28. KAPITEL
Eine Woche später gelang es Faith, sich einzureden, dass auch sie Glück gehabt hatte. Eine qualvolle Woche, in der sie sich selbst vollkommen in Frage gestellt hatte. Am Ende dieser Woche wich die Scham allmählich neuen Einsichten. Gemessen an all den Jahren, die sie gebraucht hatte, um die Wahrheit über David herauszufinden, hatte sie die Wahrheit über Pavel in Rekordzeit ans Licht befördert. Es gab keine irreparablen Schäden. Ihr Herz war nicht gebrochen, nur ein wenig angeknackst. Sie hatte nicht das Vaterland verraten, sondern nur einen Freund und Liebhaber verloren.
Noch einen.
Willkommen in der Wirklichkeit.
„Ich sehe nicht ein, warum ich dahin muss.“
Die Überreste der Bronson-Familie machten sich gerade fertig, um zu Joes Geburtstagsfeier nach Great Falls zu fahren – oder sollten sich zumindest fertig machen. Faith, die in ihrem Zimmer nach den passenden Schuhen suchte, blickte hoch und betrachtete ihre schmollende Tochter. „Du musst dahin, weil er dein Großvater ist.“
„Aber ich schreibe morgen eine Klausur, und ich muss lernen, sonst verpasst du mir wieder Hausarrest. Ich will über Thanksgiving frei sein.“
„Du hast doch heute Nachmittag gelernt.“
„Nicht genug.“
„Dass wir zu seinem Geburtstag fahren, weißt du schon lange. Wenn du nicht genug gelernt hast, dann hast du dir offenbar die Zeit falsch eingeteilt.“
„Und ich dachte, mit dir könnte man vernünftig reden!“
Faith kam es so vor, als wäre ihr ihre Vernunft vor einer Woche abhanden gekommen. Sie war traurig und einsam. Sie hatte das Gefühl, dass etwas in ihrem Leben fehlte. „Zieh dich um, Remy. Wir brechen in einer Viertelstunde auf, und das wirst du in Great Falls nicht tragen.“
„Warum nicht?“ Remys schwarzes T-Shirt endete fünf Zentimeter über ihrem Nabel, und die Capri-Hosen fingen fünf Zentimeter unter dem Nabel an. Fehlte nur noch ein Bauchnabel-Piercing. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis sie sich über solchen Schmuck streiten würden.
„Weil es November ist“, erwiderte Faith. „Weil die Außentemperaturen heute Nachmittag unter zehn Grad gefallen sind. Weil deine Großeltern nicht so viel von dir sehen wollen, wie du ihnen zeigen willst. Ich übrigens auch nicht.“
„Du bist echt ein hoffnungsloser Fall.“
Faith schlüpfte in einen Schuh, dann in den anderen. „Du sagst es. Aber trotzdem habe ich noch all meine Sinne beisammen. In diesem Aufzug tauchst du nicht in Great Falls auf, und wenn du dich jetzt nicht ruck, zuck umziehst, tauchst du die nächsten tausend Jahre nirgendwo mehr auf. Kapiert?“
Remy starrte sie an. Dieser Tonfall war so untypisch, dass auch Faith sich fragte, ob da eben ein böser Geist in sie gefahren war.
„Du zeterst nur noch rum.“ Remy hatte die Fassung wiedererlangt und verschwand im Flur. „Bla, bla, bla.“ Sie schlug ihre Tür zu.
Faith setzte sich und stützte den Kopf in die Hände. Sie war leicht reizbar und ungenießbar, aber ihre Kinder traf daran keine Schuld. Aber verdammt sollte sie sein, wenn sie sich entschuldigte!
Eine halbe Stunde später waren sie auf dem Weg nach Virginia. Remy hatte einen annehmbaren Rock und einen Pullover angezogen, und Alex trug ein blassblaues Sweatshirt und seine einzige Hose, die nicht aus Jeansstoff war. Faith’ Eltern würden zumindest an der Kleidung nichts auszusetzen haben, wenn sie auch alles andere schrecklich fanden, was Kinder eben so taten. Faith hoffte für Remy und Alex, dass die Geburtstagsfeier nicht allzu lange dauern würde.
