10. KAPITEL
Lydia und Joe schliefen schon seit ihrem Umzug nach Great Falls in getrennten Zimmern. Bei den Gesprächen mit dem Architekten hatte Lydia auf separaten Schlafzimmern bestanden und sich gegen alle Entwürfe gesperrt, in denen diese im selben Flügel liegen sollten. Sie verlangte weite Räume, hohe Decken und einen möglichst großen Abstand zu Joe.
Durch die getrennten Schlafzimmer hatte sich nicht viel in ihrer Beziehung geändert. Schon vor langer Zeit hatten sich die Hustons arrangiert. Die Zärtlichkeit, die sie zu Beginn ihrer Ehe füreinander empfunden haben mussten, hatte sich in der Feuerprobe der Kindesentführung verflüchtigt. Aber auch wenn sie kein befriedigendes Eheleben führten, so konnten sie doch nach außen hin so tun als ob.
Jeden Sonntag nach dem Gottesdienst ließen sich die Hustons im renommierten „Old Ebbitt Grill“ blicken und glichen bei einem deftigen Frühstück demonstrativ ihre Terminpläne ab. Bei Waffeln oder Eiern Benedict trugen sie die Zeiten ein, die sie mit Faith und den Kindern verbringen würden, die Staatsbankette, Joes Ausschusssitzungen und sonstigen Verpflichtungen sowie die Übernachtungen in den drei Städten in Virginia, in denen er Büros unterhielt. Bei all seinen Fehlern nahm Joe doch seine Pflichten äußerst ernst.
Heute Morgen hatte Lydia darauf bestanden, dass sie den Gottesdienst ausließen und daheim frühstückten. Sie fürchtete, dass Joe nicht in der Lage wäre, den großen Senator zu spielen, während er mit ihr über ihre Tochter und deren neue Wohnsituation diskutierte.
Als sie Faith das Haus in der Prospect Street überlassen hatte, war ihr durchaus klar gewesen, dass er äußerst wütend sein würde, aber seine Wut hatte sich inzwischen in brutalen Sarkasmus verwandelt. Sie wollte auf keinen Fall riskieren, dass jemand ihnen zuhörte.
Sie war noch dabei, Teilchen und Rührei auf die Anrichte zu stellen, als Joe das Frühstückszimmer betrat. Ohne jeden Gruß schenkte er sich Kaffee ein, dann knallte er die Tasse auf den Tisch, sodass der Inhalt auf das nagelneue Tischtuch schwappte. Lydia sah zu, wie sich der Kaffee auf dem ehemals schneeweißen Freiraum zwischen dem Lavendel- und dem Rosenbukett ausbreitete, und fragte sich, ob sie Joe nicht doch besser auf neutralem Boden getroffen hätte.
„Marley ist in der Küche“, beeilte sie sich zu sagen. „Wir sollten uns wie zivilisierte Menschen benehmen, ja?“
„Marley weiß, wer der Herr im Hause ist und hier für die Butter auf dem Brot sorgt.“
„Sie verdient sich jedes Gramm mit harter Arbeit.“ Marley, die Haushälterin der Hustons, führte den Haushalt mit unangestrengter Sorgfalt.
Joe ließ sich auf seinen Stuhl fallen. „Lydia, so früh am Tag ertrage ich noch keine Phrasendrescherei, und ich habe es eilig. Ich muss ins Büro.“
„Marley hat die Zimtschnecken gemacht, die du so gerne magst.“
„Ich nehme eine mit.“
„Wir brauchen noch ein paar Minuten, um unsere Termine für die kommende Woche abzustimmen, damit keiner von uns etwas Wichtiges verpasst.“
„Genevieve kann dir meine Termine morgen durchgeben.“ Auf der Arbeit umgab sich Joe mit Frauen, obwohl er eigentlich fand, dass sie nach Hause an den Herd gehörten. Genevieve, seine Privatsekretärin, war ein Muster an weiblicher Effizienz.
