. „Ich kann dir nicht viel anbieten, aber wir haben ein paar kalte Getränke in der Kühlbox. Möchtest du eine Pepsi?“

„Kühlbox?“

„Der Kühlschrank ist noch nicht geliefert worden.“ Sie ging in die Küche, und er folgte ihr. In der Tür gab er einen kehligen Laut von sich, den sie aus Kindertagen nur allzu gut kannte. Offenbar hatte sie es mal wieder nicht geschafft, Joes Erwartungen gerecht zu werden.

Ein missbilligendes Gurgeln, und sie war wieder fünf. Dumm und laut und hoffnungslos unvollkommen.

Sie entschuldigte sich nicht für den Zustand der Küche, und sie fragte ihn auch nicht nach seiner Meinung. Sie klappte die Kühlbox auf und öffnete eine Pepsi-Dose. Dann nahm sie ein Glas aus einer Kiste. Kommentarlos reichte sie es ihm – zusammen mit der Büchse.

Er schenkte sich ein, führte das Glas aber nicht an die Lippen. „So kannst du nicht leben. Was denkst du dir eigentlich?“

„Ich denke, dass es schon bald besser wird. Die Pläne für die Küche stehen schon. Möchtest du sie sehen?“ Sie hielt Pavels Entwürfe hoch.

Er winkte ab. „Unabhängigkeit ist schön und gut. Aber das hier ist etwas ganz anderes.“

„Ich möchte nicht mit dir streiten.“

„Weil du weißt, dass ich Recht habe.“

„Nein, weil ich zu tun gedenke, was ich für das Beste halte.

Nicht weil ich stur oder dumm bin, sondern weil ich wieder lernen muss, mir selbst etwas zuzutrauen.“

Joe betrachtete sie und suchte nach der Frau, die er kannte. Die es allen recht machen wollte und geglaubt hatte, darin bestünde ihr Lebensglück. Diese Frau beabsichtigte er wiederzufinden, zumindest ein winziges Stück ihres Verstandes, an den er appellieren konnte.

„Du hast eine schwierige Zeit hinter dir“, setzte er an.

Sie lächelte, um ihren Worten die Schärfe zu nehmen. „Und ich bin noch nicht über den Berg. Aber es ist mein Berg, und ich fange an, ihn zu mögen.“

„Ich habe dich nicht genügend unterstützt.“

Sie war sofort auf der Hut, denn sie war zu lange seine Tochter, um sich von solchen Reue-Krümelchen irreführen zu lassen. „Du hast getan, was du konntest. Jetzt muss ich auf eigenen Beinen stehen.“

„Langfristig vielleicht, aber fürs Erste habe ich eine Lösung anzubieten.“ Er lächelte. „Wirst du mir zuhören und es dir überlegen?“

„Zuhören werde ich bestimmt.“

Das war nicht die Antwort, auf die er gehofft hatte, und sein Lächeln erstarb. „Ich sehe ein, dass du Unabhängigkeit brauchst. Das hätte mir schon früher klar werden müssen. Du brauchst eine Arbeit und eine eigene Bleibe.“

„Letzteres habe ich.“

„Du hast versprochen zuzuhören. Ich habe gerade eine meiner Beraterinnen verloren und muss umgehend Ersatz für sie finden.“

Beinahe hätte sie losgeprustet. Sie hatte Respekt vor Joe Hustons Hingabe an seine Arbeit und seine Wähler. Man konnte ihrem Vater eine Menge nachsagen, aber nicht, dass er das in ihn gesetzte Vertrauen auf die leichte Schulter nahm. Dennoch würde sie sich eher mit Alec dem Tonnenmann zusammentun, als für ihren Vater zu arbeiten. Schon als Vater war er schwer zufrieden zu stellen gewesen – als Vorgesetzter wäre er unerträglich.

„Die Arbeit wird gut bezahlt“, fügte Joe hinzu. „Und es gibt Aufstiegsmöglichkeiten.“

„Man würde dir Vetternwirtschaft vorwerfen.“

„Es gibt gute Gründe, dich zu engagieren. Du bist intelligent, sachkundig ...“

Sie verschränkte die Arme. „Ich kann nicht glauben, dass du mich jeden Tag um dich haben willst. Ich weiß doch, wie schlecht die Sache mit David für dich ist. Wir sind keine Vorzeigefamilie mehr, und ich würde deine Kollegen und die Presse ständig daran erinnern ...“

