19. KAPITEL

Nachdem ihre Jungs das Büro verlassen hatten, überwältigte Taylor der Drang, durchs Büro zu tigern. Dann musste sie sich zurückhalten, nicht auf der Stelle Baldwin anzurufen. Obwohl sie nur zu gerne seine tröstliche Stimme gehört hätte, wollte sie diese Unterhaltung jetzt lieber nicht mit ihm führen. Hallo mein Schatz, wie war dein Tag? Übrigens, im Internet es gibt ein paar Videos von mir beim Sex mit meinem alten Partner. Nein, sie glaubte nicht, dass Baldwin darüber allzu erfreut sein würde. Sie hatte ihm nie irgendwelche Einzelheiten über die Schießerei mit David Martin erzählt, geschweige denn, dass sie miteinander geschlafen hatten. Großartig. Das würde ein einziges Chaos werden. Verdammt! Wie typisch von David, sie sogar noch aus dem Grab heraus zu demütigen. Elender Mistkerl.

Denk nach, befahl sie sich. Sie schaute sich das Video noch einmal an. Wie hatte David das gemacht?

David Martin war eine uncharakteristische Reihe von Fehlern gewesen. Sie hatten zusammengearbeitet, das war Fehler Nummer eins. Er war ein korrupter Polizist, was Taylor erst erfahren hatte, als sie schon mitten in einer Affäre mit ihm steckte. Er verströmte den Charme der Südstaatler, gab ihr Spitznamen, die sie nervten, wie Zuckerhöschen und Sassafras. Er war nicht sonderlich gebildet, ein Exsoldat, wie so viele bei der Polizei. Er rief seine Mutter sonntags nicht an, trank zu viel und entspannte sich, wie sie später erfuhr, hin und wieder mit verbotenen Drogen. Sie fragte sich zum tausendsten Mal, wieso sie überhaupt je mit ihm geschlafen hatte. Sogar Sam hatte sie kopfschüttelnd angeschaut, als Taylor ihr gegenüber die Beziehung zugegeben hatte.

Sie waren vom ersten Moment an zum Scheitern verurteilt gewesen. Was, wie sie inzwischen wusste, mit ein Grund dafür war, warum sie sich überhaupt auf die Affäre eingelassen hatte. Sie hatte keinen Ehemann gewollt. Zu der Zeit wollte sie einfach nur ein wenig Spaß haben. David war zweifelsohne attraktiv. Und von Anfang hatte die Chemie zwischen ihnen gestimmt. Ihre Affäre hatte nach einer anstrengenden Nacht begonnen, in der auf sie geschossen worden war und sie beinahe getroffen worden wären. Sie hatten sich in einen improvisierten Bunker zurückgezogen. Hinter einer Gruppe von Metallmülltonnen hatten sie sich gegen die Wand gedrückt, während die Mitglieder einer Straßengang, die sie verfolgt hatten, auf sie schossen. Sie waren gerade so eben mit dem Leben davongekommen.

Dieses erste Aufeinandertreffen erfolgte in völligem Adrenalinrausch. Der Drang, irgendetwas zu fühlen, was auch immer, nachdem man dem Tod ins Gesicht geschaut hatte. Das war unter Polizeibeamten nicht unüblich.

Dann hatte David angefangen, sie zu verführen. Kitschige Anflüge von Romantik – Blumen, Pralinen, Abendessen in feinen Restaurants, das ganze Programm. Und sie hatte es geschehen lassen, weil sie gelangweilt gewesen war. Als sie bemerkte, dass er anfing, Gefühle für sie zu entwickeln, hatte sie die Beziehung sofort abgebrochen. Kurz danach war sie zum Sergeant befördert worden und beinahe genauso schnell danach zum Lieutenant. David blieb Detective. Seine Verbitterung wuchs von Tag zu Tag.

Als Taylor Davids Rolle in einer höchst illegalen Aktion aufdeckte und herausfand, dass er gemeinsam mit einigen Kollegen zusammenarbeitete, die Methamphetamine in die Stadt schleusten, war sie bereit gewesen, ihn zu stellen. David wusste davon und war zu ihrem Haus gekommen, um sie damit zu konfrontieren. Taylor war gezwungen gewesen, ihn zu erschießen, um ihr eigenes Leben zu retten.

