35. KAPITEL

Marcus und Lincoln hatten die Neuigkeiten offensichtlich schon gehört. Neugierig schauten sie Taylor an, als sie das Büro betrat. Captain Price saß bei ihnen, die buschigen roten Augenbrauen erwartungsvoll hochgezogen.

Sie gab eine kurze und vage Zusammenfassung der Ereignisse. Baldwin kam in den Raum, setzte sich, reichte ihr eine Dose Cola light und ließ sie die Geschichte erzählen.

„Der Pretender scheint wieder in Nashville zu sein. Ich weiß nicht, was das bedeutet, aber er hat gerade jemanden von der Fahndungsliste des FBI getötet. Der Name des Mannes war Aiden. Baldwin hat an einem Fall gearbeitet, der ihn betraf, und nun war Aiden auf der Suche nach Rache. Er war verantwortlich für die beiden Morde vor meinem Haus. Aber jetzt ist er tot, und wir haben wichtigere Themen.“

Sie zeigte ihnen das Polaroidfoto, das sie sich von Fitz geliehen hatte. Lincoln gab es an Marcus weiter, und beide schauten mit einem Mal sehr ernst drein.

„Also glaubt der Pretender jetzt, er wäre dein persönlicher Bodyguard?“, fragte Lincoln. „Was soll das?“

„Aiden war darauf aus, mir wehzutun. Er hatte es auf Taylor abgesehen, und den Pretender scheint ein Anflug von Ritterlichkeit ereilt zu haben“, schaltete Baldwin sich ein.

Price hörte zu und erhob sich dann. „Das war’s. Hier fliegt definitiv zu viel Bullshit durch die Luft. Ich werde einen privaten Sicherheitsdienst auf dich ansetzen, Taylor.“

„Das habe ich bereits getan“, sagte Baldwin. „Sie waren seit gestern an Taylor dran. Wir werden diese Leute weiterhin einsetzen und sie über alles informieren, was wir über den Pretender wissen. Es ist ein gutes Team. Ich vertraue ihnen.“

Also hatte er bei seinem Telefonat am Parthenon doch nicht die Hunde zurückgepfiffen, sondern noch mehr dazubeordert.

„Und wie lange soll das so bleiben?“ Taylor schüttelte den Kopf. „Nein. Ich will das nicht.“

„Du wirst damit leben müssen, Süße.“ Baldwins Miene verriet ihr, dass Widerstand zwecklos war.

„Das sehe ich auch so. Wir können nicht riskieren, dass dir etwas zustößt, LT. Lincoln und ich werden noch mal nach Spuren in dem Pretender-Fall suchen. Wir finden den Scheißkerl. Aber in der Zwischenzeit müssen wir dich aus seinem Schussfeld halten“, sagte Marcus.

„Ich kann allein auf mich aufpassen“, murmelte Taylor, aber als sie die vier Männer sah, alle fest entschlossen, sie zu beschützen, entschied sie, dass Vorsicht besser als Nachsicht war, und fügte sich. Zumindest für den Augenblick.

„Können wir uns dann jetzt endlich wieder an die Arbeit machen?“ Price tätschelte ihren Kopf, was sie mit einem Blick aus zusammengekniffenen Augen quittierte. „Ich habe ein Meeting. Bringt sie auf den neuesten Stand. Du solltest stolz sein auf deine Jungs. Und sei vorsichtig, Wildkatze.“

„Ja, Dad“, sagte sie.

„Ich habe noch kurz was mit dem Captain zu besprechen, bin gleich zurück.“ Baldwin verließ gemeinsam mit Price das Büro, und bald schon waren ihre Stimmen nicht mehr zu hören.

Taylor verdrehte die Augen und schaute dann Marcus und Lincoln an. „Guter Gott, was für ein Tag. Schießt los, was gibt’s Neues im Wolff-Fall?“

„Fang du an“, forderte Lincoln seinen Kollegen auf.

„Okay. Erst einmal haben wir die minderjährigen Schauspielerinnen überprüft. Sie haben die Stadt verlassen, angeblich in Richtung Kalifornien. Heute hatten sie einen Vorstellungstermin bei Vivid Video. Wir haben ihren ‚Agenten‘ angerufen und ihn gebeten, dass sie sich sofort bei uns melden, wenn sie fertig sind.“

„Du meinst, wenn sie auftauchen, um nach Luft zu schnappen?“ Taylors Bemerkung sorgte für allgemeines Gelächter.