Lydia nahm sich ein Croissant, bevor sie sich gegenüber von ihrem Mann niederließ. „Ich will nicht mit Genevieve reden. Wenn mir danach wäre, hätte ich sie zum Frühstück eingeladen.“
„Was ist los? Hast du noch mehr unerfreuliche Nachrichten für mich auf Lager? Faith zieht in das Rattenloch in Georgetown, in dem ihre Schwester entführt worden ist. Was gibt’s noch?“
„Wir haben auch dort gewohnt. Weißt du noch?“
Seine Augen blitzten. „Oh ja, nur zu gut.“
Sie machte eine Pause, um dem Folgenden mehr Gewicht zu verleihen. „Ich habe keine weiteren Neuigkeiten, sondern möchte etwas mit dir besprechen. Ich kann nämlich nicht dulden, dass du deine schlechte Laune an Faith und den Kindern auslässt.“
„Meine Güte, sie ist doch selbst schuld.“
Lydia kannte Joes engstirnige Weltsicht, aber jetzt war sie doch konsterniert. „Wie bitte?“
„Wenn Faith für David ganz Frau gewesen wäre, hätte sich David weiterhin wie ein ganzer Kerl verhalten.“
Lydia stellte verblüfft fest, dass Joe sie noch immer schockieren konnte. „Das ist absurd.“
„Wäre unsere Tochter eine bessere Ehefrau gewesen, dann hätte ihr Mann sie nicht verlassen.“
„Wenn es das war, was du ihr jeden Tag aufs Brot schmieren wolltest, bin ich froh, dass sie nicht zu uns gezogen ist.“
„Hast du eine Ahnung, wie oft mir das aufs Brot geschmiert worden ist?“
Sie beugte sich vor, um sich seiner Aufmerksamkeit zu versichern. „Hier geht es aber nicht um dich.“
Er ließ die Faust auf den Tisch sausen, und wieder schwappte der Kaffee über. „Und jetzt hat sie meine Enkel in die Prospect Street geschleppt. Kannst du mir bitte verraten, wozu das gut sein soll?“
„Na ja, zum Beispiel lebt dort niemand, der sie tyrannisiert.“
„Du solltest wirklich deine Zunge hüten.“
„Warum?“ Lydia ergriff ihre Tasse. „Deine Drohungen ziehen schon lange nicht mehr. Ich weiß zu viel über dich, und du weißt zu viel über mich“, sagte sie mit gedämpfter Stimme. „Also, wir werden Folgendes tun. Marley und ich fahren gleich zur Prospect Street und helfen Faith beim Auspacken und Saubermachen. Mittags wird Faith einen Strauß von einem Capitol-Hill-Floristen in Empfang nehmen. Auf dem Kärtchen wird stehen: ,Alles Gute zum Einzug. Dad.‘ Die Lieferung ist bereits bestellt.“
„Wenn du meinst, dass sich dadurch irgendetwas ändert, irrst du dich gewaltig. Faith ist sich vollkommen im Klaren darüber, dass ich gegen ihr neues Heim bin.“
„Mag sein, denn sie kennt dich schon ihr Leben lang und weiß, dass du einfach nie vergibst und vergisst. Aber deine Enkelkinder durchschauen dich noch nicht so gut.“
„Ist dir schon mal in den Sinn gekommen, Lydia, dass Faith in der Prospect Street das eine oder andere entdecken könnte, was du lieber für dich behalten würdest?“
Lydia ließ ihren Blick von ihrem Ehemann zu den beiden ausgewachsenen Hirschen wandern, die hinter dem Haus am Waldesrand standen und wie Statuen wirkten. Vor zehn Jahren, als sie dieses Grundstück gekauft hatten, hatte sie angenommen, dass der Umzug ihr endlich den ersehnten Frieden bringen würde. Aber die Hoffnung, dass Bäume, eine schöne Aussicht und scheinbar unverdorbene Natur ihr verkorkstes Leben wieder in die richtigen Bahnen lenken könnten, war naiv, ja, dumm gewesen.
