41. KAPITEL

Die Geschichte mit den versteckten Kameras war für die Presse ein gefundenes Fressen.

Nationale und lokale Nachrichtenreporter zerlegten die Geschichte der vergangenen Woche genüsslich in alle Einzelheiten. Die Zeitungsund Onlinejournalisten gruben ein paar besonders saftige Leckerbissen aus. Es fühlte sich an, als wenn die ganze Welt die Augen auf Nashville gerichtet hätte.

Taylor beendete gerade ihren Bericht über die Befragung von Michelle Harris, als sie einen Anruf erhielt. Sie sollte sich sofort im Office of Professional Accountability melden. Die Oompa verlangte nach ihr.

Taylor hatte keine Ahnung, was das Problem sein könnte. Sie wartete gute zehn Minuten, bevor sie schließlich das Licht in ihrem Büro löschte und sich auf den Weg zu den Büros der OPA im dritten Stock machte.

Die Tür von Delores Norris’ Büro stand offen.

„Kommen Sie herein“, befahl sie. Ihre Stimme enthielt nicht den geringsten Hauch von Freundlichkeit. Zum dritten Mal in einer Woche betrat Taylor dieses Büro und wünschte sich, dass sie woanders wäre. Gott, wie sie diese Frau hasste.

Delores sah aus wie ein zufriedener Schakal, der den vorherigen Tag und die ganze Nacht damit zugebracht hatte, sich an den Überresten einer Antilope gütlich zu tun. Offensichtlich aufgeregt kam sie ohne Vorrede gleich zum Thema.

„Wir haben ein Problem, Lieutenant.“

Taylor zog sich einen Stuhl heran, doch Delores hielt sie mit einem Schnalzen davon ab, sich zu setzen. Taylor schaute sie nur unter erhobenen Augenbrauen an und setzte sich ungerührt und mit verschränkten Armen hin. Die Oompa musste trotzdem noch zu ihr aufsehen. In ihren Augen blitzte es hämisch auf. Machthungrige Ziege, dachte Taylor.

„Und was für ein Problem wäre das?“

„Ich habe mir die Berichte von dem Harris-Selbstmord angesehen. Gemäß dem Bericht der Rettungssanitäter über Michelle Harris hätte eine Chance bestanden, sie zu retten. Stattdessen haben Sie und Ihr Freund die Verdächtige verhört und ihr erlaubt, weiter zu trinken. Stimmt das?“

„Lassen Sie mich überlegen. Ja, wir haben sie verhört. Das nennt man einen Fall lösen. Und zu der Frage, ob sie hätte überleben können oder nicht – ich denke, die kann nur Gott beantworten.“

„Also sind Sie jetzt von der Macht Gottes erfüllt?“

„Captain Norris, was wollen Sie? Ich bin müde. Die Fälle sind geschlossen. Und zwar zur Zufriedenheit aller Beteiligten, wenn ich das hinzufügen darf.“

„Ich habe eine Entscheidung zu treffen, Lieutenant. Da es nun schon wieder eine Beschwerde gegen Sie gibt, könnte ich Sie suspendieren, bis die Untersuchung Ihrer Aktivitäten abgeschlossen ist.“

„Sie machen Witze. Ich habe nichts falsch gemacht.“

„Das liegt ganz im Auge des Betrachters, Lieutenant. Sollen wir die letzte Woche noch einmal durchgehen? Einer Ihrer Detectives hat mit einem V-Mann Drogen genommen, und Sie haben es nicht gemeldet. Sie haben einen Verdächtigen mit Ihrer Waffe bedroht – einen Verdächtigen, der nicht offiziell verhört wurde. Ihren Kollegen zufolge haben Sie in einem Mordfall ermittelt, während sie suspendiert waren. Sie sind sogar so weit gegangen, die Mutter des Mordopfers zu kontaktieren. Sie haben die Regeln extrem locker ausgelegt. Und so arbeiten wir hier in der Metro nicht. Nicht mit mir.“

Wow. Die Oompa hatte ihre Hausaufgaben gemacht. Lincoln musste beim Debriefing zugegeben haben, mit ihr gesprochen zu haben. Wie die Oompa allerdings von dem Morgen mit den ganzen Interviews erfahren hatte, war Taylor ein Rätsel. Oh, vermutlich hatte der Cop, der zu ihrer Bewachung abgestellt gewesen war, geplaudert. Oder Mrs Harris. Verdammt.

