30. KAPITEL

Taylor erwachte um fünf Uhr morgens. Das erste zarte Licht zupfte an den Gardinen. Der Tag versuchte, sich in ihr Schlafzimmer zu drängen. Sie schaute Baldwin an – er lag auf dem Rücken, nackt, die Arme über dem Kopf ausgestreckt. Sie rollte sich zu ihm und kuschelte sich an seine nackte Brust. Seine Arme schlangen sich um ihren Körper; ihre Wärme und Stärke erlaubten es ihr, noch einmal die Augen zu schließen.

Sie war gerade wieder eingedöst, als das Telefon klingelte. Beide zuckten sie zusammen. Taylor schaute auf die Uhr. Zwanzig vor sieben. Es war mehr Zeit vergangen, als sie gedacht hatte.

„Geh du ran. Ich will mit niemandem sprechen“, sagte sie.

Baldwin stöhne, löste sich dann von ihr und nahm das Telefon zur Hand. Sie rollte sich auf ihrer Bettseite zusammen. Ein seltsames Glücksgefühl durchflutete ihren Körper. Nach allem, was gestern passiert war, ließen seine Nähe und das Wissen, dass er bei ihr war, die bösen Dinge weniger schlimm erscheinen.

Baldwin knurrte eine Begrüßung in den Hörer. Er klang so rau und männlich, dass Taylor innerlich ganz warm wurde. Ein paar Sekunden später spannte er sich merklich an, dann setzte er sich auf und zog die Bettdecke mit sich. Er nahm die Fernbedienung des Fernsehers zur Hand und schaltete MSNBC ein, bevor er Taylor anstieß. Sie rollte sich zu ihm. Er zeigte auf den Fernseher. Als er den Ton lauter stellte, wurde ihr das Herz schwer. Eine blonde Frau in einem gut geschnittenen cremefarbenen Anzug und dem für New Yorker Nachrichtensprecherinnen so typischen Bob teilte sich den Bildschirm mit Michelle Harris. Sorge zeichnete sich auf der künstlich geglätteten Stirn ab.

„Miss Harris, Sie sagen, dass die Metro Nashville Police den Mord an Ihrer Schwester falsch gehandhabt hat? Soweit wir informiert sind, ist doch ein Verdächtiger verhaftet worden. Ihr Schwager, oder nicht?“

„Das stimmt. Sie haben Todd verhaftet. Aber nach dem, was gestern passiert ist, bin ich mir nicht mehr sicher, dass sie den Richtigen haben. Wenn man der Polizei nicht mal vertrauen kann, nicht ihre eigenen Leute umzubringen, wie soll man ihnen dann vertrauen, dass sie den richtigen Mann verhaften?“

„Oh Gott“, stöhnte Taylor.

Die Blonde schürzte die Lippen und tippte mit einem Stift dagegen. Sie setzte einen nachdenklichen Blick auf. „Miss Harris, haben Sie irgendwelche neuen Erkenntnisse, die Zweifel an der Korrektheit der Verhaftung aufkommen lassen?“

Michelle sah einen Moment lang verwirrt aus, und Taylor erkannte, dass sie mit dem Wort Korrektheit nichts anfangen konnte. Einen Augenblick hatte sie Mitleid mit ihr, das sich aber schnell auflöste, als Michelle wieder zu sprechen anfing.

„Ich weiß nur, dass die Ermittlungen von Anfang an chaotisch waren. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, ist die leitende Beamtin in diesem Fall nun wegen ihres schmutzigen Privatlebens in allen Medien.“

Ein bösartiges Lächeln breitete sich auf Michelles Gesicht aus. Tu es nicht, dachte Taylor. Doch Michelle ignorierte die stumme Bitte.

„Es war gestern in allen Nachrichten, diese widerlichen Videos von ihr beim Sex mit ihrem Partner, den sie dann kaltblütig erschossen hat. Was für ein Mensch tut so etwas? Und wie kann die Nashville Police es zulassen, dass sie ihren Job behält?“

„Ein guter Punkt, Miss Harris. Vertreter der Metro Nashville Police haben MSNBC gegenüber bestätigt, dass Lieutenant Taylor Jackson vom Dienst freigestellt wurde, solange die gegen sie erhobenen Vorwürfe untersucht werden.“

Taylor drehte sich der Magen um. „Oh, oh. Ich glaube, ich muss mich übergeben.“

Baldwin wollte den Fernseher ausschalten. Einen unbeobachteten Moment lang verzog sich sein Gesicht vor Wut.

„Für diese Scheiße werden wir sie bis aufs letzte Hemd verklagen, Baby. Mach dir keine Sorgen. Sie haben kein Recht …“

„Warte, pssst. Stopp, schalt nicht aus. Was sagt sie da?“

Die Blonde hatte ihren Rufmord an Taylor gerade beendet und wandte sich wieder dem vorliegenden Fall zu. „Sagen Sie mir, Miss Harris, was haben Sie gestern Abend entdeckt, das Sie zu der Annahme verleitet, der Fall würde nicht ordentlich gehandhabt?“

Michelle Harris strahlte. Sie hielt einen Stapel Papiere hoch und schüttelte sie. Das Rascheln wurde lauter, als sie die Papiere näher an das Mikrofon hielt, das an ihrem Blusenkragen klemmte. „Der Detective für den Fall, Lieutenant Jackson, ist bekannt für ihre Gewaltausbrüche. Eine Freundin hat mir erzählt, dass sie schon mehrmals wegen unnötiger Gewalt gegenüber Verdächtigen gerügt worden ist. Sie hat mehr Menschen getötet als sonst jemand bei der Polizei. Das steht alles hier drin.“

Die Nachrichtensprecherin war außer sich vor Freude. „Nach einer kurzen Unterbrechung geht es weiter. Bleiben Sie dran.“ Der Sender schaltete zur Werbung, und Baldwin stellte den Ton ab. Taylor hatte bereits das Telefon in der Hand.

