16. KAPITEL

Taylor las den Zettel, den Marcus ihr gegeben hatte, zweimal. Dabei biss sie sich auf die Unterlippe. Verdammt. Marcus hatte recht. Sie mussten Todd Wolff verhaften. Verdächtige logen wegen der dümmsten Kleinigkeiten, und Wolff hatte einige dicke Lügen erzählt. Aber nicht genügend, um sie ohne einen Zweifel glauben zu lassen, dass er Corinne tatsächlich getötet hatte. Doch das hier waren Beweise, die sie für einen Antrag auf Verhaftung nutzen konnte.

„Wer hat das gefunden?“, fragte sie Marcus.

„Tim Davis. Er hat uns den Report gerade eben gefaxt. Ich habe ihn angerufen, um seinen Fund noch einmal zu bestätigen. Im Moment ist er im Haus der Wolffs und kämmt es noch einmal gründlich durch. Er sagt, er ruft sofort an, wenn noch was auftauchen sollte.

Taylor las den Bericht ein drittes Mal und konzentrierte sich dabei auf den Absatz, den Marcus pink markiert hatte:

An zwei Stellen im Wagen des Mannes der Verstorbenen wurden Blutspuren gefunden. Die erste Ansammlung von Blutstropfen mit einem Durchmesser von 20 mm befand sich auf dem Schaltknüppel eines 2006er Lincoln Navigator, Farbe schwarz, zugelassen auf einen Theodore Wolff. Die zweite Ansammlung mit einem Durchmesser von 5 mm war auf der inneren linken Ecke des eingebauten silberfarbenen Handwerkskastens im Heck des Navigators. Beide Proben eingesammelt und für einen DNA-Test eingeschickt; erste Tests zeigen, dass es sich um die Blutgruppe A positiv handelt, was zu der Blutgruppe der verstorbenen Corinne Wolff passt.

Na, wenn das mal nicht passend war. Corinnes Blut in dem Wagen ihres Mannes. Sie würden noch weitere Tests durchführen müssen, um sicherzugehen, dass es sich wirklich um Corinnes Blut handelte. Es bestand auch immer noch die Möglichkeit, dass das Blut alt war und mit dem Mord nichts zu tun hatte. Aber wäre das nicht ein zu großer Zufall? Oberflächlich betrachtet reichte das aus, um einen Haftbefehl zu beantragen und eine Grand Jury davon zu überzeugen, Anklage gegen Todd zu erheben. Der erste Schritt einer soliden Ermittlung, die Sammlung von physischen Beweisen, war oft so hilfreich, wenn es darum ging, den Nebel zu lüften, den die Lügen der Verdächtigen überall verteilten.

„Was willst du jetzt tun?“ Marcus lehnte sich in dem Schreibtischstuhl zurück. Er sah gut aus hinter ihrem Schreibtisch, das musste sie ihm lassen.

Taylor trommelte mit den Fingern auf den zerfaserten Rand der hölzernen Tischplatte. Diese Seite ihres Schreibtischs sah sie nur noch selten, auch wenn sie viele Jahre in genau diesem Stuhl verbracht und ihren Vorgesetzten berichtet hatte. An zwei Stellen war das Holz brüchig. Die neueste Macke kam vermutlich von einem Stuhl, der am Tisch entlanggezogen worden war. Sie berührte die Risse. Sie mochte die Veränderung. Diese alte Perspektive vermittelte ihr das Gefühl, wieder draußen auf der Straße zu ermitteln.

„Nun, Todd ist bereits hier. Fitz bereitet gerade alles für einen DNA-Test vor. Wir werden das Labor bitten müssen, einen schnellen Blutgruppentest zu machen, um sicherzustellen, dass Todd nicht auch A positiv ist. Dann können wir den Haftbefehl beantragen. Sobald wir die Blutgruppe bestimmt haben, wird Julia Page eine Sitzung der Grand Jury einberufen. Ich muss noch ein paar Recherchen bezüglich der Medikamentenfunde in Corinnes Blut anstellen. Hattest du gesagt, dass Tim noch im Haus ist?“

„Ja. Er wollte es noch einmal von oben bis unten genau untersuchen. Er will sichergehen, nichts übersehen zu haben, bevor wir den Tatort wieder freigeben.“

Das Telefon auf Taylors Tisch klingelte, und Marcus las ihr den angezeigten Anrufer vor.