Und jetzt hatte er einen weiteren Weg gefunden, ihr das Leben schwer zu machen. Er war seit über einem Jahr tot. Wie hatte er es geschafft, die Videos von ihnen beim Sex auf die Website zu laden?

Sie drückte auf Play. Dieses Mal drehte sie die Lautstärke ein Stück hoch. Die Lautsprecher blieben stumm. Sie drückte auf Stopp und dachte einen Augenblick nach. Sie musste das Band nicht nur sehen, sondern auch hören. Am sichersten wäre es, das irgendwo außerhalb zu tun, aber sie konnte ihr Büro im Moment nicht verlassen. Aber sie hatte ihren iPod. Sie öffnete die oberste Schreibtischschublade, zog die Kopfhörer aus ihrem Nano und verband sie mit Lincolns Laptop. Dann stand sie auf und tat etwas, das sie noch nie zuvor getan hatte: Sie schloss ihre Bürotür ab.

In der Gewissheit, jetzt vor Störungen sicher zu sein, kehrte sie zu ihrem Stuhl zurück, setzte die Kopfhörer auf und drückte wieder auf Play.

Eine Stunde später war sie erschöpft, verlegen und wütend. Sie hatte alle neun Videos angesehen, die es von ihr und David Martin beim Sex gab. Allein der Gedanke, dass sich andere Leute diese intimen Filme anschauten, ekelte sie. Es war ein Horror, darüber nachzudenken. Warum sich jemand freiwillig beim Sex filmen ließ, würde ihr immer ein Rätsel bleiben.

Sie schloss den Laptop. So viel hatte sie aus den Filmen in Erfahrung bringen können: Es gab zwei Kameras in ihrer Hütte. Eine war nur auf ihr Bett gerichtet. Die andere zeigte von ihrem Schlafzimmer in das Loft, in dem immer ihr Billardtisch gestanden hatte. Diese Kamera war nicht oft benutzt worden; sie zeigte nur, wenn sie Billard spielten und danach ins Schlafzimmer wechselten. Vom Aufnahmewinkel her vermutete sie, dass die Kameras in den Lüftungsschlitzen verborgen waren.

Dieser Scheißkerl. Sie überlegte, wann er die Gelegenheit gehabt hatte, die Kameras zu installieren. Sie hatte ihn nie allein in ihrem Haus gelassen, und er war auch nur selten über Nacht geblieben. Mit ihm Sex zu haben war eine Sache, tatsächlich mit ihm zu schlafen eine ganze andere.

Während sie schäumte und kochte und sich den Kopf zerbrach, kam Taylor nicht auf die Idee, dass David nicht alleine für die Videos verantwortlich gewesen war. Und das war ein grober Fehler.

„Ich habe nichts gemacht. Ich weiß nicht, wie Sie auf die Idee kommen, mich zu verhaften. Dumme Kuh!“ Tony Gorman war in einem Verhörraum eingesperrt und wütete vor sich hin. Er war allein, brüllte ab und zu in Richtung der Kamera, die an der Wand angebracht war. Taylor, Marcus und Lincoln waren im Druckerraum und beobachteten ihn auf dem Monitor. Dabei brachten die Männer Taylor auf den neuesten Stand. Gorman schrie weiter, aber Taylor schaltete einfach das Mikrofon aus. Stille schlich sich in den engen Raum.

„Wie willst du das handhaben, LT? Sollen wir zuerst mit ihm sprechen? Er ist ziemlich streitsüchtig, seitdem wir ihn hergebracht haben.“ Lincoln sehnte sich nahezu nach einem handfesten Streit. Die Woche, die er an dem Terrence-Norton-Fall gearbeitet hatte, steckte ihm noch immer in den Knochen. Er hatte noch nicht wieder zu seiner gemäßigten Haltung zurückgefunden, sodass die starken Gefühle, die er normalerweise gut versteckte, sehr nah unter der Oberfläche lagen.