„Wow, warte mal. Wen willst du anrufen?“

Taylor hielt inne und legte den Hörer dann wieder auf die Station.

„Das Revier. Fitz. Irgendjemanden. Ich weiß nicht. Ich kann nicht glauben, dass sie das eben in den Nachrichten gesagt hat. Woher hat sie ihre Informationen?“

„Das ist eine hervorragende Frage. So, wie sie es darstellt, kann es großen Schaden anrichten.“

Taylor fing an, unruhig auf und ab zu gehen. „In der Sekunde, in der sie anfing, durch die Talkshows zu ziehen, dachte ich mir, dass sie scharf auf den Ruhm ist. Corinne war die Beliebte, und Michelle fühlte sich in der Familie immer wie eine Außenseiterin. Ich nehme an, das ist ihr Weg, um etwas Aufmerksamkeit zu erhaschen. Erst die Geschichte, wie sie ihre Schwester gefunden hat und die Aufzeichnung vom Notruf, jetzt das hier. Irgendetwas stimmt mit Miss Michelle nicht, das sag ich dir.“ Sie schnappte sich wieder das Telefon.

„Taylor“, mahnte Baldwin.

Sie wählte weiter und klemmte das Telefon zwischen Ohr und Schulter ein, während sie nach dem Block suchte, der normalerweise auf ihrem Nachttisch lag, damit sie sich schnell Notizen machen konnte.

„Was?“

„Babe, das kannst du nicht machen. Du musst mich die Sache regeln lassen.“

„Natürlich kann ich das. Was willst du …“ Dann fiel es ihr wieder ein. Sie blieb abrupt stehen und wäre unter der Last der Erkenntnis beinahe hintenüber aufs Bett gefallen.

Sie hatte keine Marke. Sie war suspendiert. Sie konnte nichts unternehmen, um das hier aufzuhalten. Ärger wallte in ihr auf. Diese verdammte Zicke Norris.

Am anderen Ende der Leitung ging jemand ran. Taylor murmelte „verwählt“ und legte auf. Sie schaute Baldwin an.

„Ich kann nicht einfach still danebensitzen und zugucken, wie mein Leben auseinandergenommen wird, Baldwin. Ich muss etwas unternehmen. Was erwarten die denn? Dass ich das brave Mädchen spiele und die Füße stillhalte, während meine Karriere den Bach runtergeht?“

„Honey, ich fürchte, du wirst genau das tun müssen. Ich kümmere mich um alles. In null Komma nichts werden wir deine Unschuld bewiesen haben, aber bis dahin musst du dich raushalten. Ich gebe zu, mir gefällt die Vorstellung auch nicht, dich unbewacht hierzulassen, denn Aiden läuft noch immer da draußen herum. Er ist nicht glücklich mit mir.“

Großartig. Ein international gesuchter Psycho campierte in ihrem Garten, ihre Marke und ihre Waffe waren konfisziert worden, ein Fall drohte auseinanderzubrechen, und sie musste sich aus allem heraushalten. Großartig.

Baldwin stieg aus dem Bett. „Ich werde jetzt duschen und dann in die Stadt fahren. Lass mich darüber nachdenken, wie wir dich beschützen können.“

„Ich muss nicht beschützt werden, Baldwin. Um Himmels willen, ich bin ein Cop, ich habe Waffen. Wir haben die Alarmanlage. Aiden wird nicht noch einmal in meine Nähe kommen.“

Er drehte sich zu ihr um und setzte sich neben sie auf die Bettkante. Sie rutschte näher und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Sie wollte nicht von jemand anderem beschützt werden. Wenn sie und Baldwin zusammen waren, konnte nichts passieren.

„Liebes“, setzte er dieses Mal wesentlich sanfter an. „Du musst meine Position verstehen. Aiden ist ein verdammt gerissener Mistkerl. Er bringt schon jahrelang ungestraft Menschen um. Er ruht sich nicht aus, und er gibt nicht auf. Er führt eine regelrechte Vendetta gegen mich. Ich habe dafür gesorgt, dass er aus den Vereinigten Staaten verbannt wurde. Er hat eine Mutter, eine Frau, falls du dir das vorstellen kannst. Er versucht, nach Hause zu kommen, um sie zu sehen … und bisher habe ich das erfolgreich verhindern können. Ganze fünf Jahre halte ich ihn jetzt schon von seiner Familie fern. Und jetzt, wo er hier ist, muss ich für ihren Schutz sorgen.“