„Sind wir die Einzigen, die kommen?“ wollte Alex wissen, als sie sich der Ausfahrt nach Great Falls näherten.
„Soweit ich informiert bin, ja. Wir essen zu Abend, dann gibt’s Kuchen und Eis, anschließend überreichen wir eurem Großvater die Geschenke und fahren zurück. Ihr müsst morgen zur Schule.“
„Gott sei Dank!“ seufzte Remy.
„Meinem Biologielehrer hat mein Vorschlag für den Wissenschaftswettbewerb gefallen.“
Fast wäre Alex’ Bemerkung untergegangen, aber die letzten Worte weckten Faith’ Interesse. „Für den Wissenschaftswettbewerb?“
„Hm-m. Weißt du nicht mehr, ich habe dir letzte Woche davon erzählt.“
Sie erinnerte sich an nichts. An kein einziges Wort, aber schließlich hatte sie sich letzte Woche vollkommen von der Welt abgekapselt. „Hilf mir auf die Sprünge.“
„Ich will ein Computerprogramm schreiben, womit man das Verhalten von Tieren berechnen kann. Lefty soll mir dabei als Studienobjekt dienen. Ich will ihn jeden Tag eine Viertelstunde beobachten, eine Woche lang. Jeden Tag zu einer anderen Zeit. Ich möchte zum Beispiel zählen, wie oft er sein Laufrad benutzt, wie oft er Wasser trinkt ...“
„Wie oft er kackt“, ergänzte Remy.
Alex ignorierte sie. „Dann trage ich die Daten in das Programm ein, das ich schreibe. Wenn ich es laufen lasse, wird das Programm berechnen, wie oft er diese Sachen an einem Tag tut, und in den einzelnen Zeiträumen.“
„Also bloß addieren und Mittelwerte bilden“, sagte Remy. „Das kann jeder im Kopf ausrechnen.“
„Nein, eben nicht. Denn das Ergebnis hängt von mehreren Variablen ab. Ich möchte so genau wie möglich herausfinden, ob Ratten tatsächlich immer dasselbe tun. Also, ich werd’s mit verschiedenen Reizen versuchen. Eine Tabelle für sein Verhalten, wenn das Licht an ist, eine für sein Verhalten im Dunkeln ...“
„Ha. Zu dumm, dass du im Dunkeln nichts siehst.“
„Remy!“ Faith drehte sich zu Alex um. „Das klingt ziemlich anspruchsvoll. Kannst du denn dafür gut genug programmieren?“
„Pavel kann mir ja helfen.“
Sie hatte den Kindern nichts von ihrem Streit mit Pavel erzählt, aber jetzt musste sie es tun. „Ich glaube nicht, dass er nochmal vorbeikommt“, sagte sie mit möglichst unbeschwerter Stimme. „Wir haben beschlossen, dass wir uns nicht mehr treffen.“
„Wieso denn das?“ fragte Alex mit vorwurfsvollem Unterton. „Das ist ungerecht. Er ist auch mein Freund.“
„Er hat dich sehr gern, und es liegt bestimmt nicht an dir. Das ist eine Sache zwischen Erwachsenen.“
„Wow, echter Zoff zwischen Liebenden“, meinte Remy sarkastisch.
„Der Tag, an dem du anfängst, dich wirklich am Kummer anderer Menschen zu ergötzen, wird der schwärzeste Tag deines Lebens sein, Remy. Lass es nicht so weit kommen.“ Faith hätte beinahe die Ausfahrt verpasst und geriet ins Schleudern, weil sie zu schnell in die Kurve gehen musste.
Remy kreischte. „Klasse, Mom, bring uns ruhig alle um!“
Faith wartete, bis sie den Wagen wieder unter Kontrolle und ihr Puls sich normalisiert hatte. Sie senkte die Stimme. „Alex, dein Vater kann dir beim Programmieren helfen. Er versteht nicht so viel davon wie Pavel, aber ich bin mir sicher, dass es für dein Projekt reicht.“
„Ja, ja.“ Alex wirkte verstimmt – nicht weil er David um Hilfe bitten sollte, sondern weil ihm Pavel fehlen würde. Die beiden waren Seelenverwandte.
„Das hört sich nach einem großartigen Projekt an“, sagte sie.