Sie schaute wieder ihren Mann an und stellte vorsichtig ihre Tasse ab. „Das Reihenhaus hat schon immer Geheimnisse beherbergt, nicht wahr, Joe? Ich glaube, wir beide müssen einfach hoffen, dass es nur die besten preisgibt.“
Als Faith mit den Kindern bei „Booeymonger“ auftauchte, um zu frühstücken, saß der Klavier-Retter mit seiner Zeitung an einem der beiden Tische vor dem Lokal. Der Morgen war wunderschön, sonnig, aber frisch genug, um ein Frühstück im Freien zu genießen. Ein Blick auf die Warteschlange verriet Faith, dass sie so schnell weder drinnen noch draußen einen Platz finden würden. Es würde wohl auf ein Frühstück aus der Tüte zwischen den Kisten hinauslaufen.
Der Mann blickte auf, sah sie und grinste. „Hallo zusammen. Wie läuft das Auspacken?“
Faith kam auf seinen Tisch zu. „Tut mir Leid, ich habe mir Ihren Namen nicht gemerkt.“
Er stand umständlich auf, indem er den Tisch ein Stück nach vorne schob. „Pavel. Pavel Quinn.“
Die Kinder guckten ihn erwartungsvoll an, und sie stellte ihn ihnen vor, wobei sie seinen Vornamen genau wie er auszusprechen versuchte: „Pah-vjel“, mit der Betonung auf der ersten Silbe. Remy war das völlig egal, aber Alex’ Neugier schien geweckt zu sein.
„Was ist das denn für ein Name: Pavel?“ Er sprach ihn perfekt aus. „Klingt wie ein Nachname.“
„Russisch“, erläuterte Pavel vergnügt und mit aufgesetztem Akzent.
„Cool.“ Alex war schwer beeindruckt.
„Sonntags ist hier die Hölle los“, sagte Pavel. „Möchten Sie mir vielleicht Gesellschaft leisten?“
„O nein, ich ...“ Faith verstummte, weil Alex in lautstarken Jubel ausgebrochen war.
„Cool“, wiederholte Alex anschließend. „Dann können wir die Leute beobachten, die vorbeikommen.“
„Ich warte hier, bis ihr euch etwas zu essen geholt habt.“ Pavel nahm die Zeitung wieder in die Hand, und Faith blieb nichts anderes übrig, als sich ihre Niederlage einzugestehen.
Als sie zurückkamen, verfütterte Pavel Toaststückchen an zwei Tauben, die es sich unter dem Tisch gemütlich gemacht hatten. Er war fast genauso gekleidet wie gestern: Er trug Shorts und ein verknittertes T-Shirt – aber dieses war immerhin nicht mit Farbklecksen übersät. Er hatte sich rasiert und gekämmt und wirkte recht ansehnlich.
„Tauben übertragen Krankheiten.“ Remy knallte ihm gegenüber ihr Tablett auf den Tisch.
„Diese Tauben haben ein Unbedenklichkeitsattest vom Gesundheitsamt.“ Pavel zerkrümelte den Rest Toast und klopfte dann seine Hände ab. „Darf ich vorstellen, Laurel und Hardy.“
„Sie haben Namen?“ Alex nahm rechts von Pavel Platz.
„Alle Geschöpfe Gottes haben Namen. Man muss nur ganz genau hinhören.“
Remy schnaubte. „Wer sind Sie, Doktor Doolittle?“
„Gott hat sie Laurel und Hardy genannt?“ Faith setzte sich auf den letzten freien Stuhl, für ihren Geschmack zu dicht an Pavel, der keine Anstalten machte, ein wenig zur Seite zu rücken. „Hat Gott so viel Humor?“
„Sie müssen sich nur umschauen, dann entdecken Sie ihren Humor!“
„Ihren?“ Remy war offensichtlich empört. „Sie nennen Gott eine Sie?“
Er zuckte leicht mit den Schultern.
„Gott ist ein Mann“, sagte Remy.
Faith versuchte, Pavel aus der Schusslinie zu holen. „Die Menschen in aller Welt nehmen Gott auf unterschiedliche Weise wahr.“
„Dann liegen sie falsch.“
Pavel lächelte Remy an, als erinnere er sich an die Zeit, da auch er sich im Besitz der Wahrheit gewähnt hatte. „Und, glaubst du, dass es dir in Georgetown gefallen wird?“
„Auf keinen Fall.“ Remy senkte den Blick und widmete sich ihrem Bagel.