„Mit ‚um sie zu sehen‘ meinst du, sie umzubringen.“

„Nicht unbedingt. Seine Mutter lebt noch, allerdings befindet sie sich in einer Nervenheilanstalt auf Rhode Island. Seine Frau … nun, das ist komplizierter. Sie war es, die ihn 2006 verraten hat. Sie hat ihn wortwörtlich dabei erwischt, wie er bis zu den Ellenbogen in dem blutigen Bauch einer Berliner Prostituierten steckte. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, also ist sie weggelaufen. Sie ging zum Konsulat und hat dort alles erzählt. Ich wurde kurz darauf angerufen – nachdem die Information einmal die Runde gemacht hatte, ist mein Kontaktmann auf den Vorfall aufmerksam gemacht worden. Aiden war aus dem Ruder gelaufen, machte jetzt ‚sein eigenes Ding‘, wie sie es nannten.“ Er schwieg einen Moment, doch als sie ansetzte, etwas zu sagen, drückte er ihren Arm, um sie zu unterbrechen.

„Ich weiß, was du fragen willst. Warum sollte er hinter dir her sein?“

Sie nickte.

„Bisher gab es nichts, mit dem Aiden mich hätte aus der Deckung locken können. Als Gegner hegte er immer eine gewisse Art … ich würde beinahe sagen Respekt für mich. Und ich für ihn. Er ist einer der komplexesten Mörder, von denen ich je ein Profil erstellt habe. Neben ihm sieht Ted Bundy aus wie ein Schulabbrecher. Aber jetzt … jetzt habe ich dich. Jetzt bin ich verwundbar. Nach allem, was wir wissen, hat er uns in Italien zusammen gesehen. Das ist die einzige Möglichkeit, die wir uns vorstellen können, wie er von der Intensität der Bindung Wind bekommen hat, die für mich nun auf dem Spiel steht. Mich umzubringen liegt nicht in seinem Interesse. Dich umzubringen würde mir unvorstellbares Leid zufügen. So denkt er. Das Problem ist: Bis er wirklich hier aufgetaucht ist, konnten wir uns seiner wahren Intentionen nicht sicher sein.“

Er drückte ihren Arm erneut. „Es gibt noch mehr, was du wissen solltest.“ Er stand auf, zog sich seine Boxershorts über und setzte sich in den Stuhl gegenüber vom Bett. Die Tatsache, dass er körperlichen Abstand von ihr nahm, war verwirrend. Taylor hatte das Gefühl, die Beichtmutter für ihn zu spielen. Und sie hatte recht.

„Ich habe Aidens Frau umgebracht.“

Taylor sah ihn aus großen Augen an. „Was soll das heißen, seine Frau umgebracht?“

„Es war ein Unfall. Ein fürchterlicher Unfall. Sie kam hinter mir her, und ich habe sie erschossen. Es war Notwehr. Zumindest hat Garrett es so genannt. Ich denke, ich hätte die Sache anders handhaben können. Ich hätte in der Lage sein müssen, sie abzuwimmeln. Aber sie hat mich für Aidens Probleme verantwortlich gemacht. Mich beschuldigt, ihn zu dem Monster gemacht zu haben, das er geworden war.

Nachdem sie ihn mit der Prostituierten erwischt hatte, entschied sie, dass sie Hilfe brauchte. Ich half ihr, direkt vor Aidens Augen unerkannt das Land zu verlassen. Ich wusste, dass er ihr nachstellen würde, denn er hatte mir versprochen, sie zu töten. Als er zu ihr kam, hatten wir sie gerade erst weggeholt und in einem sicheren Haus in Wien untergebracht. Er hat die Adresse herausgefunden. Ich habe die Warnung erst kurz vor seinem Auftauchen erhalten und Lucy gerade einmal fünf Minuten, bevor er eintraf, herausgeholt.

Ab da lief alles schief. Ohne es uns zu sagen, hatte Lucy mit Aiden vereinbart, dass er zu ihr kommen sollte. Sie wollte mit ihm zusammen sein, half ihm, einen Plan zu schmieden, um uns aus dem Weg zu räumen. Ich kann mir nicht vorstellen, was in ihrem Kopf vorging. Immerhin hatte sie doch gesehen, wie ihr Mann eine andere Frau geradezu abgeschlachtet hatte. Aber irgendwie war sie Aiden hörig.

Wir zwangen sie, das Haus zu verlassen. Sie wollte nicht gehen. Kam mit Ausreden, die wir ignorierten. Im Auto zog sie dann ein Messer und griff mich damit an. Ich war total unvorbereitet und reagierte entsprechend. Ich habe ihr ins Bein geschossen, um sie aufzuhalten. Dabei habe ich eine Arterie getroffen. Sie ist verblutet, bevor wir noch am Krankenhaus ankamen.“

Guter Gott. „Und Aiden hat dir nie vergeben.“

„Nein. Ich habe sie ihm genommen. Sie wurde in den Staaten beerdigt, und er hat ihr Grab noch nie gesehen. Er schwor, mein Leben zu einer ebensolchen Hölle auf Erden zu machen, wie seines es war. Deshalb habe ich mich bisher auch nie wirklich auf jemanden eingelassen. Doch jetzt gibt es dich. Ich konnte nicht anders. Du bist meine Welt geworden. Und das weiß er.“ Er sah aus, als wollte er noch etwas sagen, doch er blieb stumm und suchte in ihrem Gesicht nach irgendwelchen Hinweisen. Taylor spürte die Wellen der Frustration, die von ihm ausstrahlten.