„Wenn man vom Teufel spricht. Das ist Tim Davis. Hier.“ Er nahm den Hörer ab und reichte ihn Taylor.

„Lieutenant Jackson“, sagte sie.

„Hi, Lieutenant. Tim Davis hier. Ich bin am Tatort des Wolff-Mordes und habe hier etwas, das Sie unbedingt sehen müssen.“

„Marcus hat mir gerade Ihren Bericht über die biologischen Beweise gegeben, die Sie im Wagen des Ehemanns gefunden haben. Gibt es davon im Haus noch mehr, das wir übersehen haben?“

„Oh, nein, Ma’am. Ich habe jedes Fitzelchen an biologischen Beweisen eingesammelt, das zu diesem Fall gehört. Ich bin mehrere Male durch das ganze Haus gegangen, wo es angebracht war, sogar auf Händen und Knien. Ich habe alles. Das hier ist etwas … Nun, Sie müssen es mit eigenen Augen sehen, Ma’am. Es ist im Keller.“

Tim war niemand, der so etwas leichtfertig dahersagen würde. Wenn er meinte, dass Taylor zu ihm an den Tatort kommen sollte, dann würde sie das tun.

„Ich bin auf dem Weg, Tim.“ Sie gab Marcus den Hörer zurück, stand auf und streckte sich.

„Okay, Marcus, tu mir einen Gefallen. Ruf bitte Dr. Katie Walberg an, während ich zum Haus der Wolffs fahre. Versuch, heute noch einen Termin für mich zu machen, damit ich mit ihr sprechen kann. Ich melde mich später bei dir.“

Taylor schnappte sich einen Impala, eines der Zivilfahrzeuge, die ihrer Abteilung zur Verfügung standen, und machte sich auf den Weg nach West Nashville. Sie überquerte die Woodland Street Bridge und nahm dann den Highway, weil das schneller ging. Während sie fuhr, verschwand die Sonne, und dicke, dunkle Wolken brauten sich am Himmel zusammen.

Der Berufsverkehr hatte noch nicht eingesetzt, daher kam sie gut voran. Ihr Handy klingelte. Marcus.

„Ich hab ein paar Sachen. Zuerst einmal, ich habe mit Dr. Walberg gesprochen. Sie konnte nicht in der Leitung bleiben, weil sie gerade mitten in einer Geburt steckt. Sie hat bestätigt, dass Corinne Wolff ihre Patientin war, kann die Patientenakte jedoch ohne richterliche Anordnung nicht freigeben. Sie war sehr nett, aber auch darauf bedacht, sich abzusichern. Ich habe den entsprechenden Antrag schon gestellt. Sie sagte, dass sie sich nach der Geburt wieder melden würde. Da sie weiß, dass die Papiere in Arbeit sind, wird sie nur zu gerne mit dir reden.“

„Okay. Ich fahre bei ihrer Praxis vorbei, sobald ich hier fertig bin.“

„Weißt du, LT, ich kann das doch für dich tun. Es gibt keinen Grund, warum du die ganze Laufarbeit in diesem Fall übernehmen solltest. Deshalb hat man dir den Cheftitel gegeben, weißt du.“

Sie grinste. Marcus wusste einfach immer das Richtige zu sagen. „Ich weiß, dass du das kannst, Marcus, und ich weiß dein Angebot zu schätzen. Es fühlt sich allerdings gut an, selbst was zu tun, verstehst du?“

„Ich weiß. Der Aufstieg ins Management hat auch seine Nachteile. Mach dir keine Sorgen, LT. Ich kümmere mich um den Gerichtsbeschluss und sag Bescheid, dass du vorbeikommen wirst. Danach werde ich mich wieder dem mysteriösen Mann von gestern Abend widmen. Bisher habe ich noch nichts gefunden, aber ich bin ja auch noch nicht lange dran. Dieser Wolff-Kram hat den ganzen Morgen durcheinandergebracht. Ich lass dich wissen, sobald ich was habe. Jetzt aber noch mal kurz was anderes. Wegen des Kaninchens.“