„Ich weiß, wie einiges davon wirken muss. Detective Ross hat sich mir anvertraut. Unter normalen Umständen wäre ich damit sofort zu Captain Price gegangen, aber Detective Ross war im Einsatz, und ich hatte einen Mordfall, der kurz vor dem Durchbruch stand. Was den Verdächtigen angeht, den ich befragt habe: Ich hätte ihn wegen tätlichen Angriffs auf einen Polizisten festnehmen können. Er hat am Vorabend versucht, mich festzuhalten. Ich habe ihm einen Gefallen getan, indem ich ihn nicht verhaftet habe.“

„Aber Lieutenant, Sie machen die Regeln nicht. Das wurde Ihnen in der Ausbildung nicht beigebracht, oder? Ich habe in diesem Fall nur eine Option. Ich habe sie bereits mit dem Chief besprochen, und er stimmt zu, dass das im Moment der einzig gangbare Weg ist. Sie sind einmal zu viel über die Stränge geschlagen, und wir denken, eine vollständige psychologische Evaluation und weitere ständige Überwachung würde Ihrer Karriere derzeit nur zugutekommen.

Ihr Team wird einem anderen Vorgesetzten Bericht erstatten, während Sie unter Beobachtung stehen. Wir können nicht zulassen, dass unsere Teamleader sich am Rand der Legalität bewegen. Und es ist für alle Beteiligten offensichtlich, dass Sie dieser Ebene der Verantwortung nicht gewachsen sind. Ihrem Team muss etwas Disziplin eingetrichtert werden. Sie müssen lernen, dass Sie das Gesetz nicht in die eigenen Hände nehmen können. Und Sie müssen lernen, dass Sie diese Abteilung nicht leiten.“

Taylor ließ ihre Gefühle die Kontrolle übernehmen. Sie stand so heftig auf, dass der Stuhl kreischend über den Fußboden geschoben wurde. „Das können Sie nicht machen! Das ist vollkommen unfair. Ich habe nichts falsch gemacht. Mein Team hat nichts falsch gemacht. Sie sind nur sauer, weil Sie mich nicht feuern können.“

Die Oompa lächelte. „Das stimmt nicht. Ich bin mit dem Ausgang überhaupt nicht unzufrieden. Sie werden lernen, dass Sie Ihren Vorgesetzten gehorchen müssen. Und Ihre Vorgesetzten haben ihre Lektion ebenfalls gelernt. Captain Price wird in den vorzeitigen Ruhestand gehen.“

Taylors Gedanken rasten zurück zu dem Tag, an dem Price sie vor Delores verteidigt hatte. Sie borgte sich seine Worte. „Sie Miststück“, zischte sie. „Dafür werde ich Sie bis aufs Messer bekämpfen.“

„Zügeln Sie Ihr Temperament, meine Liebe. Wir wollen so etwas doch nicht in der Akte stehen haben, oder?“

„Es gibt bessere Möglichkeiten, es mir heimzuzahlen, Delores. Sie müssen es nicht an meinem Team auslassen.“

Die Oompa rutschte auf ihrem Stuhl herum. Ihre Augen verengten sich, ihr Gesicht spannte sich an. „Oh, ganz im Gegenteil. Ich denke, das ist der beste Weg, Sie zu treffen. Ich glaube Ihnen nicht, Miss Jackson. Ich denke, Sie haben David Martin getötet. Zumindest haben Sie alles so arrangiert, dass es Ihnen zupasskam. Vielleicht denken Sie nächstes Mal erst nach, bevor Sie sich zu einem Meineid verleiten lassen. Videos sind leicht zu manipulieren, haben Sie mir das nicht erzählt? Sie sollten vorsichtig sein, was Sie sagen, meine Liebe. Es kann Ihnen jederzeit wieder in den Hintern beißen. Wenn Videos einfach zu manipulieren sind, gilt das ja wohl für beide Richtungen, oder? Ihre Geschichte bezüglich Martins Tod hört sich nicht stimmig an. Und es sind auch zu viele Experten involviert. Wir werden die Videos einem unabhängigen Analysten vorlegen.“

„Ich habe nicht gelogen. Nicht ein Mal“, spuckte Taylor zwischen zusammengebissenen Zähnen aus. „Das wissen Sie.“

„Tu ich das? Nun, alles, was ich sagen kann, ist, die Zeit wird es zeigen. Um Ihrer glorreichen Woche noch die Krone aufzusetzen, ist ein Serienmörder, den Sie haben entkommen lassen, zurückgekehrt und hat in Ihrem Namen getötet. Nein, meine Liebe. Es ist höchste Zeit, dass es in dieser Abteilung ein paar Veränderungen gibt. Wir brauchen einen vollständigen Bericht aller Aktivitäten der Mordkommission im vergangenen Jahr. Lincoln Ross wird in den Nordsektor wechseln. Marcus Wade geht in den Süden. Und Sergeant Fitzpatrick wird ermutigt, gemeinsam mit Mitchell Price in den vorzeitigen Ruhestand zu gehen.“

Taylor fühlte, wie die Wut in ihr hochkochte. Diese Frau war mehr als machthungrig, sie weidete sich förmlich an Taylors Unglück. Delores reichte ihr die Papiere.