„Ja. Genau. In der Zwischenzeit haben wir uns Todd Wolffs Akte mal genauer angeschaut. Wir können beweisen, dass er zu dem behaupteten Zeitpunkt nicht in Savannah war. Er hat seine Tankkarte an dem Tag, bevor der Mord entdeckt wurde, also am Sonntag, in Crossville benutzt. Damit ist nachgewiesen, dass sich Todd Wolff zumindest am Tag nach dem Mord innerhalb der Staatsgrenzen von Tennessee aufgehalten hat.“

„Was nicht beweist, dass er es getan hat.“

„Nein, aber es beweist, dass er in Bezug auf verschiedene Dinge gelogen hat. Er wird heute Nachmittag dem Haftrichter vorgeführt, damit sollten wir später am Abend Gelegenheit haben, ihn noch einmal zu befragen. Julia Page und Mike Rose sind bereits darüber informiert, dass wir noch mal mit ihm sprechen wollen.“

„Wenn er am Sonntag in Crossville war, wo war er dann am Samstag?“

„Das ist die Frage. Wir wissen es nicht. Er war nicht in Savannah. Seine Empfangsdame ist ziemlich schnell eingeknickt, als ihr bewusst wurde, dass wir wissen, dass sie lügt. Sie sagte, er wäre seit über einer Woche nicht auf der Baustelle gewesen. Der Mann hier“, er zeigte auf Lincoln, „hat ein Wunder an ihrem Computer bewirkt. Corinne Wolff war ein sehr böses Mädchen.“

„Wirklich?“

Lincoln reichte ihr einen Stapel Papiere. „Sie hatte definitiv nebenbei was laufen. Hier sind ihre kleinen Liebesbriefe, für die wir ihrem privaten E-Mail-Account zu danken haben. Sie stammen alle von verschiedenen Adressen und unterschiedlichen Providern und sind mit einem Passwort geschützt. Das volle Programm. Wir nehmen an, dass sie die nicht mit Todd geteilt hat. Sie haben noch weitere Adressen. Einige davon sind für seine Arbeit, eine andere für ihre Freundinnen, und dann gibt es noch eine, die rein für Schweinkram reserviert ist. Die war in einem verborgenen Ordner versteckt.“

Sie wusste es. Taylor überflog die ersten paar Blätter. Das übliche Liebesgesäusel, wie es typisch für jede Beziehung ist. „Ich sehe keinen Namen. Seid ihr sicher, dass die nicht von ihr und Todd stammen?“

„Ganz sicher. Ich habe die IP-Adresse verfolgt. Sie ist unter einem ganz anderen Namen registriert. Die gleiche Person übrigens, der die IP von Selectnet.com gehört.“ Sein Lächeln war lässig, doch in seinen Augen brannte das Wissen, dass er etwas Wichtiges herausgefunden hatte.

Taylor wäre beinahe vom Stuhl gefallen. „Was? Was soll das heißen? Die kalifornische Firma, die unsere Sexvideos eingestellt hat? Meine Sexvideos? Corinne ist in die ganze Sache verwickelt?“

„Das sind sie beide, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Todd Wolff scheint der Lieferant sowohl der feinen Kunst als auch des billigen Krams zu sein. Er arbeitet für Selectnet.com und versorgt sie mit hochwertigen Filmen. Mit diesen Filmchen aus seinem Keller verdient er nebenbei ganz schön gutes Geld. Aber wir haben uns seine Finanzen ganz genau angeschaut und ein paar interessante Einkäufe gefunden. Genauer gesagt hat er vierzig Kameras von der Art gekauft, die wir in den Lüftungsschächten in deinem Häuschen gefunden haben.“

Taylor brauchte einen Moment, um diese neuen Informationen zu verdauen. „Todd Wolff war dafür verantwortlich, die Kameras in meinem Haus zu installieren? Wie zum Teufel ist das möglich?“

„Nicht nur in deiner Hütte. Unsere Theorie lautet wie folgt: Wir haben noch mehr hochgeladene Videos zur Selectnet-Seite verfolgt. Eine ganze Menge von ihnen stammt aus Nashville. Todd ist der Leiter von Wolff Construction. Es ist ganz einfach – wenn er ein Haus baut, baut er die Kameras gleich mit ein. Die Eigentümer haben keine Ahnung, und er kann all die ungeschnittenen Amateurfilme auf die Website laden.“