Sie ging zu ihm, kniete sich vor ihn hin und nahm seine Hände in ihre. „Oh Baldwin. Das tut mir so leid. Ich hatte ja keine Ahnung, womit du es da zu tun hast. Kann ich irgendetwas tun?“

„Du kannst mir erlauben, für deine Sicherheit zu sorgen. Ich habe Lucy im Stich gelassen. Das soll mir bei dir nicht noch mal passieren.“

Er streckte die Arme nach ihr aus, und sie standen beide auf. Er küsste sie mit einem solchen Hunger, dass ihr Magen sich zusammenzog und ihr ganz schwindelig wurde. Seine Bartstoppeln kratzten sie, aber das war ihr egal. Sie wollte mehr. Sie fuhr mit ihren Fingernägeln über seinen Rücken. Mit einer Hand zog er die Boxershorts aus, und wenige Sekunden später lagen sie zusammen im Bett. Er glitt mit einem Stoß in sie hinein. Die Welt versank um sie herum. Keine Tragödien, keine Serienmörder, keine Fehler. Nichts außer ihm, der sie erfüllte, in Besitz nahm, sie mit aller Kraft in seine Arme zog. Ihre Wut und ihre Frustration brachten sie innerhalb weniger Momente zum gemeinsamen Höhepunkt.

Als Taylor zum zweiten Mal an diesem Morgen aufstand, traf sie eine Entscheidung.

Baldwin hatte bereits geduscht und sie zutiefst befriedigt im Schlafzimmer zurückgelassen. Guter Gott, dieser Mann war unersättlich. Es lag etwas so Freudiges in ihrer Leidenschaft; sogar wenn sie nicht sonderlich guter Stimmung waren, gelang es ihnen immer, Trost in den Armen des anderen zu finden. Baldwin hatte ihr die strikte Anweisung gegeben, das Haus nicht zu verlassen. An der Tür stand eine bewaffnete Wache, und Streifenwagen patrouillierten durch die Nachbarschaft.

Niemand wusste von der Unterhaltung, die Taylor am Mittwoch mit Jasmine geführt hatte. Thalia Abbot ging auf die St. Ann’s. Nach ihrem Besuch bei Ellen Ricard, die sie gegen acht Uhr erwartete, könnte sie dort kurz vorbeischauen.

Sie lud den Wachmann auf einen Kaffee ein und erklärte ihm ihr Vorhaben. Sie stellte klar, dass er keine andere Wahl hatte, und ließ ihn schwören, Baldwin kein Wort davon zu sagen, dass sie das Haus verlassen hatte. „Geben Sie mir zwei Stunden“, hatte sie ihn gebeten. „Dann bin ich zurück und werde ein braves Mädchen sein.“

Sie pfiff leise vor sich hin, als sie mit dem Wagen aus der Garage rollte. Sie hatten ihr ihre Marke genommen, aber das würde sie verdammt noch mal nicht davon abhalten, in diesem Fall zu ermitteln.

Ihr Gewissen versuchte verzweifelt, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, aber sie ignorierte die kleine Stimme in ihrem Kopf, die ihr sagte, sie solle nach Hause zurückgehen, sich mit einem guten Buch auf die Couch kuscheln und Baldwin sich um alles kümmern lassen. Wann hatte sie jemals darauf vertraut, dass ein Mann sich um sie kümmerte? Niemals. Das sollte nicht heißen, dass sie ihm die lange Nase zeigte, aber irgendwas in ihrem Unterbewusstsein wollte ihm beweisen, dass sie das zähe Mädchen war, für das er sie hielt. Und was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß, dachte sie.

Sie guckte, ob irgendjemand sie verfolgte, bemerkte aber nichts, weswegen sie sich Sorgen machen müsste. Bisher hatte sie immer gespürt, wenn Aiden in der Nähe war. Er ließ ihre Alarmsirenen schrillen; ihre sämtlichen urzeitlichen Adrenalinspeicher wurden in den roten Bereich geschoben, wenn er sich näherte. Sie vertraute darauf, dass sich das nicht ändern würde.

Das Grab seiner Frau. Baldwin hatte gesagt, dass Aiden zwei Ziele hatte: Baldwins Leben zu zerstören und das Grab seiner Frau zu besuchen. Sie hatte vergessen zu fragen, wo Lucy begraben war. Vielleicht hatte Aiden beschlossen, sich davonzuschleichen und mit Lucys Geist zu sprechen, bevor er zurückkam, um Taylor die Kehle durchzuschneiden.

Die Fahrt durch Downtown Nashville verlief ereignislos, und bald schon bog Taylor in das Parkhaus unter dem Gebäude ein. Hier war es dunkel und trist. Sie fragte sich kurz, ob sie nicht doch lieber an einer der Parkuhren auf der Straße parken sollte, und entschied, dass das sicherlich cleverer wäre – siehst du, Baldwin, ich bin doch nicht so dumm. Also fuhr sie die Rampe wieder hoch und bog auf die West End ab. Sie fand einen Parkplatz an einer Uhr, die das Parken ab acht Uhr morgens erlaubte. Die Uhr zeigte Viertel vor. Das passte. Was wollten sie auch tun, ihr einen Strafzettel geben?