„Ich will allein mit ihm sprechen.“

„Hältst du das wirklich für eine gute Idee, Taylor?“ Marcus tippte auf den Monitor. „Du weißt nicht, wozu er vielleicht in der Lage ist.“ Taylor starrte den Fremden an. „Ich will mit ihm allein sprechen.“ Ihr Tonfall duldete keine Widerrede. Sie fühlte, wie ihre Kollegen ein wenig vor ihr zurückwichen in dem Versuch, ihren Freiraum zu respektieren. Sie drehte sich um und schaute sie an.

„Versteht das nicht falsch. Ich möchte, dass ihr zuhört, wenn ich mit ihm spreche. Achtet darauf, was er nicht sagt. Denn der Kerl wird nicht anfangen zu singen, nur weil ich ihn höflich darum bitte. Könnt ihr das für mich tun?“

„Natürlich“, erwiderte Marcus. Lincoln nickte ebenfalls zustimmend.

„Gut. Dann mal los.“ Taylor verließ den Raum und betrat das Verhörzimmer. Mist, sie musste das hier gelöst kriegen, und zwar schnell. Die Medien konnten jederzeit Wind von Todd Wolffs Verhaftung bekommen. Das Letzte, was sie brauchte, war, dass dieser Idiot sie von einer Morduntersuchung abhielt. Aber sie musste die Wahrheit wissen.

Als sie die Tür öffnete, brüllte Gorman sie förmlich an. „Wieso hat das verdammt noch mal so lange gedauert?“

Sie ignorierte ihn und setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber. Sie waren nur durch den schmalen Tisch voneinander getrennt.

„Ich habe gefragt, wieso das so verfickt lange gedauert hat? Und nehmen Sie mir die Handschellen ab. Ich habe nichts Falsches getan. Ich weiß nicht mal, warum ich hier bin. Ich will mit meinem Anwalt sprechen. Sofort.“

„Immer mit der Ruhe, Freundchen. Sie sind hier, um mir ein paar Fragen zu beantworten. Wenn Sie aufhören, sich hier so aufzuplustern, und einfach mal den Mund halten, sind Sie in null Komma nix wieder hier raus. Vorausgesetzt, Sie haben nichts Illegales getan.“

Gormans rundes Gesicht war von Schweißperlen bedeckt. In seinen eng beieinanderliegenden Augen blitzte Verachtung auf – und etwas Dunkleres. Er hatte das typische Aussehen eines Mannes, der andere gerne tyrannisierte: kleine Augen, Knollennase, rötliche Haut und dünne Lippen. Steck ihn in ein Muskelshirt, und er sieht aus wie jedes andere Stück Gesocks, setz ihm eine Baseballkappe auf, und er sieht aus wie ein Exmitglied einer Studentenverbindung, das ein wenig aus dem Leim gegangen ist. Sie fragte sich oft, welche Gene dieses gleiche Aussehen wieder und wieder produzierten. Wenn ein defektes Chromosom für die mongoloiden Gesichtszüge eines Kindes mit Downsyndrom verantwortlich war, konnte vielleicht eine andere genetische Veränderung dieses typische Schlägeraussehen verursachen. Taylor sah die Grausamkeit in seinen Zügen. Sie beobachtete, wie er innerlich mit sich diskutierte, und nickte, als er ihr einen angriffslustigen Blick schenkte.

„Gut. Dann können wir jetzt Freunde sein.“ Sie senkte die Stimme, um das raue Timbre noch stärker zu betonen, und beugte sich auf ihrem Stuhl vor. „Sagen Sie mir, Mr Gorman, gefällt es Ihnen, anderen Menschen beim Sex zuzuschauen?“

Er antwortete nicht, doch seine Augen glänzten. Er leckte sich über seine schmalen Lippen, und Taylor fühlte, wie ihr die Galle hochkam. Igitt. Dieser Kerl war noch unappetitlicher, als sie angenommen hatte. Kein Wunder, dass er zuschauen musste.