Sie können es ihnen mitteilen. Ich bin sicher, es wird weniger wehtun, wenn es von Ihnen kommt. Sie haben sich die ganze Zeit über so gut um alle gekümmert. Vielleicht lernen Sie jetzt, Ihre Neigung zu ungebührlichem Verhalten von ihnen fernzuhalten, damit Ihre Kollegen mit ihrem jeweiligen Leben weitermachen können. Montagmorgen melden Sie sich zur psychiatrischen Beurteilung.“

Taylor blieb stumm. Eine Million Gedanken rasten durch ihren Kopf. Der vorherrschende war: Lass dich nicht feuern. Du kannst dagegen ankämpfen. Ihr Vorgehen ist unberechtigt und vielleicht sogar illegal. Sieh nur zu, dass du nicht gefeuert wirst.

„Oh, und eines noch.“

Taylor zwang sich, ihren Blick wieder auf die Oompa zu richten. Die Schlampe besaß doch tatsächlich die Frechheit zu grinsen.

„Sie werden herabgestuft. Zwei Dienstgrade. Sie sind wieder ein Detective.“ Die Oompa legte ihre winzigen Hände auf den Tisch, beugte sich vor und zischte: „Sie haben verdammtes Glück, dass ich Sie nicht zurück auf die Straße schicke. Wenn Sie lernen würden, wieder wie ein Cop zu denken, würde Ihnen vielleicht auffallen, dass wir uns alle an die Gesetze zu halten haben.“ Taylor spürte, wir ihr Mund sich öffnete, und wusste, wenn sie nichts dagegen unternähme, würde sie etwas sagen, das sie niemals zurücknehmen könnte. Sie wusste nicht, ob das hier Wirklichkeit war, ob Delores Norris genug Macht hatte, das alles zu veranlassen. Zwei Dienstgrade heruntergestuft? Heilige Scheiße. Sie biss die Zähne hörbar zusammen, was die Oompa nur noch breiter lächeln ließ. Sie wusste, wie viel Kraft es Taylor kostete, den Mund zu halten und sich nicht um Kopf und Job zu reden, und sie hoffte, dass Taylors berühmte Selbstbeherrschung versagen würde.

Aber Taylor weigerte sich, die Xanthippe gewinnen zu lassen. Sie nahm ihre Papiere, drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Büro.

„Was wirst du tun?“

Baldwin war fuchsteufelswild. Er stapfte auf der Veranda hin und her, während Taylor versuchte, in Ruhe ein Bier zu trinken. Die Glühwürmchen führten einen wilden Tanz auf. Die sanfte Frühlingsluft glitzerte vor Feuchtigkeit, Anzeichen für einen nahenden Sturm. Das Gras schien in diesem Licht grüner, die Rinde der Bäume schwärzer. Ein Kaninchen saß am Rand des Rasens und knabberte an einer Stelle, die mit dem Rasenmäher nicht zu erreichen war, am hohen Gras.

„Du kannst das nicht zulassen. Was wirst du unternehmen?“, fragte er erneut.

Taylor schüttelte den Kopf. „Mir sind die Hände gebunden. Das Team ist aufgeteilt worden. Price hat man praktisch gefeuert. Fitz denkt ernsthaft über eine Frühpensionierung nach. Ich stehe auf verlorenem Posten, Baldwin.“ Sie stand auf und trat an die Brüstung. Sie fand keine Worte mehr. Tränen drängten sich in ihren Augen. Immer wenn sie frustriert war, kamen die Gefühle an die Oberfläche, und heute war dabei keine Ausnahme. Sie atmete ein paar Mal tief durch und versuchte, sich zu konzentrieren.

Sie deutete in die Luft. „Weißt du, dass diese Spinne diese Woche jeden Abend herausgekommen ist und versucht hat, sich ein Haus zu bauen? Sie ist wie eine kleine Camperin, die versucht, ihr Zelt aufzubauen, um sich vor dem wütenden Sturm in Sicherheit zu bringen. Sie läuft an den Rändern ihres Netzes herum, ganz versessen darauf, es fertigzustellen. Dann wartet und wartet und wartet sie, dass eine Bremse oder Motte oder ein Glühwürmchen sich in den klebrigen Fäden verfängt. All die Arbeit, das Sitzen und Warten, in der Hoffnung auf eine Mahlzeit.“

Sie nahm einen abgebrochenen Ast und riss damit das Spinnennetz entzwei. Die Spinne huschte davon. „All die Arbeit“, wiederholte sie.

Baldwin kam zu ihr, nahm den Ast und legte ihn auf die Brüstung. Er drehte Taylor an den Schultern zu sich herum, sodass sie ihn anschauen musste. Seine Stimme war ganz weich. „Ernsthaft, Baby. Was wirst du unternehmen?“

Taylor sah in seine grünen Augen und fühlte, wie die Verzweiflung sich in ihrem Magen breitmachte. Sie drehte sich weg, schaute in den Wald. Dann nahm sie einen tiefen Atemzug und straffte die Schultern.

„Baldwin, es gibt nur eins, was ich tun kann. Ich muss kämpfen.“

–ENDE–