Faith schüttelte den Kopf, und jetzt lächelte Pavel sie an. „Und was ist mit Ihnen?“
„Gefällt es Ihnen denn hier?“
Er rekelte sich gemütlich auf seinem Stuhl. „Und wie.“
„Sind Sie hier aufgewachsen?“
„In Kalifornien.“ Er wandte sich Alex zu. „Und wie steht es mit dir, Kumpel? Deine Schwester stimmt klar mit nein, deine Mutter scheint noch unentschieden zu sein. Meinst du, dass es dir hier gefallen wird?“
„Ja klar.“
„Gut. Was wird dir gefallen?“
Alex überlegte kurz. „Ich denke, hier darf man anders sein, wenn man will.“
Faith’ Herz krampfte sich zusammen. „Man kann doch überall man selbst sein, oder?“
„Nicht wenn man elf ist.“
Pavel beugte sich vor, legte die Unterarme auf den Tisch und schaute Alex direkt in die Augen. „Du bist ein ganz besonderer Elfjähriger. Das erkenne ich schon.“
„Ich bin Erfinder.“
„Wenn du mir noch eine Minute Zeit gelassen hättest, wäre ich selbst drauf gekommen.“
„Echt?“
Faith beobachtete, wie Pavel das Herz ihres Sohnes gewann. Seiner saloppen, fast schlampigen Aufmachung zum Trotz war er der geborene Charmeur. Seine leicht mandelförmigen und dunkel bewimperten Augen standen weit auseinander, und er wusste, was er mit ihnen anstellen musste, um seinem Gegenüber das Gefühl zu vermitteln, verstanden und gemocht zu werden. Er hatte die ausgeprägten Wangenknochen eines Slawen und die typisch irische Begabung, alle seine Vorzüge herauszustellen, es aber so aussehen zu lassen, als wäre er sich ihrer Existenz gar nicht bewusst.
„Da haben Sie aber einen interessanten Sohn, meine Liebe.“
Faith riss sich von ihren Gedanken los. „Davon war ich immer überzeugt.“
„Jede Familie braucht einen Erfinder.“
Alex’ Erfindungen gehörten zu den wenigen Dingen, über die Faith und David verschiedener Meinung gewesen waren. David wollte dem Jungen immer erst dann „Erfindungszeit“ gewähren, wenn er zuvor all seine Schulaufgaben gemacht hatte. Faith fand, dass Alex zum Teil selbst bestimmen sollte, wann er welche Arbeiten erledigte.
Jetzt lag das ganz in ihrer Hand.
„Gibt es in Ihrer Familie auch einen Erfinder?“ erkundigte sich Alex.
„Ich bin meine ganze Familie, also muss ich ein Alleskönner sein.“
Es erstaunte Faith, dass er nicht verheiratet war und keine Kinder hatte. Vielleicht hatte er eine Freundin oder Geliebte. Sie fragte sich, was Dottie Lee über ihn wusste.
Sie suchte nach einem unverfänglicheren Thema. „Haben Sie mir nicht erzählt, dass Ihr Haus eine Baustelle ist? Heißt das, dass Sie mitten in der Renovierung stecken?“
„Permanent. Ich mache nämlich alles selbst.“
Faith war sich sicher, dass ihre Augen aufleuchteten. „Tatsächlich?“
„Entdecke ich da einen Hauch von kollegialem Interesse? Von Renoviererin zu Renovierer?“
„Ehrlich gesagt, ich verstehe nicht das Geringste davon, außer wie man einen Pinsel schwingt. Aber ich werde es lernen.“
„Ich habe das Haus ja von innen gesehen. Da haben Sie sich ganz schön was vorgenommen!“
„Die Kabel werde ich bestimmt nicht selbst verlegen – sonst brennt mir das Haus noch ab. Sie kennen nicht zufällig ein paar zuverlässige Handwerker, oder?“
„Solch eine Information rücken die Menschen hier in der Gegend nicht gerne heraus. Da könnten Sie sie genauso gut um den Schlüssel zu ihrem Bankschließfach bitten.“
„Im Ernst?“
„Natürlich kenne ich einige zuverlässige Leute. Für eine selbstgekochte Mahlzeit würde ich Ihnen die Namen verraten. Wir sind hier auch große Tauschhändler.“
Sie lachte und wusste nicht einmal, warum. Eigentlich stand ihr nicht der Sinn danach, jemanden zu bewirten. Vielleicht würde sie überhaupt nie wieder Lust haben, einen Mann einzuladen.