„Die Presse braucht keine Erinnerungsstütze.“

„Wie meinst du das?“

„Hast du gestern keine Zeitung gelesen?“

Faith war ein bisschen zu beschäftigt gewesen, um sich in Ruhe die „Washington Post“ vorzunehmen, die schon unter normalen Umständen abschreckend dick war. „Was habe ich verpasst?“

„Abraham Stein schreibt eine Serie über die Rechte von Homosexuellen. Der Liebhaber deines Gatten erzeugt Wellen, die möglicherweise bis an die Fundamente des Capitol Hill schlagen. Es gab ein paar Zitate ohne Quellenangabe, die wahrscheinlich von David stammten.“

Den Rest konnte sie sich denken. Abraham Stein hatte nie einen Hehl aus seiner sexuellen Orientierung gemacht, aber seine jüngste Kampagne würde David und seine Familie erneut ins Gerede bringen.

„Das verstehe ich nicht“, sagte Faith. „Wahrscheinlich wird das den Klatsch über David und mich wiederbeleben, zumindest eine Weile – und du willst, dass ich in deinem Büro sitze, wo mich jeder Reporter, der hereinschneit, ausquetschen kann?“

„Die Stelle ist in Roanoke.“ Er hob die Hand und bedeutete ihr zu schweigen. „In meinem dortigen Büro. Du würdest dich um die Probleme kümmern, mit denen meine Wähler ankommen. Du kannst gut zuhören, und du hast mich lange genug beobachtet, um zu wissen, wie das in der Politik so läuft. Du weißt, wie das System funktioniert. Du bist wie geschaffen dafür.“

Wie geschaffen dafür, mehr als zweihundert Meilen entfernt zu leben. Ach so. Weit weg von allem, in einer fremden Stadt, in die der Washingtoner Klatsch nur gedämpft vordrang.

Bevor sie protestieren konnte, spulte Joe die Vorteile ab. „Die Lebenshaltungskosten in Roanoke sind nur halb so hoch wie hier, und es ist landschaftlich sehr schön. Da bist du sicher. Deine Mutter und ich werden dir die Anzahlung für ein Haus, das in einer Gegend mit guten Schulen stehen sollte, leihen. Ich komme oft dort vorbei, und deine Mutter kann dich besuchen, wann immer sie Zeit hat. Du kannst neu anfangen.“

Joe wollte seinen Zauberstab schwenken und sie unsichtbar machen; das war für Faith so sicher wie das Amen in der Kirche. Ihr Vater ertrug es nicht, dass sie in Georgetown lebte, wo so viele seiner Kollegen Häuser besaßen. Er hatte vor, zu verhindern, dass sich Faith’ Eheskandal mit dem Skandal von Hopes Entführung vermischte. Und er beabsichtigte, dafür zu sorgen, dass David seine Kinder so selten wie möglich zu Gesicht bekam. Indem er ihr eine Stelle anbot, konnte Joe Faith, Remy und Alex von der Bildfläche verschwinden lassen und sich dabei noch als Wohltäter aufführen.

Faith war wütend, aber sie hütete sich, das zu sagen. Das dünne Band zwischen ihr und ihren Eltern war nicht sehr belastbar, und sie hatte schon so viel verloren.

Sie wählte ihre Worte mit Bedacht. „Ganz gleich, wie du über ihn denkst: Die Kinder sollen in Davids Näher bleiben, damit er sie besuchen kann. Und diese Gegend ist ihre Heimat. Sie brauchen zumindest etwas Vertrautes in ihrem Leben. Wir werden das hier durchstehen und uns allem stellen. Ich bin dir für dein Angebot dankbar, aber ich suche mir selbst Arbeit, sobald wir uns eingelebt haben.“

„So einfach ist das? Du lehnst meinen Vorschlag ab, ohne ihn dir durch den Kopf gehen zu lassen?“

„Der Umzug, den ich gerade hinter mir habe, soll vorerst der letzte bleiben.“

„Hast du dir mal überlegt, wie es für deine Mutter ist, dass du hier wohnst? Dass sie bei jedem Besuch mit der Vergangenheit konfrontiert wird?“

Faith wies ihn nicht darauf hin, dass Lydia in Wirklichkeit wärmer und entspannter wirkte, wenn sie hier war. Den Grund dafür kannte sie selbst nicht, und wahrscheinlich würde Joe ihr sowieso nicht glauben.