Mit einem Blick über die Schulter vergewisserte sie sich, dass niemand sie verfolgte. Baldwins Geschichte hatte dafür gesorgt, dass sie besonders vorsichtig war. Der Gedanke, dass Aiden die Stadt verlassen hatte, sobald Baldwin eingetroffen war, kam stärker als zuvor zurück. Das wäre durchaus logisch. Vielleicht auch nur Wunschdenken, aber wer wollte das einem Mädchen verdenken? Was wäre das Leben, wenn sie keine Irren jagen würden? Langweilig und fad, so viel war mal sicher.

In der Lobby wies ein schwarz glänzendes Schild Dr. Ellen Ricards Büro im achten Stock aus. Ein steter Menschenstrom bewegte sich auf die Fahrstühle zu – Patienten, Empfangsdamen, eine Krankenschwester in blauer OP-Kleidung mit einem Kaffee aus dem nahe gelegenen Coffeeshop in der Hand. Taylor reihte sich ein und betrat den Fahrstuhl.

Dr. Ricards Büro befand sich am Ende eines langen Flures auf der rechten Seite direkt neben der Feuertreppe. Taylors Eintreten wurde durch ein dezentes Klingeln angekündigt. Das Büro war hübsch eingerichtet – ein rot-goldener Aubusson-Teppich bedeckte beinahe den gesamten Fußboden und betonte die farblich passenden Ölbilder der örtlichen Künstlerin Jennifer Wilken, die überall an den cremefarbenen Wänden hingen. Die Möbel waren mächtig, quadratisch und aus Wildleder. Auf einem gläsernen Couchtisch lagen verschiedene Ausgaben des Town and Country Magazines, und in der Luft hing ein leichter Duft von Chanel.

Auf das leise Klingeln hin kam Dr. Ricard aus einem angrenzenden Zimmer. Sie hatte schulterlange, silbrig-graue Haare, die nicht recht zu ihrem jugendlichen Gesicht passen wollten. Eine eckige schwarze Brille, kaum Make-up, schwarze Strickhose mit einem tief ausgeschnittenen, schwarz-weißen Seidentop – Ricard war eine seltsame Mischung aus Hippie und hip. Sie war bestimmt nicht älter als vierzig, aber Taylor war nicht sonderlich gut darin, das Alter von anderen Menschen zu schätzen.

Ricard durchquerte den Raum und streckte ihre Hand aus. Taylor schüttelte sie und folgte dann der Einladung der Psychologin in ihr inneres Heiligtum.

Das Zimmer war sonnendurchflutet. Da es nach Osten zeigte, fielen die ersten Strahlen der Morgensonne durch die Fenster und verliehen dem Raum etwas Fröhliches. Zwei schwere Sofas standen einander gegenüber. Zwischen ihnen stand ein weiterer Art-déco-Glastisch. Ein großer, mit schwarzem Samt bezogener Ohrensessel sah aus, als würde er oft benutzt. Und da ging Dr. Ricard auch schon darauf zu und ließ sich geschmeidig wie eine Katze hineinsinken. Sie zog die Beine unter, legte Notizblock und Stift auf den Couchtisch und bedeutete Taylor mit einem Kopfnicken, sich ebenfalls zu setzen. Taylor tat wie ihr geheißen und bewunderte, welche Kontrolle diese Frau ausübte, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Nach einem kurzen Moment des Schweigens sprach Dr. Ricard. Ihre akzentuierte Stimme weckte in Taylor das Gefühl, sich auf einer Museumstour durch Großbritannien zu befinden.

„Ich bin Ellen Ricard, aber das wissen Sie ja bereits. Wie kann ich Ihnen helfen, Lieutenant?“

Sie kam gleich zum Kern des Gesprächs, was Taylor nur recht war.

„Corinne Wolff. Sie war Ihre Patientin. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir sagen, wieso.“

„Wenn Sie wissen, dass sie eine Patientin war, dann wissen Sie auch, dass ich Ihnen nichts über den Inhalt unserer Treffen sagen darf. Aber es tut mir leid, dass wir sie verloren haben. Corinne war eine bemerkenswerte Frau.“

„Dann helfen Sie mir, ihren Mörder zu finden, Doctor.“

„Ist der nicht schon gefunden? Es sind gerade mal zwei Tage vergangen, und Sie haben schon einen Verdächtigen inhaftiert.“

„Das stimmt, aber es ist noch keine ausgemachte Sache, dass Todd Corinne umgebracht hat. Ja, er ist verhaftet worden, weil es Beweise gibt, die ihn belasten. Aber die Ermittlungen bezüglich seiner Handlungen in den Stunden vor dem Mord sind noch lange nicht abgeschlossen. Doch deswegen bin ich nicht hier. Soweit ich das richtig verstehe, waren Corinne und ihr Mann sehr … offen, was ihre Sexualität angeht.“

„Sei es, wie es wolle. Sie sind diejenige, die sich nicht sicher ist. Sie wollen nicht dafür verantwortlich sein, falls er unschuldig ist.“

„Das stimmt. Ich bin nicht überzeugt. Ich gehe mit dem Leben anderer Menschen immer sehr sorgsam um, egal, was sie selbst auch für Entscheidungen treffen. Und hören Sie bitte auf, mich zu analysieren. Ich bin keine Patientin, ich versuche lediglich, ein paar Antworten zu finden.“

Endlich lächelte Ricard und entspannte sich sichtlich in ihrem Sessel. „Okay, Lieutenant. Ich höre auf, Spielchen zu spielen, wenn Sie auch aufhören.“

Taylor war sich nicht sicher, was sie von der guten Frau halten sollte. Würde dieses Gespräch überhaupt irgendwo hinführen, oder vergeudete sie hier nur ihre Zeit?