„Hm-m. Ich mache es mit Grafik und so.“ Sein Enthusiasmus war verflogen.
Sie wünschte, der Abend wäre schon vorüber.
In der vorigen Woche hatte Faith im Bürogebäude des Senats vorbeigeschaut, um sich andeutungsweise bei ihrem Vater zu entschuldigen. Er hatte sie versteinert angestarrt, aber genickt und sich anschließend nach der Gesundheit der Kinder erkundigt. Ihre Antwort war förmlich gewesen, doch der Riss im Familiengewebe schien geflickt zu sein.
Seitdem hatte Joes Sekretärin sie zweimal angerufen: ein Zeichen erneuerter Gunst. Einmal bot sie Faith eine Eintrittskarte für eine Gala im Kennedy Center an, und einmal wollte sie wissen, ob Faith bereit war, bei einer Weihnachtsfeier für Kinder aus dem Armenviertel von Richmond als Gastgeberin zu fungieren. Sie hatte auf die Eintrittskarte verzichtet, aber ihre Unterstützung bei der Weihnachtsfeier zugesagt, da die Planung schon so gut wie abgeschlossen war.
Während sie den Wagen parkte, Joes Geschenk aus dem Kofferraum holte und hinter den Kindern her ging, wappnete sie sich innerlich, um diesen Abend zu überstehen. Feierlichkeiten waren in der Huston-Familie nicht ganz ohne. Das Essen war vorzüglich und das Haus immer herrlich geschmückt, und wenn es Kuchen gab, stammte er immer von der besten Konditorei der Gegend.
Doch irgendwie wollte bei diesen Feiern nie Freude aufkommen. Faith hatte keine Ahnung gehabt, wie viel Spaß Geburtstage machen konnten, bis ihre Freundinnen auf dem College eine Überraschungsparty für sie veranstaltet hatten und sie entdecken musste, dass richtige Geburtstagsfeiern aus Gelächter, Völlerei und respektlosen Neckereien bestanden.
„Hier erinnerst du mich immer daran, mit geschlossenem Mund zu kauen.“ Alex zeigte auf die unterste Stufe, dann auf die nächste. „Und hier sagst du mir, dass ich mir den Kuchen nicht mit den Fingern auftun soll.“
„Eines Tages, wenn du Präsident bist und der König von England zum Abendessen kommt, wirst du mir dankbar sein.“
Marley öffnete die Tür und drückte die beiden Kinder zur Begrüßung kräftig an sich. Faith erkundigte sich vorsichtshalber schon einmal: „Wie ist die Witterung?“
„Der Senator ist kühl wie ein Gebirgsbach. Also Sturmwarnung.“
Also alles wie immer bei solchen Familientreffen, dachte Faith. „Was gibt es zu essen? Dein umwerfendes Jerk Chicken?“
Marley ging nach hinten. „Mageren Schinken, schwarze Bohnen, Maisbrot, gedünsteter Kohlrabi, Süßkartoffeln.“
„Hat er sich das dieses Jahr gewünscht? Stellt er jetzt doch wegen seines Herzinfarkts seine Ernährung um?“ Faith blieb mitten im Flur stehen, als in ihr ein Verdacht aufkeimte. „Marley, kreuzt etwa ein Reporter heute hier auf?“
„Fotograf. Kommt aus’m Süden, um Familienfotos zu schießen und herauszufinden, was dein Daddy über den traurigen Zustand dieses Landes zu sagen hat.“
„Wann ist das entschieden worden?“
„Vor ‘ner ganzen Weile, aber deiner Mama hat keiner Bescheid gegeben.“
Davon ging Faith aus, denn wenn Lydia informiert gewesen wäre, hätte sie bestimmt angerufen und nachdrücklich darum gebeten, die Kinder „vorzeigbar“ herauszuputzen.
„Wo ist meine Mutter?“
„In ihrem Zimmer, zieht sich um.“
Sie fragte nicht, wo ihr Vater steckte. Sie vermutete, dass er sich wie immer in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen hatte und nicht gestört werden durfte, bis das Essen auf dem Tisch war. „Da bin ich dann auch, wenn du mich suchst.“
Faith klopfte sachte an Lydias Tür, hörte, wie etwas scheppernd zu Boden fiel und wie ihre Mutter etwas Unverständliches murmelte, bevor sie „Herein!“ rief.