„Ach ja. Tim kann sich später darum kümmern.“

„Er hat Keri McGee geschickt. Sie hat mich gerade angerufen. Da ist kein Kaninchen.“

„Natürlich ist es da. Ich hab es doch gesehen. Ich habe einen Blumentopf darüber gestülpt. War sie auch beim richtigen Haus?“

„Ja, war sie. Der Blumentopf steht an der Seite deines Hauses, und das Kaninchen war weg. Vielleicht hat ein hilfsbereiter Nachbar es entsorgt?“

Taylor dachte darüber nach. Das war eine logische Erklärung. Wieso standen ihr dann die Nackenhaare zu Berge?

„Vermutlich hast du recht, Marcus. So wird es gewesen sein. Ich erkundige mich, wenn ich wieder zu Hause bin. Die Leute nebenan haben Hunde, vielleicht haben die einen Aufstand gemacht, weil sie den toten Hasen gerochen haben. Sag Keri Danke, dass sie es versucht hat.“

Sie beendeten das Gespräch. Taylor nahm die Ausfahrt zur Charlotte Avenue und fuhr durch Hillwood hindurch in das Viertel der Wolffs. Sie bog in die Sackgasse ein und parkte hinter Tims Wagen von der Metro-Kriminaltechnik.

Tim saß unbeweglich in der Hollywoodschaukel auf der vorderen Veranda. Sein Rücken war so gerade, dass er die Rückenlehne nicht berührte. Sobald er Taylor erblickte, sprang er auf die Füße.

„Hey“, sagte sie.

„Selber hey. Tut mir leid, dass Sie meinetwegen noch einmal hier herauskommen mussten, aber Sie müssen das persönlich sehen, bevor ich anfange, es abzubauen.“

„Was abzubauen, Tim? Jetzt, wo ich hier bin, können Sie mich sicher aufklären.“

Er errötete und wandte den Blick ab. Oh guter Gott. Ein altmodischer Südstaatler, der Frauen respektierte. Zu gerne hätte sie ihn damit aufgezogen, doch ihre Neugier auf seinen Fund gewann die Oberhand. „Okay. Zeigen Sie es mir einfach, wenn es Sie zu verlegen macht, darüber zu sprechen.“

Er nickte kurz, wirbelte dann herum und ging ins Haus. Taylor folgte ihm. Er ging direkt zu der Treppe, die in den Keller führte, und stieg sie wortlos hinab. Die Luft roch kühl und staubig, ähnlich wie am Tag zuvor. Als sie unten angekommen waren, sah Taylor, dass Tim sein Licht aufgebaut hatte. Der Fünfhundert-Watt-Strahler war auf eine Stelle an der Wand gerichtet.

Tim setzte zu einer Erklärung an. Die Worte schossen aus seinem Mund wie Maschinengewehrfeuer. „Auf der Suche nach weiteren Hinweisen habe ich ein paar der Kartons verschoben. Einer davon ist von dem Stapel heruntergefallen.“ Er zeigte auf einen Karton, dessen Inhalt über den Boden verstreut lag. Durchsichtige Plastikhüllen, wie man sie für CDs brauchte, und silberne Scheiben, in denen sich das Licht fing.

„Haben sie CDs gebrannt? Lassen Sie mich raten, es gibt auch Kartons mit Zigaretten. Die Wolffs arbeiten für al-Qaida.“ Taylor schenkte Tim ein Lächeln, um ihn wissen zu lassen, dass sie nur Witze machte. Der arme Kerl war immer so ernst.

„Es ist schlimmer, LT.“ Tim ging um den umgekippten Karton herum zur rückwärtigen Wand; der einzigen Wand, die gestrichen war. Er klopfte gegen den Zement. Anstatt des erwarteten dumpfen Klopfens ertönte ein scharfes Klirren. Mit erhobener Augenbraue stemmte er sich dagegen. Die gesamte Wand schwang zur Seite und gab den Blick frei auf ein dunkles Loch.