Einen Mann einzuladen. Schlagartig setzte Ernüchterung ein. Bis zu diesem Augenblick war Pavel nicht viel mehr gewesen als eine Zufallsbekanntschaft aus der Nachbarschaft, mit einem Kreuz, das breit genug war, um ein Klavier zu halten, und Händen, die Wände verputzen und Leitungen verlegen konnten.
Sie steckte mitten in einer Scheidung. Bald würde sie sich wieder mit Männern verabreden können. Sie hätte nie gedacht, dass sie je wieder in diese Lage käme.
„Sind Ihre Kochkünste so schlecht?“ Pavels Augen funkelten.
„Nein, aber offenbar mein Benehmen. Tut mir Leid, ich würde Sie sofort einladen, aber Sie haben die Küche nicht gesehen.“
„So schlimm?“
„Eine Katastrophe.“
„Soll ich mal einen Blick darauf werfen? So von Renovierer zu Renoviererin?“
Sie wusste nicht, wie sie das ablehnen sollte. Das Angebot war völlig unverdächtig, und sie konnte jeden guten Rat gebrauchen. „Im Augenblick ist der Zugang noch mit Kartons versperrt, aber heute Abend vielleicht. Schauen Sie doch einfach mal vorbei, wenn Sie das nächste Mal in unserer Straße sind.“
„Das werde ich.“
Faith merkte, dass Remy sie betrachtete. Als sie ihrer Tochter in die Augen guckte, entdeckte sie mehr Feindseligkeit als üblich.
„Wenn Sie kommen, kann ich Ihnen vielleicht auch zeigen, was ich mit meinem Computer so mache“, meinte Alex. „Mögen Sie Computer?“
„Und wie.“ Pavel schob seinen Stuhl zurück. „Ich sollte los – die Spüle muss endlich montiert werden. Fließendes Wasser gab es in meiner Küche zuletzt vor ...“ Er zählte mit den Fingern. „Fünf Monaten.“
Faith seufzte. Er nickte mitfühlend. „Machen Sie sich auf eine lange Durststrecke gefasst“, riet er ihr.
Als Pavel aufstand, wirkte er wie ein Riese. Er hielt Alex die Hand hin, und der schlug ein, von Mann zu Mann. „Ich freue mich darauf, deine Erfindungen zu sehen.“ Er nickte Faith und Remy zu und verschwand.
Remy warf ihre Serviette auf den Tisch. „Mutter, wer ist der Typ?“
„Ein Nachbar. Erinnerst du dich, ich habe dir von dem Mann erzählt, der geholfen hat, als die Packer das Klavier ...“
„Du kennst ihn nicht? Alles, was du weißt, ist, dass er ein Klavier halten kann? Und dann lädst du ihn zu uns nach Hause ein?“
Faith wurde wütend. „Tu doch nicht so, als wäre hier in der Gegend ein Serienmörder unterwegs, Remy. Er ist ein Nachbar, nicht Jack the Ripper.“
„Warum bist du dir da so sicher? Du hast fünfzehn Jahre mit einem Mann zusammengelebt, über den du nicht das Geringste wusstest!“
„Mit dir lebe ich seit vierzehn Jahren zusammen, und eins ist so sicher wie das Amen in der Kirche: Unverschämtheiten und Unhöflichkeit gegenüber anderen Leuten lasse ich dir nicht durchgehen.“
Remy funkelte sie wütend an, sprang auf und machte sich auf den Heimweg.
Am Tisch wurde es still. Faith bemerkte, dass sie nur ein oder zwei Bissen von ihrem Eiersandwich gegessen hatte, doch jetzt war ihr der Appetit vergangen.
„Ich bin nicht sauer auf dich, Mom“, meinte Alex schließlich.
Sie drückte seine Hand, wagte aber nicht, etwas zu sagen.