Faith steckte vorsichtig den Kopf durch die Tür und sondierte die Lage. „Was ist dir heruntergefallen?“
„Eine Lampe. Eine blöde, alberne Lampe. Ich habe sie mit dem Ellbogen erwischt.“
„Ist sie kaputt?“
„Ich glaube nicht.“ Lydia winkte sie hinein. „Seid ihr gerade angekommen?“
„Gerade rechtzeitig, um zu erfahren, dass ein Fotograf im Anmarsch ist, um unsere kleine Fete zu verewigen.“
„Du kennst deinen Vater. Er würde niemals auf unser Familienleben Rücksicht nehmen und sich solch eine Publicity entgehen lassen.“
Faith war überrascht. Ihre Eltern hatten einander nie vor Dritten kritisiert, und Zwistigkeiten waren stets in der Form weniger, wohlgesetzter Worte ausgetragen worden.
„Nur gut, dass ich die Kinder dazu verdonnert habe, was Ordentliches anzuziehen“, meinte sie.
„Du bist eben gut erzogen.“ Lydia legte einen Ohrring an. „Der Fotograf kommt aus Lynchburg, also wird er noch eine Weile brauchen. Es tut mir Leid, dass du das auf dich nehmen musst. Ich vermute, du hast eigentlich Besseres zu tun – und eine angenehmere Gesellschaft verdient.“
Ihre Mutter spielte auf Pavel an. Faith setzte sich aufs Bett. „Um ehrlich zu sein, nein.“
„Mr. Quinn ist auf Reisen?“
„Mutter, ich habe etwas über Pavel herausgefunden, das unsere Beziehung beendet hat.“
Während sie noch mit dem zweiten Ohrring kämpfte, drehte Lydia sich zu ihr um. „Faith, wenn du mir jetzt sagst, dass dieser Mann auch schwul ist, glaube ich dir kein Wort.“
Faith hatte lange darüber nachgedacht, was sie Lydia erzählen sollte. Es gab keinen handfesten Grund, ihr Pavels wahre Identität zu verraten, aber sie wollte sehen, wie ihre Mutter reagierte. Vielleicht war es sinnlos, ihre Mutter weiter mit der Sache zu behelligen, oder sogar sadistisch. Sie wusste es nicht, aber sie wollte jetzt endlich Antworten auf ihre vielen Fragen erhalten.
„Pavel Quinn hieß nicht immer Pavel Quinn“, tastete sie sich vor. „Quinn ist der Mädchenname seiner Mutter.“
„Willst du damit andeuten, dass er ein uneheliches Kind ist?“ Lydia stutzte. „Spielt das eine Rolle? Du versetzt mich in Erstaunen.“
„Das meine ich nicht, Mutter. Seine Eltern waren durchaus verheiratet. Sein Vater hieß Dominik Dubrov.“
Lydia erbleichte. Sie ließ die Hände sinken; der Ohrring war vergessen. „Dominiks Sohn?“
„Wusstest du, dass er ein Kind hatte?“
„Einen kleinen Jungen. Pasha.“
Das überraschte Faith – sowohl, dass Lydia es gewusst, als auch, dass sie sich auf Anhieb an den Namen erinnert hatte. Vielleicht hatten sich alle Details, die mit der Entführung zusammenhingen, tief in das Gedächtnis ihrer Mutter eingebrannt. Seltsam war es aber doch.