„Ein geheimes Zimmer. Cool.“

Tim zuckte nur mit den Achseln und verschwand hinter der Wand. Taylor folgte ihm. Die Luft in dem Zimmer war anders, ohne Moder und Feuchtigkeit. Es roch nach Chlorreiniger.

Tim schaltete das Licht an, und Taylor hielt überrascht den Atem an. Auf den ersten Blick sah es hier aus wie in einer mittelalterlichen Folterkammer. Auf den zweiten Blick sah sie, dass es sich um ein Filmstudio handelte. Tim sagte nichts, sondern gab ihr einen Augenblick Zeit, das alles zu verarbeiten. In der Mitte stand ein Doppelbett, das mit weißen Laken und einer weißen Daunendecke bezogen war. Dicke weiche Kissen lagen am Kopfende. An der rechten Seite lehnte eine Holzplatte, die von oben bis unten mit verschiedenen … nun, das einzige Worte, was Taylor dazu einfiel, war Accessoires, behängt war. Sexspielzeuge, Peitschen, eine Domina-Kapuze und ein Latexbustier; Knebel, Dildos, Vibratoren. Ein kleiner, netter Sexshop, versteckt im Keller eines vorstädtischen Einfamilienhauses. Taylor hatte solche Ausstattungen schon an einigen Tatorten gesehen. Eine voll ausgestattete Sexkammer mit zwei professionellen Videokameras, vier Mikrofonen und strategisch platzierter Beleuchtung war ihr allerdings auch neu.

„Die stellen hier Pornos her?“ Das Zittern in Tims Stimme strafte seine ruhige Haltung Lügen. Tim fühlte sich unglaublich unwohl, das konnte sie sehen. Als guter Kirchgänger war er sicherlich kein Freund dieses Hobbys der Wolffs.

Taylor schaute sich gründlich im Zimmer um. „Würde ich vermuten. Zumindest einer von ihnen. Es kann gut sein, dass Todd sich darum gekümmert hat, ohne dass Corinne davon wusste, und umgekehrt. Aber das glaube ich nicht. Es wäre schwer, etwas so Ausgefeiltes vor seinem Ehepartner zu verbergen. Ich schaue mir die Kartons da draußen noch mal näher an.“

Sie verließ den Raum und ging zurück zu den Kartons. Bevor sie ihre Hand zum ersten ausstreckte, rief sie Tim zu: „Tim, haben Sie die hier schon auf Fingerabdrücke untersucht?“

„Nein, Ma’am. Nachdem ich das hier gefunden habe, bin ich gleich wieder raus und habe Sie angerufen.“

„Sind die Kartons beschriftet?“

„Nur mit einem Datum. Sie reichen ein paar Jahre zurück.“ Taylor seufzte. „Tja, wir werden wohl alles hier unten aufnehmen müssen. Ich schnappe mir ein paar dieser CDs und guck mal, ob ich was Aktuelles finde.“ Sie schaute sich noch einmal in dem Keller um. „Ich wage zu behaupten, wir finden sowohl Todds als auch Corinnes Fingerabdrücke hier unten. Mich interessiert, ob es auch welche von jemand anderem gibt.“

Taylor nahm einen Stift und schob damit die CDs zur Seite. Sie wählte ein paar aus, deren Datum zwischen 2005 und 2008 lag, wartete, bis Tim die Hüllen auf Fingerabdrücke untersucht hatte, und steckte die CDs dann ein. Es würde den ganzen Nachmittag dauern, bis Tim die Lasterhöhle, wie Taylor den Keller der Wolffs insgeheim nannte, untersucht und aufgenommen hatte, also konnte sie sich genauso gut auf den Weg ins Baptist Hospital machen, um mit Corinnes Ärztin zu sprechen.

Sie verließ das Haus und stieg ins Auto. Während sie fuhr, dachte sie darüber nach, warum zum Teufel Todd Wolff ein Mini-Aufnahmestudio im Keller seines Hauses hatte. Und wie viele weitere Geheimnisse sich wohl hinter der perfekten Fassade der Wolffs verbargen?