Remy lief einfach am Reihenhaus vorbei. Sie war zu aufgewühlt, um hineinzugehen und weiter auszupacken. In ihrem Körper schien ein wildes Tier zu wüten; sie spürte seine Klauen; es wollte hinaus. Wenn es in ihrem Zimmer aus ihr herausbrach, konnte sie für nichts mehr garantieren.
Sie lief in Richtung der Georgetown University. Ihre Mutter hatte auf einer Rundfahrt durchs Viertel bestanden und dabei einen Vortrag über die Universität gehalten, der Remy natürlich völlig kalt gelassen hatte. Das war bloß wieder so ein Trick, mit dem ihre Mutter den Umzug als großartige Sache hinzustellen versuchte. Als ob das Leben automatisch erträglicher würde, wenn man neben einer Uni wohnte.
In McLean wäre sie um diese Zeit vielleicht gerade von einer Übernachtung bei Megan oder einer anderen Freundin zurückgekommen. Wahrscheinlich würden die Mädchen sie auch weiterhin einladen, aber sie würde nicht mehr hingehen. Alle wussten sie über ihr Leben Bescheid. Über ihren schrecklichen Vater und über diese Mutter, die ernsthaft glaubte, die öffentliche Schule würde Remy gut tun und ihr helfen, besser mit der kalten, grausamen Realität zurechtzukommen.
Sie war schon tough genug, um mit allem Möglichen fertig zu werden. Sie hatte sogar daran gedacht abzuhauen, um Faith eine Lektion zu erteilen, aber sie wusste nicht, wohin. Der einzige Ort, der ihr einfiel, war das Haus in McLean, und das kam nicht in Frage.
Sie bräuchte eine Zeitmaschine. Vielleicht konnte Alex, das neue Licht in Faith’ Leben, eine erfinden und Remy damit wegbeamen. Das würde ihm gefallen.
Sie war schon mehrere Häuserblocks weit gelaufen, als sie das erste Mal auf ihre Umgebung achtete. Die Prospect Street bestand aus unzähligen Häusern, die sich dicht an dicht aneinander reihten. Alle alt. Alle schmal. Alle völlig anders als das Haus, in dem sie aufgewachsen war. Als sie eine Ecke erreichte, überlegte sie, ob sie den Hügel hinab zur M Street gehen sollte. Doch abzubiegen kostete Energie, und später, wenn sie nach Hause wollte, würde sie den Hügel wieder hinaufstapfen müssen, was noch mehr Energie kostete. Also ging sie weiter in Richtung Universität.
Zwei junge Männer, die einen Hund ausführten, kamen ihr entgegen. Das Tier war riesig, so groß wie die Kleiderkartons, in die sie ihre Klamotten gepackt hatte. Ein Schrank mit krausem schwarzen Haar und einer heraushängenden rosa Zunge. Der Hund rief ihr Gast und die Kätzchen in Erinnerung, und ihr fiel siedend heiß ein, dass sie nach dem Frühstück nach ihnen hatte sehen wollen. Faith hatte versprochen, Katzenfutter zu kaufen.
Der Hund wirkte völlig harmlos und wohl erzogen, aber sobald er nah genug war, sprang er sie an. Mit den Pfoten auf ihren Schultern drängte er sie zurück, bis sie stolperte. Als sie am Boden lag, schlabberte er mit seiner riesigen, ekligen Zunge über ihr Gesicht.
Sie kreischte, eher aus Überraschung denn aus Angst, und hielt sich die Hände vors Gesicht. „Nehmt dieses Viech von mir weg.“
Einer der jungen Männer zerrte an der Leine. Der andere hatte sich zwischen Remy und den Hund geworfen und versuchte das Tier wegzuziehen.
„Pfui, Bär. Aus, du Trottel!“
Bär setzte sich hin, und Remy krabbelte außer Reichweite. „Er hat mich angefallen!“
„Nee, er kann bloß seine Zuneigung schlecht dosieren.“ Der Mann mit der Leine wollte ihr helfen, aufzustehen, aber Remy lehnte ab und rappelte sich zitternd aus eigener Kraft auf.