„Pasha war sein Kosename. Seine Mutter hat den Nachnamen ändern lassen, damit niemand darauf kam, wer sie waren.“
„Das hat funktioniert.“ Lydia konnte sich kaum auf dem Stuhl vor ihrer Frisierkommode halten. „Das muss ja ein Schock für dich gewesen sein.“
„Du wirkst noch schockierter.“
„Es ist nur ...“ Lydia blickte auf. „Ich ... Es ist so lange her, und trotzdem holt es mich wieder ein und versetzt mir einen Schlag.“
„Ich weiß, dass Dominik Dubrov öfter für dich gearbeitet hat, Mutter. Aber dass du dich an den Namen seines Sohnes erinnerst, bedeutet, dass ihr befreundet wart.“
„Du kennst doch das Haus, Faith, ein enges, kleines, mit Möbeln voll gestopftes Reihenhaus. Wir sind uns da ständig über den Weg gelaufen. Und wir haben oft über die Renovierungen geredet.“
Lydia nahm den zweiten Ohrring wieder zur Hand und versuchte ihn durch ihr Ohrloch zu bugsieren. Sie schaffte es aber nicht. „Dominik machte auf mich einen netten Eindruck. Ich habe ihn nach seiner Frau und seinem Kind gefragt, wie höfliche Auftraggeber das eben tun. Der Junge war ständig krank.“ Sie hielt inne. „Das sollte man nicht meinen, wenn man ihn heute sieht.“
„Dominik ist viel bei euch ein und aus gegangen, nicht? In einem Artikel stand, dass er einen Schlüssel hatte.“
„Natürlich besaß er einen Schlüssel. Er arbeitete ja meistens im Haus, wenn ich nicht da war. Wie hat Pavel reagiert, als du ihn damit konfrontiert hast?“
„Er meinte, er habe auf eine passende Gelegenheit gewartet, um es mir zu sagen. Dass er befürchtet habe, ich könnte ihm unterstellen, er habe sich nur mit mir angefreundet, um mir Informationen über die Entführung zu entlocken.“
„Was um Himmels willen möchte er denn herausfinden? Sein Vater ist doch nie verurteilt worden.“
„Vielleicht will er wissen, warum sich sein Vater erhängt hat.“
Lydia schwieg so lange, dass Faith aufstand und zur Tür ging. „Ich werde mal nach Remy und Alex schauen. Vielleicht gelingt es mir, sie zu beschäftigen, bis die Party anfängt.“
„Faith?“
Sie drehte sich um. „Ja?“
„Als Hope entführt worden ist, habe ich alle und jeden verdächtigt. Ich lag nachts wach und habe mir sämtliche Möglichkeiten ausgemalt. Dieser hat sie mitgenommen, um sich für eine von Joes Gemeinheiten zu rächen. Jene hat sie sich geholt, weil sie unfruchtbar war und unbedingt ein Kind wollte. Meine Fantasie ging mit mir durch und hat mich fast in den Wahnsinn getrieben. Aber es ist mir nie in den Sinn gekommen, Dominik zu verdächtigen. Er war ein sanfter Mann, durch und durch ehrenwert. Das sollte sein Sohn wissen.“
„Sein Sohn wird sich eine andere suchen müssen, die ihm das mitteilt.“
Am nächsten Morgen war Joe bereits zur Arbeit gefahren, als Lydia endlich sämtliches Festtagsporzellan verstaut hatte. Der Abend war – gemessen an den Erwartungen – gut verlaufen. Ihre Enkelkinder hatten sich am Riemen gerissen und artig für den Fotografen posiert, wie schon für all die Bilder während des letzten Wahlkampfes. Joe setzte sich gern als Familienmensch in Szene. Lydia hatte nichts dagegen, denn wenn Medienleute zugegen waren, benahm er sich freundlicher und schikanierte sie weniger.
Faith und die Kinder waren früh wieder aufgebrochen, und der Fotograf hatte um zehn das Haus verlassen. Sobald sie allein gewesen war, waren ihre Gedanken um Dominiks Sohn gekreist.
Sie hatte immer gewusst, dass Pasha irgendwo da draußen sein musste, aber nie daran gedacht, ihn zu suchen. Was hätte sie ihm auch sagen können? Ich war die Geliebte Ihres Vaters? Ich habe ihn mehr geliebt als alle anderen, einschließlich Ihrer Mutter? Ich will mich an ihn erinnern, deshalb starre ich Sie so an? Sie hatte dem kleinen Jungen nur das Beste gewünscht: dass er sein Asthma loswurde, dass er genug zu essen hatte, dass er die gute Ausbildung bekam, für die sein Vater so geschuftet hatte. Dass er als Mann seinem Vater ähneln würde.
Was hätte wohl Dominik von seinem Sohn gehalten? Pavel Quinn, ein Star der Computerbranche. Sohn eines Einwanderers, den man einer Kindesentführung bezichtigt hatte.
Typisch Amerika.