„Was soll das heißen?“

Ricard legte ihre Fingerspitzen aneinander und tippte mit den Zeigefingern gegen ihre Lippe. „Das heißt, dass ich heute Morgen die Nachrichten gesehen habe. Sie sind suspendiert worden. Stimmt das, oder hat man Sie in den letzen fünf Minuten wieder rehabilitiert?“

Taylor drückte sich tiefer in die Sofakissen. Verdammt.

Ricard winkte ab. „Mir ist es egal, Lieutenant. Ich habe die Videos gesehen.“

Taylor wurde blass, aber Ricard fuhr ohne Unterbrechung fort. Ihr Ton war nicht gerade herzlich zu nennen, aber es schwang eine gewisse Kameradschaft mit.

„Machen Sie sich keine Sorgen. Es ist vollkommen offensichtlich, dass jemand wütend auf Sie ist und versucht, Ihren Ruf zu ruinieren. So etwas habe ich auch schon durchgemacht. Einschüchterung, Druck, Nötigung. Lassen Sie sich von denen nicht in die Knie zwingen. Doch ehrlich gesagt ist das alles hierfür nicht wichtig. Ich spüre Ihren tiefen Wunsch, den Mörder von Corinne zu finden. Das Feuer in Ihren Augen ist nicht zu übersehen.“ Sie lächelte; der erste freundliche Ausdruck auf ihrem Gesicht, seit Taylor ihr Büro betreten hatte.

„Das muss jedoch unter uns bleiben. Das verstehen Sie sicherlich. Wenn ich einer suspendierten Polizistin Auskünfte über eine meiner Patientinnen gebe, kann das nur in hypothetischer Form geschehen.“

Taylor suchte in Ricards Gesicht nach Anzeichen dafür, dass die Therapeutin sie auf den Arm nehmen wollte, fand jedoch keine. Was hatte sie schon zu verlieren? Sie konnte sowieso nicht ins Headquarter marschieren und verkünden, den Fall gelöst zu haben. Nein, sie nahm die Ärztin besser beim Wort, hörte zu, was sie zu sagen hatte, und versuchte, so viele Informationen wie möglich mitzunehmen.

„Ich verstehe. Damit bin ich einverstanden. Ich bin nur neugierig, wie jemand, der so kontrolliert und selbstsicher ist wie Corinne Wolff, mit einem Mal so zusammenbrechen kann. Es scheint mir ihrem Charakter überhaupt nicht zu entsprechen, dass sie während ihrer Schwangerschaft Medikamente gegen Angstattacken genommen hat. Doch wenn sich daraus ein Hinweis ergibt, der mir hilft herauszufinden, ob es ihr Ehemann oder jemand anderes war, der sie getötet hat …“

Ricard nickte, also hielt Taylor inne und ließ die Frau ihre Gedanken sammeln.

„Sie wissen bereits eine Menge über sie. Ich nehme an, es wurde ein sorgfältiges Profil des Opfers erstellt.“

„Ich versuche, ein akkurates Profil des Opfers zu erstellen. Corinne scheint eine Frau mit zwei Persönlichkeiten gewesen zu sein. Auf der einen Seite die Hausfrau und Mutter, das ehemalige Tenniswunderkind, die kurzfristige Geschäftsfrau. Auf der anderen Seite war sie offensichtlich außer Kontrolle, verzweifelt auf der Suche nach Glück und Vergnügen. Ich würde gerne wissen, wieso diese Frau zwei so dermaßen verschiedene Seiten hatte.“

„Wir alle haben zwei Seiten, Lieutenant. Die Persönlichkeit, die wir für unsere Mitmenschen annehmen. Und das Ich, das wir versteckt halten, den echten Teil von uns, der es uns erlaubt, Urteile zu fällen und Vergnügen aus unseren Taten zu ziehen. Sie können mir nicht erzählen, dass Sie zu Hause, im Privaten, derselbe Mensch sind wie in der Öffentlichkeit. Schon allein die Tatsache, als Frau die Position eines Mannes zu bekleiden, würde Sie davon abhalten, im Beruf Schwäche oder Verletzlichkeit zu zeigen.“

„Ich bin wohl kaum die einzige Frau auf einem Männerposten, Doctor. Und ja, ich bin bei der Arbeit die gleiche Person, die ich auch zu Hause bin. Sie kriegen, was Sie sehen, sozusagen.“

Ricard lächelte. Ihre Lippen wurden schmal. Die Frau mochte es nicht, herausgefordert zu werden.