„Ich nehme das als Ja. Ich würde es sehr zu schätzen wissen, wenn Sie mir einige Informationen über diesen Internetklub geben würden, in dem Sie Mitglied sind. Selectnet.com heißt er, glaube ich?“

Tony Gorman war ein ausgezeichneter Lügner. Er war ein Meisterlügner. Er sah Taylor direkt in die Augen und erzählte ihr alles über Selectnet.com. Kein einziges Mal wandte er den Blick ab oder blinzelte auch nur. Die Haut um seine Augen spannte sich nicht an, er bewegte weder seine Hände noch seine Pupillen. Allein für seine Körpersprache hätte er einen Oscar verdient. Er redete und redete. Was er nicht wusste, war, dass sich seine Pupillen die ganze Zeit über, während er sich seine Lügen ausdachte, stetig weiteten und zusammenzogen. Aber alles in allem musste sie ihm Respekt zollen. Er war ein sehr kreativer Lügner.

Taylor war jedoch noch besser. Männer wie ihn kannte sie schon ihr ganzes Leben lang. Männer, die fanden, der Platz einer Frau wäre in der Küche, wo sie Gourmetmahlzeiten kochte, ihm abends den Martini mixte und generell sicherstellte, dass es ihrem Mann gut ging.

Sie ließ ihn reden. Sie hörte nicht zu, was er sagte. Sie fragte sich jedoch, warum er sich bemüßigt fühlte, sich eine so fantastische Geschichte auszudenken, um seine wahre Absicht zu verschleiern. Nachdem er fünfzehn Minuten seinen Schwachsinn verbreitet hatte, gähnte Taylor und streckte sich.

„Nun, das ist wirklich faszinierend, Mr Gorman.“

„Ich habe Ihnen alles erzählt, was ich weiß.“

„Und das war alles Blödsinn. Wenn Sie gerne die Handschellen los wären und diesen Raum verlassen wollen, schlage ich vor, Sie fangen an, mir die Wahrheit über Selectnet.com zu erzählen.“

Er verhaspelte sich sofort in Dementis, und sie ließ ihn. Taylor betrachtete ihre Nägel und nickte. Dann versuchte sie es erneut. Sie zögerte nur einen kleinen Moment. Verzweifelte Zeiten verlangen verzweifelte Maßnahmen. Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und legte den Arm lässig über die Lehne.

„Erzählen Sie mir jetzt die Wahrheit, Mr Gorman. Ihnen ist sicher aufgefallen, dass Sie nicht verhaftet wurden. Sie sind nur zu einer informellen Befragung hierher gebracht worden. Niemand weiß, dass Sie hier sind. Ich habe die Kameras nicht eingeschaltet. Ich kann tun, was immer ich will, und niemand wird je davon erfahren. Während sie sprach, holte sie mit ihrer rechten Hand ihre Glock aus dem Holster und legte sie zwischen ihnen auf den Tisch. Gormans Augen fielen ihm beinahe aus dem Kopf.

„Drohen Sie mir?“

„Nein. Ich erkläre Ihnen nur Ihre Optionen. Sie können jetzt mit mir reden. Oder wir beide schleichen uns aus der Hintertür, ohne dass irgendjemand weiß, wo Sie sind.“ Sie fuhr spielerisch mit ihren Fingern über den Lauf der Waffe. „Es wäre mir gar nicht lieb, wenn Ihnen etwas zustoßen würde, wissen Sie? Wir müssten uns dann an die Nachrichten wenden und ihnen Ihre Rolle in der heutigen kleinen Scharade erklären. Gestehen, dass wir Sie heute verhaftet haben wegen … hm … Kinderpornografie klingt gut.“ Sie hob eine Augenbraue und sah ihn lächelnd an.

„Ich wette, wir würden sogar etwas in der Richtung finden. Sie sehen aus wie jemand, der hin und wieder mal neugierig wird. Kann ich mich Ihnen langsam verständlich machen, Mr Gorman? Ich halte hier die Zügel in der Hand. Entweder Sie fangen jetzt an, mir die Wahrheit über den kleinen Klub zu erzählen, zu dem Sie gehören, oder es kann heute Nachmittag für Sie noch sehr unangenehm werden. Verstanden?“

Er verstand. Wie immer bei solchen Typen brach Gorman ein, sobald er sich mit echter Stärke konfrontiert sah. Die Geschichte, die er Taylor jetzt erzählte, ließ in ihrem Magen erneut die Wut hochsteigen.