„Wenn ihr ihn nicht im Griff habt, solltet ihr nicht mit ihm rausgehen.“
„Er hat dich nicht verletzt, oder?“
Sie schaute an sich herab, um zu prüfen, ob sie irgendwelche Blessuren hatte. „Nein ...“
„Tut mir Leid.“ Der junge Mann grinste. Er hatte blondes Haar, große braune Augen und ein wunderschönes Lächeln. „Ich hätte damit rechnen müssen. Er mag hübsche Mädchen.“
Das verschlug ihr erst einmal die Sprache. Um das zu kaschieren, lächelte sie zurück.
„Ich geh mit ihm nach Hause“, sagte der andere Mann. Er hatte dunkles Haar und dunkle Augen, und im Gegensatz zu seinem Freund lächelte er nicht. „Ich habe die Schnauze voll, ihn dauernd von den Leuten wegzuziehen, damit er von ihnen ablässt. Wir sollten ihn ins Tierheim zurückbringen.“ Er machte kehrt und lief davon.
„Ins Tierheim?“ erkundigte sich Remy, deren Sprachlosigkeit nur von kurzer Dauer gewesen war.
„Ja. Selims Schwester arbeitet dort. Bär sollte eingeschläfert werden, aber sie hat ihn da rausgeholt und Selim geschenkt.“
„Das ist gut.“ Remy wusste nicht recht, warum sie das sagte. Sie hatte eigentlich keinen Grund, das gut zu finden. Immerhin stand sie vollgesabbert vor dem süßesten Jungen, den sie je getroffen hatte.
Andererseits hätte sie nie ein Wort mit ihm gewechselt, wäre Bär nicht gewesen.
„Du musst das Viech ja auch nicht ernähren. Das ist das Schlimmste an ihm. Bist du auch an der Georgetown?“
Remy war überrascht und fühlte sich seltsam geschmeichelt, dass er sie für eine Kommilitonin hielt. Fast hätte sie gelogen, aber ihr war klar, dass sie damit nicht lange durchgekommen wäre. „Nein, wir sind gerade erst hierher gezogen.“ Sie zeigte mit dem Daumen über ihre Schulter. „Wir wohnen ein paar Häuser weiter in die Richtung.“
Hinter dem bezaubernden jungen Mann sah sie Bär und Selim in einem der vielen Reihenhäuser verschwinden. „Studierst du an der Georgetown?“
„In ein paar Wochen startet das nächste Semester. Auf welche Schule gehst du?“
„Im Moment auf keine.“ Das war schließlich nur allzu wahr.
„Du solltest es auf der Georgetown versuchen.“
„Vielleicht.“ Sie verzichtete darauf klarzustellen, dass selbst die High School für sie noch in weiter Ferne lag.
„Halte ich dich auf?“
Remy schüttelte den Kopf. „Ich lauf nur so herum.“
Er streckte die Hand aus. „Ich bin Colin Fitzpatrick.“
Seine Hand war groß und warm und schloss sich gerade fest genug um ihre, um sich angenehm anzufühlen.
„Remy Bronson.“
„Willst du dir den Campus anschauen? Ich muss vorerst auch nirgendwo hin. Ich könnte dir alles zeigen.“
Remy wurde mulmig bei dem Gedanken, was ihre Mutter dazu sagen würde. Schließlich war Colin ein Fremder. Außerdem hatte ihre Mutter keine Ahnung, dass sie nicht zu Hause war.
Sie setzte ihr erwachsenstes Lächeln auf. „Das glaube ich gern.“
Er lachte. „Möchtest du als Erstes einen Blick in unser Haus werfen? Wo wir doch Nachbarn sind.“
„Okay.“ Wenn Faith einen völlig Fremden einlud, ihr Haus zu besichtigen, konnte sie sich ebenso gut das von Colin angucken.
„Bei uns war letzte Nacht Party, nur zur Vorwarnung. Besonders sauber ist es nie, aber heute früh sieht es noch schlimmer aus als sonst.“
Sie gingen auf das Haus zu. Remy wusste nicht genau, was ihr im Moment besser gefiel: ihre Zeit mit dem aufregendsten Mann zu verbringen, den sie je getroffen hatte, oder sich auszumalen, was Faith durch den Kopf gehen würde, sobald ihr auffiel, dass ihre Tochter nicht daheim war.
Nur schade, dass sie nicht dabei sein konnte, um Faith’ Gesicht zu sehen.