Jetzt begriff sie, was Dottie Lee gemeint hatte, als sie von den Kräften sprach, die sich nicht mehr kontrollieren ließen. Irgendwie war diese Frau hinter Pavels wahre Identität gekommen. Vielleicht hatte auch Lydia es unbewusst gespürt, denn er war ihr bei der ersten Begegnung irgendwie bekannt vorgekommen, ohne dass sie ihn richtig hatte einordnen können. Jetzt wusste sie, wieso. Pavel sah Dominik eigentlich nicht ähnlich. Und doch hatte er etwas von seinem Vater, es war etwas in seiner Haltung, an seinem Körperbau, dem Ausdruck seiner Augen.
„Was, schon fertig mit dem Porzellan?“ Marley kam ins Zimmer gefegt. „Ich hab ja keine Ahnung, warum Sie das nich mir überlassen. Hab ich mal was zerbrochen? Nie.“
„Das ist unser Hochzeitsgeschirr. Die Gemüseschüssel hat Mike Mansfield beigesteuert. Die Terrine kam aus dem Weißen Haus, mit besten Glückwünschen der Kennedys. Joe wollte sie gleich zurückschicken, aber das ging natürlich nicht. Er hasste Jack Kennedy wie ein Wachhund einen Einbrecher, aber ihm blieb nichts anderes übrig, als sich mit Kennedy zu arrangieren. Joe musste gehorchen. Aber wenn er gewusst hätte, dass er ungestraft davonkommt, hätte er ihn kräftig ins Bein gebissen, bis auf die Knochen.“
Sie blickte hoch und bemerkte, dass Marley sie mit großen Augen anstarrte. „Ja, manchmal rede selbst ich zu viel“, sagte Lydia.
„Nich allzu oft. Vielleicht gerade zum ersten Mal.“
„Vielleicht nicht zum letzten Mal. Vergiss es einfach.“ Lydia trat vom Schrank zurück und bewunderte die perfekte Anordnung aller Stücke. „Ich gehe ein Weilchen aus. Brauchen wir irgendwas? Ich fahre in den Ort.“
„Warum machen Sie nich irgendwo Halt und trinken ein schönes Tässchen Kaffee? Setzen sich einfach hin und entspannen sich. Sie sehen müde aus.“
„Vielleicht tu ich das.“
„Oder Sie rufen diese Massage-Frau an.“
Lydia hatte das Gefühl, nur noch aus Knoten zu bestehen. „Dir auch einen schönen Vormittag.“
Als sie im Auto saß, schlug sie doch nicht die Richtung nach Great Falls ein. Zwanzig Minuten später parkte sie in Reston und betrat eine kleine Bank. Sie fragte nach dem Manager und erklärte ihm, was sie wollte. Kurz darauf begleitete er sie zu den Schließfächern und zog sich dann zurück, damit sie ihr Fach ungestört öffnen konnte.
Joe wusste nichts von diesem Fach, ahnte aber wohl, dass sie irgendwo eins besaß. Dieses war auf ihren Mädchennamen registriert, und für den Fall ihres Todes hatte ihr Anwalt strikte Anweisungen, wie mit dem Inhalt zu verfahren war.
Sie konnte nicht recht sagen, was sie hergetrieben hatte. Selbst wenn Joe das Schließfach ausfindig machen sollte, war sie sich relativ sicher, dass ihm – trotz seiner herausragenden Position – niemand einen Schlüssel dafür beschaffen würde. Hier lagen die Originale, aber Kopien der Dokumente hatte sie auch an anderen Stellen versteckt. Joe wusste, dass sie nicht dumm war. Es gab nur einen Weg, sich ihres Schweigens zu versichern: Er musste sich an ihre alte Abmachung halten.
Aber manchmal – heute zum Beispiel – wollte sie sich einfach überzeugen, dass die Papiere noch da waren.
Lydia öffnete das Fach und guckte hinein, auf die wenigen Seiten. Wenige Seiten, die ihr Leben für immer verändert hatten und Joes Leben im Handumdrehen verändern könnten.
Sie berührte sie, hob das oberste Blatt an, um nachzuschauen, ob alles da war. Da nichts fehlte, klappte sie den Deckel des Kastens wieder zu. Sie umklammerte ihn und schloss die Augen, fast wie zum Gebet.
Aber Lydia fühlte sich nicht erlöst.