Taylor stieß einen langen Pfiff aus. „Ist euch bewusst, wie viele Häuser er gebaut hat? In allen von ihnen könnten Kameras sein.“

„Nun, wir vermuten mindestens vierzig.“

„Aber meine Hütte hat er nicht gebaut. Wie konnte das passieren? Wie ist Wolff in mein Haus gelangt?“

„Hier kommt der geniale Teil des Plans. Bevor er mit Wolff Construction ins Hausbaugewerbe eingetreten ist, war er Restaurateur. Er wurde von Versicherungsfirmen eingesetzt, um entstandene Schäden zu beheben. Wenn zum Beispiel jemand einen Wasserschaden in der Dusche hatte, musste er den seiner Versicherung melden, um ihn reparieren zu lassen. Die Versicherungen haben Verträge mit bestimmten Bauunternehmern geschlossen, die diese Arbeiten übernehmen. Wir haben es überprüft. Wolff Construction war eine dieser Firmen. So hat er – zumindest den Büchern zufolge – das Geld erwirtschaftet, das er brauchte, um sich dem Hausbau zu widmen. Der Kamerakauf ist erst letztes Jahr getätigt worden, also noch nicht lange her. Vielleicht hat er vorher schon viele, viele andere Kameras gekauft, die wir noch nicht in den Unterlagen gefunden haben.“

Taylor ließ den Gedanken sacken. Hatte sie irgendwann Handwerker in der Hütte gehabt? Sie erinnerte sich nicht … oh, doch. Ein Jahr nach ihrem Einzug hatte sie ein paar Kleinigkeiten in der Küche umbauen lassen. Aber das war kein Versicherungsschaden gewesen, und sie erinnerte sich auch nicht daran, mit Wolff Construction zusammengearbeitet zu haben. Sie versuchte krampfhaft, sich an den Namen der Firma zu erinnern, die sie beauftragt hatte, doch er fiel ihr nicht mehr ein. Sie erzählte Lincoln davon.

„Daran habe ich auch schon gedacht. Vor seiner Zusammenarbeit mit den Versicherungen hat er für seinen Vater gearbeitet. Dem gehörten mehrere Firmen, unter anderem …“

„Remedy. Remedy Remodelers. Verfluchter Mistkerl.“

„Exactamente.“

„Wow, Lincoln. Du hast fantastische Arbeit geleistet.“

„Ach, das war ich nicht allein. Marcus hat mir geholfen.“

„Wie großzügig von dir“, erwiderte Marcus.

„Denk dir nichts dabei“, gab Lincoln zurück.

Taylor blendete das Geplänkel aus. Die Auswüchse von Wolffs illegalen Aktivitäten würden ernsthafte Folgen haben. Sie mussten mit der Presse reden und die Leute warnen. Was auch bedeutete, Selectnet.com zu schließen. Auch wenn die Seite aus dem Verkehr gezogen war, mussten sie die Anführer noch zur Rechenschaft ziehen. Dazu brauchte sie Baldwins Hilfe.

„Wir müssen unter anderem eine Pressekonferenz einberufen. Ich werde Baldwin anrufen. Wie viele Informationen habt ihr, die wir nutzen können, um Selectnet.com anzuklagen? Denn die müssen jetzt als Erste hochgehen.“

„Darum kümmert sich Price bereits. Er konferiert gerade mit Dan Franklin; sie entwerfen gemeinsam die Medienkampagne. Er hat es uns überlassen, den Fall abzuschließen. Hier ist also der Rest der Geschichte.“

„Es geht noch weiter?“

„Viel weiter. Marcus, erzähl du. Ich hab schon ’nen ganz trockenen Mund.“

„Gut. Wir haben die IP-Adresse zu Selectnet.com zurückverfolgt. Die Spur des Geldes führt von Kalifornien direkt wieder zurück nach Nashville. Sagt dir der Name Henry Anderson etwas?“

Der Name durchzuckte Taylor wie ein Blitz. Das Bild des dazu passenden Mannes tauchte sofort vor ihrem inneren Auge auf. Ein Name aus der Vergangenheit.

„Macht ihr Witze?“

Beide schüttelten den Kopf.