„Wirklich? Wie viele weibliche Lieutenants gibt es derzeit bei der Polizei?“

„Viele.“

„Und arbeiten die eher in der Verwaltung oder in der Strafverfolgung?“

„Bei der Metro? In der Verwaltung. Ich bin die Einzige in der Strafverfolgung.“

„Und ich wette, Sie genießen den Respekt Ihres Teams. Und zeigen ihnen niemals, dass Sie sich tief im Inneren wünschen, alle Kontrolle abzugeben und ihnen zu erlauben, sich um Sie zu kümmern.“

„Oh, da liegen Sie falsch. Wir sind ein Team. Wir arbeiten zusammen, und ich überlasse mich ihnen ständig. Wenn ich es nicht tun würde, würden sie mir nicht vertrauen.“

„Und haben Sie einen Mann zu Hause?“

„Ja.“

„Was macht er?“

„Er ist beim FBI. Er ist …“

„Ja?“

„Er steckt gerade mitten in einer Ermittlung und hält gewisse Aspekte des Falles vor mir geheim. Er will mich beschützen, aber ich brauche keinen Schutz.“ Halt sofort den Mund, Taylor, dachte sie. Die Frau war wirklich gut.

Taylor fuhr fort: „Aber das ist im Moment überhaupt nicht relevant, Doctor. Es hat nichts mit Corinne Wolff zu tun.“

„Oh, aber genau da liegen Sie so falsch. Corinne hat auch unter der Fehleinschätzung gelitten, ihr Leben komplett unter Kontrolle zu haben. Zu glauben, die Entscheidungen, die sie traf, wären ihre ureigenen Entscheidungen gewesen. Dass sie sich geschmacklosem Verhalten hingegeben hatte, weil sie dachte, sie hätte es so gewollt. Aber in Wahrheit gibt es in jeder Frau einen Teil, der geschätzt und beschützt werden will, statt multiplen Sexualpartnern ausgeliefert zu sein. Und schon gar nicht, wenn die intimsten Momente an den Höchstbietenden verkauft werden.“

Taylor schaute Ricard an. Hinter der Brille, der Maske kühler Beherrschtheit, sah Taylor eine gerissene Frau. Taylor achtete darauf, dass ihre eigene Miene nichts außer beruflichem Interesse für Corinne Wolff verriet.

„Meinen Sie damit, dass Corinne ein Opfer ist?“

„Auf gewisse Art, ja. Corinne weilt unglücklicherweise nicht mehr unter uns, um uns zu erzählen, wie missbraucht sie sich durch die Neigungen ihres Mannes gefühlt hat. Sie, andererseits, haben die Chance, sich gegen die gegen Sie erhobenen Anschuldigungen zur Wehr zu setzen, weil Sie tief in Ihrem Herzen wissen, dass Sie nichts falsch gemacht haben. Ich glaube, Corinne besaß diese Stärke nicht. Sie war leicht zu beeinflussen. Anstatt zu kämpfen, hat sie sich stumm ergeben und zugelassen, benutzt zu werden.“

„Ich bin kein Opfer, Dr. Ricard. Darin unterscheide ich mich von Corinne. Ich würde es auch sehr zu schätzen wissen, wenn Sie diese Unterhaltung auf Corinne beschränkt halten könnten. Wurde sie von ihrem Ehemann benutzt?“

Ricard schaute einen Moment lang amüsiert aus, dann nickte sie. „Corinne wurde von vielen Menschen benutzt. Ehemann, Familie, Geschwister, Liebhaber. Sie werden noch früh genug auf die Wahrheit stoßen, Lieutenant. Lassen Sie uns einen Moment lang über die Furcht sprechen, die eine junge Mutter empfindet, wenn sie sich in einer Situation wie Corinne Wolff befindet.“

„Okay.“

„Denken Sie an die Schwierigkeiten, die es bedeutet, ein ausgesprochen talentiertes Kind zu haben. Eine vollkommen kontrollierte Existenz, eine Welt, die ganz um das Genie des Kindes herum strukturiert wird. Stete Arbeit, Aufmerksamkeit, Bewunderung und Erwartung. Bis dieses Kind eines Tages erwacht – sowohl im übertragenen als auch im wörtlichen Sinne – und beschließt, kein Wunderkind mehr sein zu wollen. Es will nicht mehr so hart arbeiten, um sein Leben zu leben. Es sieht, wie die Menschen um es herum den einfachen Weg wählen, an den Wochenenden lange schlafen, viel Zeit haben, um sich zu verabreden und Hausaufgaben zu machen. Das ist das Leben, das dieses Kind auch haben will. Jemand, der so getrieben ist, wird dieses einfache Leben vermutlich mit der gleichen Verbissenheit betreiben, die es zu einer so ausgezeichneten Sportlerin gemacht hat.“

„Corinnes Mutter hat erwähnt, dass ihre Liebe zum Tennis verschwand, als sie in die Highschool kam“, warf Taylor ein. Als Ricard dazu nichts sagte, hakte sie nach: „Würden Kleinigkeiten, die für Sie oder mich nicht wichtig wären, eine solche Person aus der Bahn werfen?“

„Sicher. Jemand, der sich so unter Kontrolle hat, würde große Schwierigkeiten haben, anderen die Zügel zu überlassen. Außer es würde etwas Ungewöhnliches passieren. Etwas, das nicht rational wäre. Wie sich zu verlieben.“

Das ergab Sinn. Taylor dachte an das erste Video zurück, das sie gesehen hatte, mit Todd und den zwei Mädchen. Corinne hatte die Kamera bedient. Vielleicht hatte sie das Sexspiel genossen, vielleicht nicht, aber indem sie die Kontrolle darüber übernahm, was der Zuschauer sehen und fühlen würde, übernahm sie auch die Kontrolle über die Situation mit ihrem Ehemann. Sie führte Regie, sagte ihm, wo es langging – ganz sicher keine traditionelle Rolle.