„Ich kann dir diesen Gefallen nicht tun“, erwiderte sie. „Bitte trau mir doch zu, dass ich weiß, was für die Kinder und mich das Beste ist.“

Jetzt war er wirklich böse. „Warum sollte ich? Deine Erfolgsbilanz sieht katastrophal aus.“

Er verstand es stets großartig, Salz in offene Wunden zu streuen, daher war sie auf so etwas gefasst. Dennoch trafen sie seine Worte. Sie reckte das Kinn, ähnlich wie er es oft tat. „Nein, meine Bilanz ist einwandfrei. Das, was David uns verheimlicht hat, kann mir niemand vorwerfen. Auch du nicht.“

Ich habe nicht mit ihm geschlafen.“

„Na hoffentlich nicht! Das wäre ein echter Skandal.“

Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen, aber sie zwang sich, in ruhigem Ton weiterzusprechen. „Du solltest gehen, bevor einer von uns etwas sagt, das sich nicht so leicht zurücknehmen lässt.“

„Du wirst nicht über mein Angebot nachdenken?“

Sie ergriff seinen Arm und führte ihn aus dem Zimmer. „Ich hoffe, du findest jemanden, der wirklich für den Roanoke-Job geeignet ist.“

Er riss sich so weit zusammen, dass sie sich ohne weitere Eskalation voneinander verabschieden konnten. Aber sobald sie sah, dass er ausparkte, ließ Faith ihrer Wut freien Lauf.

„Verdammt!“ Sie trat zweimal gegen einen Läufer, der noch immer zusammengerollt in der Ecke lag. Er war zu weich. Sie suchte nach einem anderen Ziel, fand aber keines. Sie stürmte in die Küche, diese niederschmetternde, schrottreife potenzielle Feuerhölle, und schlug mit der Handfläche gegen die Wand. Da es sich um eine dünne Zwischenwand handelte, die man eingezogen hatte, um das rückseitige Treppenhaus abzutrennen, vibrierte sie spürbar. Obwohl ihre Hand schon heftig brannte, schlug sie noch einmal zu, und die Wand wackelte stärker.

Der Elektriker hatte gesagt, dass die Wand keine tragende war, sodass man sie problemlos entfernen konnte, falls Faith wirklich Pavels aufwändigsten Entwurf realisieren wollte. Sie war zu wütend, um dieser beiläufigen Bemerkung Beachtung zu schenken. Sie machte einen Schritt zurück und trat mit voller Wucht zu, mit dem Absatz ihrer Stiefelette voran.

Sie fiel fast hin, konnte den Sturz aber gerade noch verhindern und trat erneut zu. Ein Loch tat sich auf, gezackt, klein und hässlich, aber für sie war es eine Art Tor zur Freiheit. So hatte sie sich noch nie gehen lassen. Das Adrenalin und eine seltsame Hochstimmung bemächtigten sich ihrer.

„Ich – bin – nicht – euer – kleines – Mädchen!“ Sie malträtierte die Wand weiter mit ihrem Stiefel, und das Loch wurde größer.

Sie versuchte sich zu erinnern, wann sie aufgehört hatte, sich von Joe etwas zu erhoffen – dass er je der Vater sein würde, den sie so sehr brauchte. Sie war noch klein gewesen, zu klein, um ihn zu durchschauen, und hatte daher sich selbst die Schuld gegeben, dass er sich nicht um sie kümmerte. Sie war davon überzeugt gewesen, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Sie war nicht gut genug, hübsch genug, klug genug. Wenn sie besser, schöner, cleverer hätte sein können, wäre Joe ein besserer Vater gewesen.

Erst später, als sie alt genug war, um das Verhalten anderer Menschen zu analysieren, war sie mit sich selbst nicht mehr so hart ins Gericht gegangen. Sie hatte sich eingeredet, dass Hopes Entführung ihn traumatisiert habe. Nach dem tragischen Verlust seiner ersten Tochter hatte Joe sich von der Welt abgekapselt und sich nicht getraut, seine zweite Tochter zu lieben.

Wieder trat sie die Wand, die unter der Wucht ihres Absatzes immer stärker nachgab. Nein, sie machte sich da etwas vor. Nicht dass sie erwachsen geworden war, sondern dass sie David begegnet war, hatte ihr geholfen, Joes Verhalten neu zu beurteilen. Sie hatte ihren Mann mit den Kindern gesehen und zum ersten Mal einen guten Vater erlebt. David liebte die beiden abgöttisch. Er nahm die Vaterrolle ernst und tat nichts lieber, als sich Remys und Alex’ Sorgen anzuhören. Nicht, weil sie etwas ganz Besonderes waren – natürlich waren sie das! –, sondern einfach, weil er ihr Dad war.