„Ihr kennt die Geschichte hinter Henry Anderson?“, fragte sie.

„Wir haben uns damit vertraut gemacht. Er war einer von den Jungs, die du hast hochgehen lassen, so viel wissen wir. Du hast ihn wegen Kindesmisshandlung ins Gefängnis gebracht. Er hat dich wegen Brutalität verklagt.“

„Ha. Ich habe ihm in die Eier getreten, als er versucht hat, sich der Verhaftung zu entziehen. Er hatte es verdient. Kindesmissbrauch war der einzige Anklagepunkt, den wir ihm anhängen konnten. Und es war nicht mal ein Kapitalverbrechen. Damals hatte es nicht die gleiche Bedeutung wie heute. Ich denke, die schlussendliche Anklage lautete Kindsgefährdung. Mehr konnten wir nicht tun. Eine echte Schande. Henry ist ein ziemlicher Schmierlappen. Er hat damals Filme gemacht. Er hat ein paar Jahre abgesessen und ist dann wieder freigekommen.“ Sie hielt inne und schnippte mit den Fingern. „Die Filme. Das ist es, oder? Henry ist Todd Wolffs Wohltäter.“

Lincoln nickte. „Das glauben wir zumindest. Er ist definitiv der Eigentümer von Selectnet.com, und seine Geschäfte scheinen noch weitreichender zu sein. Wir lassen gerade noch alle Informationen durchlaufen, aber wir haben auf jeden Fall genug, um ihn direkt mit Minderjährigenpornos in Verbindung zu bringen. Neben tausend anderen Gesetzesbrüchen.“

Taylor trat an das kleine Fenster in ihrem Büro und schaute auf die 2nd Avenue hinaus. Staub lag in der Luft, vermutlich von der Baustelle ein Stück die Straße hinunter. Die Staubpartikelchen tanzten im Licht der Sonne. Hübsch. Im Gegensatz zu ihren momentanen Gedanken. Sie riss ihre Aufmerksamkeit von dem Staubballett los und drehte sich wieder zu ihren Mitarbeitern um.

„Ich wusste nicht, dass er sich immer noch im Staat aufhielt. Henry Scheißkerl Anderson. Er ist ein echt fieser Kerl. Ich hatte so meine Schwierigkeiten mit ihm. Er hat mich mit allem verfolgt, was er hatte, hat versucht, meine Aussage in Misskredit zu bringen, hat Klage gegen mich eingereicht. Sie ist allerdings abgelehnt worden. Ich habe ihn in flagranti dabei ertappt, wie er seinen Schwanz einem Kind ins Gesicht hält, und er hat versucht, mich zu diskreditieren.“ Sie brach ab. All die kleinen Puzzleteile fielen jetzt an ihren Platz.

„Tony Gorman. Ihr habt gesagt, er war Mitglied bei Selectnet. Er hat Henry Bescheid gegeben, dass ich sein Unternehmen auf dem Kieker habe. Ich wette eine Million Dollar, dass die Anklagen gegen mich aus dieser Richtung kommen. Und Delores Norris hat sie sich angehört und mich suspendiert. Ich bin bei Gormans Befragung ein wenig drastisch geworden. Allein hätte Gorman nie den Mut gehabt, etwas zu unternehmen, aber mit ein wenig Unterstützung … Henry ist ein Meister der Manipulation. Unglaublich.“

Lincoln und Marcus waren ganz aufgeregt. „Nachdem wir heute Abend mit Wolff gesprochen und ihm die ganzen Informationen um die Ohren gehauen haben und wissen, welche Rolle er bei alldem spielt, können wir ihn sicher auch dazu bringen, den Mord an seiner Frau zu gestehen. Auf ihn warten so viele verschiedene Anklagen und Jahre im Gefängnis, dass es ihm egal sein kann. Sich des Mordes schuldig zu bekennen ist die kleinste seiner Sorgen.“

„Das können wir nur hoffen. Kommt, bringen wir Page auf den neuesten Stand und erklären ihr, was los ist. Dann müssen wir Henry Anderson verhaften. Ich nehme an, du hast ihn bereits gefunden, Lincoln?“

„Klar.“ Er schenkte ihr ein zufriedenes Grinsen. „Er ist gleich hier in der Datenbank für Sexualstraftäter. Fein säuberlich registriert, der brave Junge.“