„Gab es etwas in Corinnes Leben, das zu diesem Kontrollzwang geführt hat?“

„Ah, tut mir sehr leid, Lieutenant, aber da wir diesen Fall nur hypothetisch besprechen, kann ich Ihnen das nicht beantworten. Aber jemand mit einem so großen Wunsch nach Stabilität kann eine Vergangenheit haben, in der es irgendeine Form des Missbrauchs gegeben hat – ob selbst verursacht oder von außen zugefügt. Viele junge, begabte Menschen sind so sehr mit ihrem Talent verwachsen, dass sie in Chaos stürzen, wenn man es ihnen nimmt. Das kann so etwas Simples sein wie eine Mutter, die ihrem Kind sagt, es müsse jetzt ins Bett gehen und dürfe nicht weitermalen. Sie nutzen ihr Talent zur Kontrolle, genau wie ein anorektisches Kind sein Hungern nutzt, um seinen Körper zu kontrollieren. Es ist alles eine Frage der Wahrnehmung. Wird die, wodurch auch immer, weggenommen, hätte man ein Kind, das nur überleben könnte, wenn es einen neuen Mechanismus zur Kontrolle von Verhalten und Wünschen entwickeln würde.“

„Sexuelle Promiskuität?“

Ein zartes Lächeln legte sich über Ricards Gesichtszüge. „Sehr gut, Lieutenant. Monogame sexuelle Promiskuität ist ein weiteres Beispiel dafür, wie geschmacklos alles Wahllose auf ein solches Kind wirken kann.“

„Aber das Kind würde erwachsen werden. Ich nehme an, dann ließe es diese Gedanken hinter sich?“

„Einige ja, andere nicht. Einige folgen ihrer Kunst, andere bauen rapide ab, sobald sie von der einen Sache getrennt werden, die ihre Identität bestimmt. Sie schrumpfen förmlich zusammen und enden in einer Anstalt oder tot. Aber das sind die wirklichen Extremfälle. Die meisten führen ein durchaus produktives, wenn auch nicht unbedingt glückliches Leben.“

„Bräuchten sie einen Katalysator? Etwas, das eine solche Person um den Verstand bringt, sie Dinge tun lässt, die sie normalerweise nicht tun würde?“

„Ja, ich denke, das könnte man so sagen. Einen Vorfall, der das Leben verändert.“ Ricard sprach sehr deutlich, und Taylor fing an zu verstehen.

„War diese Schwangerschaft ungewollt?“, fragte sie.

Ricard nickte, sagte aber: „Ich kann das weder mit Ja noch mit Nein beantworten. Corinne war eine sehr regulierte, kontrollierte Person.“

Das war also das Problem. Sie war schwanger geworden, darüber aber nicht sehr erfreut. Das war seltsam für eine junge Mutter, die allem Anschein nach glücklich war.

„Wäre eine ungeplante Schwangerschaft ein Problem für eine Frau, die alles kontrollieren muss? So schwierig, dass es ein pathologisches Verhalten auslösen könnte?“

„Nett hergeleitet, Lieutenant. In einigen extremen Fällen kann ein Individuum Schwierigkeiten haben, die Kontrolle über seinen Körper abgeben zu müssen, um ein Baby austragen zu können. Diese Person würde den Fötus vielleicht als ein fremdes Wesen empfinden und Augenblicke solchen tiefen Hasses empfinden, dass als einzige Lösung nur ein Schwangerschaftsabbruch infrage kommt. Oder die Person sucht sich professionelle Hilfe, um die klaustrophobischen Anfälle, denen sie ausgeliefert ist, besser handhaben zu können. Panikattacken, das überwältigende Bedürfnis zu fliehen, eine Trennung herbeizuführen – ja, um damit umzugehen, bedürfte es umfangreicher kognitiver Therapie, Regressionstherapie, Entspannungsmethoden und Biofeedback.“

„Sind das Probleme, die Corinne hatte? Klaustrophobische Anfälle aufgrund ihrer Schwangerschaft?“

„Jetzt kommen Sie der hypothetischen Grenze wieder zu nah, Lieutenant.“

„In Ordnung. Wie sieht es mit medikamentöser Behandlung aus?“

„Nun, im Fall einer Schwangerschaft würde man die Patientin ermutigen, keine Medikamente zur unterstützenden Behandlung zu nehmen.“

„Aber Corinne hat sich dennoch für diesen Weg entschieden. Warum?“

Ricard warf einen Blick auf die Uhr. „Oje, Lieutenant, ich fürchte, wir müssen zu einem Ende kommen.“ Sie stand auf.

„Eine letzte Frage.“ Taylor erhob sich ebenfalls. „Wäre Corinne Wolff eine Gefahr für sich gewesen?“

Ricard richtete ihre Brille und zog ihr Seidentop herunter, sodass es eng an ihrer Hüfte lag. „Vielleicht. Doch ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass sie sich selber mit der Mordwaffe erschlagen hat.“