Erst nach einigen Ehejahren hatte sie begriffen, dass sie an ihrem verkorksten Verhältnis zu Joe nicht die geringste Schuld traf. Es wäre Joes Pflicht gewesen, seine Tochter zu lieben und sie so zu akzeptieren, wie sie war. Er, der sich auf seine Pflichterfüllung sonst so viel einbildete, war an dieser Aufgabe jämmerlich gescheitert.

Noch einmal trat sie zu, mit weniger Wucht, aber sie hatte den neuen Zielpunkt schlecht angepeilt. Ihr Absatz, ja ihr ganzer Fuß rutschte tief in das ausgefranste Loch und verhakte sich.

Hüpfend versuchte sie sich zu befreien, aber irgendwann verlor sie das Gleichgewicht.

Sie saß auf dem Hosenboden und betrachtete das Chaos, das sie angerichtet hatte. Ihr Bein pochte, ihre Hände kribbelten. Sie fühlte sich befreit, als hätte sie irgendetwas aus ihrem Leben gekickt – zeitweilig wenigstens.

„Reg dich ab, Mom. Meine Güte!“

Faith blickte sich um und sah Remy in der Tür stehen. Ausnahmsweise hatte sie nicht an die Kinder gedacht. Sie hatte nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet, dass sie sich später über das seltsame Loch in der Küchenwand wundern könnten.

„Ich nehme an, das sieht seltsam aus.“ Faith drehte den Fuß, um ihn zu befreien.

„Ja, allerdings.“

„Diese Wand soll ohnehin raus. Ich fürchte, ich war etwas übereifrig.“

„Krieg dich wieder ein, ja? Wenn ich hier Wände einträte, würdest du mir bis ans Lebensende Hausarrest erteilen.“

„Ich stecke offenbar fest.“ Faith drehte ihren Fuß in die andere Richtung.

Remy durchquerte die Küche, umfasste den Knöchel ihrer Mutter und zog ihn mit einem Ruck aus dem Loch. Sobald Faith frei war, rutschte sie von der Wand weg, aber Remy blieb dort stehen.

„Die Wand wird wirklich abgerissen?“

Faith betastete den Absatz, der sich offenbar ein wenig gelockert hatte. „Hm-m.“

„Gut!“ Remy ließ die Sohle ihres Turnschuhs neben dem Loch gegen die Wand sausen. „Hey, nicht schlecht.“

Aus der Wand war wieder ein Stück herausgebrochen. Remy trat noch einmal zu, um fortzuführen, was Faith begonnen hatte, und das Loch wurde größer.

Faith fragte sich, welchen Teil von Remys Leben die Wand darstellen sollte. Welcher es auch sein mochte, Remy schien ebenso viel Gefallen daran zu finden, ihn zu zerstören, wie Faith.

„Pass auf, dass du nicht auch noch stecken bleibst.“ Faith nahm neben ihrer Tochter Aufstellung, und mit vereinten Kräften weiteten sie das Loch beträchtlich aus. Wortlos traten sie abwechselnd zu, bis sie beide vor Erschöpfung keuchten.

Remy machte einen Schritt nach hinten, und Faith setzte sich wieder auf den Boden – diesmal allerdings freiwillig. Sie fühlte sich an jene Zeiten erinnert, als sie mit ihrer Tochter Kekse gebacken oder Puppenkleider genäht hatte. Sie spürte die Mutter-Kind-Bindung.

„Spitze“, sagte Remy. „Jetzt sieht die Küche noch übler aus. Hätte ich nicht für möglich gehalten.“

Faith wusste, dass sie sich entschuldigen und darauf hinweisen sollte, dass es bessere Methoden gab, mit seiner Wut umzugehen. Aber sie bereute es überhaupt nicht, die Wand malträtiert zu haben. Endlich hatte sie mal etwas getan, das ihr einfach nur gut tat.

Anstatt um Verzeihung zu bitten, rutschte sie näher an das Loch und spähte hindurch. Pavel hatte Recht gehabt: Wenn sie diese Wand und die vor der Waschküche entfernten, gewannen sie eine Menge Platz, um die Küche zu erweitern.

„Wie es ausschaut, ist die Wand etliche Jährchen alt.“

„Wohin führte die Treppe?“ fragte Remy.

„Vermutlich zu einem Wintergarten oder auch nur zu einer Art Hochterrasse vor deinen Fenstern. Vielleicht war sie als Feuertreppe gedacht; sehr hilfreich dürfte sie allerdings nicht gewesen sein. Oder als Hintertreppe für die Bediensteten. Als das Haus gebaut wurde, hatten auch die nicht so wohlhabenden Leute Personal.“

„Ist Hopes Entführung so abgelaufen? Hat sich jemand diese Treppe hochgeschlichen und meine Fenster geöffnet? Du hast behauptet, niemand könne hinein.“

„Ich bin mir sicher, dass die Treppe bei Hopes Geburt schon nicht mehr benutzbar war.“ Faith rutschte noch ein Stück näher. Kurz hinter der Wand lag etwas: ein vergilbtes Stück Papier. Sie steckte einen Arm durch das Loch und zog das Blatt vorsichtig hindurch.

„Was hast du gefunden?“

„Echt antiken Abfall.“ Faith hielt das Papier mit den Fingerspitzen fest und setzte sich bequemer hin. Das Blatt war nicht so alt, dass es zerfiel, aber als sie es auseinander faltete, riss es entlang eines Falzes ein. Vorsichtig strich sie es glatt.

„Was ist das?“

„Eine Notiz.“ Handgeschrieben, offenbar mit einem Füllfederhalter, auf einem linierten Schulheftblatt. Die Schrift war verblichen, aber lesbar. Die Buchstaben waren sauber ausgeführt; offenbar hatte der Verfasser zu einer Zeit schreiben gelernt, als in der Schule noch Wert auf Schönschrift gelegt wurde.

„Was steht drauf?“ Remy nahm neben ihrer Mutter auf dem Boden Platz. Faith roch das Zitrus-Shampoo ihrer Tochter und spürte, wie das weiche Gewebe eines T-Shirts über ihren Oberarm strich.

Sie schloss kurz die Augen und kostete diesen Moment voll aus. Vor wenigen Monaten erst hatte sie eine süße kleine Tochter gehabt, jetzt war da ein Teenager. Dieses Kind, das mit ihr über alles Mögliche geredet und auf ihren Rat gehört hatte, fehlte ihr entsetzlich. Sie hoffte, dass Remy und sie irgendwann wieder gute Freunde sein könnten, aber im Augenblick blieb ihr nichts anderes übrig, als ihren Erinnerungen nachzuhängen.

„Es ist schwer zu entziffern“, meinte Faith. Sie hielt das Blatt gegen das Licht. „Sehr geehrte Mrs. Huston ...“

„Großmutter? Vielleicht ist es eine Lösegeldforderung.“

„Ich glaube nicht, dass es so spannend wird.“ Remys Kopf war jetzt direkt neben ihrem, und sie unterdrückte das Bedürfnis, ihre Tochter zu umarmen. Remy und Gast waren sich in einem Punkt sehr ähnlich: Wenn man nach ihnen griff, fuhren sie sofort die Krallen aus.

„Gib mal her.“ Nach einer Pause fügte Remy hinzu: „Bitte.“

„Sei vorsichtig, damit es nicht noch weiter einreißt.“ Faith überließ ihrer Tochter das Blatt. „Lies vor.“

Remy beugte sich über die blasse Schrift und begann: „Es gibt viel zu tun, und ich habe nur einen kleinen Anfang gemacht. Wie Sie es wünschten, habe ich in der Küche angefangen und die Tapeten entfernt.“ Remy guckte kurz hoch. „Wer auch immer das geschrieben hat, in Rechtschreibung war er nicht gut. Da sind zu viele Ps in Tapeten. Und der Stil ist komisch.“

„Was steht noch da?“

Remy fuhr fort: „Wenn ich wiederkomme, werde ich die Wände so weit herrichten, dass sie gestrichen werden können. Hochachtungsvoll, Dominik Du... Du...“ Sie schaute Faith an. „Der Rest ist verschmiert.“

Faith warf einen kurzen Blick auf das Stück Papier. Dann lehnte sie sich zurück. „Dubrov. Dominik Dubrov.“

„Woher weißt du das? Du kannst den Namen doch nicht besser entziffern als ich.“

Faith’ Gedanken rotierten. „Weil einige Zeit vor meiner Geburt ein Handwerker namens Dominik Dubrov in einigen Häusern hier in der Gegend gearbeitet hat.“

„Das ist doch hundert Jahre her! Wieso kennst du seinen Namen?“

Faith legte Remy eine Hand aufs Knie. „Weil Dominik Dubrov nach Hopes Entführung der Hauptverdächtige war. Noch heute glauben die meisten Leute, die sich mit dem Fall beschäftigt haben, dass er der Mann ist, der meine Schwester gekidnappt hat.“