26. KAPITEL

Taylor war entsetzt, als das durch das südliche Fenster ins Wohnzimmer strömende Sonnenlicht sie weckte. Sie schaute auf ihre Uhr – sechs Uhr morgens. Wie zum Teufel konnte das sein? Sie hatte zehn Stunden am Stück geschlafen. Tiefschlaf war normalerweise ein Fremdwort für sie, schon gar einer, der einen ganzen Abend und die Nacht über dauerte. Sie fühlte sich ein wenig benebelt, aber als sie sich aufsetzte, merkte sie, wie erholt sie war. Guter Gott. Wenn sie das jeden Abend haben könnte, wäre sie im Himmel.

Sie stand auf, zog ihre Stiefel aus und ging in die Küche, um einen Schluck Wasser zu trinken. Als sie aus dem Fenster schaute, sah sie ihren Nachbarn über den Rasen auf ihr Haus zukommen. Sie ging zur Hintertür, um ihn zu begrüßen. Dabei fiel ihr auf, dass sie am Abend zuvor vergessen hatte, die Alarmanlage einzuschalten.

Einen Moment später klopfte Don Holmes auch schon und rüttelte dann mit einem manischen Grinsen im Gesicht an den Fensterläden. Im Gegensatz zu ihr schien Don ein wahrer Morgenmensch zu sein. Sie öffnete die Tür und wappnete sich gegen die Wortflut, die, wie sie wusste, jetzt folgen würde.

„Guten Morgen, Don. Wie geht es dir?“

„Gut, Taylor. Ein wunderschöner Morgen, findest du nicht? Ich wollte dir nur sagen, dass du ein totes Kaninchen im Garten gehabt hast, um das ich mich gekümmert habe. Jemand hatte es getötet und dann einen Blumentopf darüber gestülpt. Verrückt. Die Hunde haben es endlos angebellt, also habe ich alles weggeräumt und den Kadaver weggeschmissen. Wusstest du, dass das Kaninchen einen Draht um den Hals hatte? Was meinst du, wie das passiert ist? Vielleicht Kinder, die im Wald gespielt haben. Wie auch immer, ich wollte es dich nur wissen lassen. Ich bin ein wenig in Eile, muss zur Arbeit. Ich wünsch dir einen schönen Tag!“

Und weg war er. Ihre Nachbarn waren sehr nett, aber manchmal auch ein wenig verrückt. Aber das erklärte wenigstens, was passiert war. Und forensische Spuren auf einem Kaninchenkadaver zu finden war eh ein wenig weit hergeholt. Zumindest wusste sie jetzt, dass sie sich das alles nicht nur eingebildet hatte.

Sie ging nach oben, um zu duschen. Danach schlüpfte sie in Jeans, Cowboystiefel und ein schwarzes T-Shirt und ging zurück in die Küche. Nachdem sie Tee aufgesetzt hatte, befestigte sie ihre Waffe an ihrem Gürtel. Don war bestimmt schon weg, sodass sie es wagen konnte, ihren Tee auf der Veranda zu trinken. Sie nahm das Telefon mit. Sie musste wissen, was bei Baldwin los gewesen war, während sie tief und fest geschlafen hatte. Und sie wollte den Streit zwischen ihnen bereinigen.

Don fuhr gerade aus der Garage. Sie winkte ihm aus ihrem Lieblingsstuhl zu. Jetzt hatte sie alle Privatsphäre, die sie brauchte.

Baldwin ging nach dem ersten Klingeln ran.

„Guten Morgen.“ Sie wählte eine neutrale Eröffnung, weil sie nicht sicher war, wie es zwischen ihnen stand.

„Hi“ war alles, was er sagte.

„Du bist doch nicht immer noch sauer auf mich, oder?“

„Wer sagt, dass ich sauer bin?“

„Du klingst so. Ich möchte dich daran erinnern, dass ich mir die ganze Sache nicht ausgesucht habe.“

Sie hörte ihn seufzen. „Waffenstillstand, okay? Ich habe falsch reagiert. Ich wollte zu deiner Hilfe eilen und konnte es nicht. Und ich bin es nicht gewohnt, deine schnippische Seite zu hören.“

Darüber dachte sie einen Moment lang nach. Er hatte ihr zu Hilfe kommen wollen. Er hatte recht, sie war zickig gewesen. Aber sie fand immer noch, dass sie das Recht dazu gehabt hatte.

„Okay. Es tut mir leid. Ich hätte dich nicht anschreien dürfen.“

„Und nicht einfach auflegen. Tut dir das auch leid?“

Sie wand sich. Reue zu zeigen lag ihr überhaupt nicht. „Ja. Das war kindisch. Okay?“

Er schwieg eine Sekunde, und sie wusste, dass er ihr vergeben hatte. „Okay. Warum klingst du überhaupt so fröhlich?“

„Du wirst es nicht glauben. Ich bin gerade eben erst aufgewacht. Gestern Abend bin ich einfach auf der Couch ins Koma gefallen. Abgesehen von dieser Videogeschichte geht es mir großartig.“

„Vielleicht sollten wir doch mal Schlaftabletten kaufen, damit du öfter so ausgeruht bist.“ Er zog sie auf, und sofort besserte sich ihre Laune. Alles würde wieder gut werden.

„Don, der Dampfquassler, war hier …“ Sie verstummte. Baldwin wusste ja noch nichts von dem Kaninchen oder dem Stalker oder dem überwältigend gruseligen Gefühl, das sie seit ein paar Tagen immer wieder heimsuchte. Zeit, das Thema zu wechseln.

Sie trank einen Schluck Tee. „Und, gibt es bei dir irgendwelche Fortschritte?“

„Ja, die gibt es tatsächlich. Wir …“

Sie hörte ihm gar nicht richtig zu. Über die Verandabrüstung hinweg sah sie einen Mann am Rand des Waldes stehen, der direkt an ihr Grundstück grenzte. Ihr Herz setzte zwei Schläge aus und überflutete ihren Körper dann mit Adrenalin. Ihr Blick schärfte sich, sie konnte jedes Detail erkennen. Sie wusste sofort und ohne einen Zweifel, dass er es war. Der Mann, der das Kaninchen hinterlassen hatte, der sie nachts anrief, der sie in ihren Träumen verfolgte. Er sah, dass sie ihn anschaute, und lächelte. Dann drehte er sich um und verschwand zwischen den Bäumen.

Sie schaute hektisch nach Osten. Don war längst weg, auf dem Weg zu seiner Firma, das Garagentor hatte sich bereits hinter ihm geschlossen. Sie war allein. Und halluzinierte oder befand sich tatsächlich in Gefahr.

„Baldwin, ich … ich muss dich später zurückrufen.“

„Was ist? Ist was passiert?“ Er klang alarmiert. Offensichtlich war es ihr nicht gelungen, ihre Besorgnis aus ihrer Stimme herauszuhalten.

„Nein, es ist nichts. Hier lungert nur so ein Verrückter herum, der mich mit obszönen Anrufen belästigt und so. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er eben an der Grundstücksgrenze gestanden und mich angestarrt hat. Ich werde …“

„Bist du bewaffnet?“

Baldwin klang seltsam distanziert. Diese Stimme kannte sie an ihm nicht, und die implizierte Bedrohung ließ ihr einen Schauer über den Rücken laufen. Sie erstarrte, öffnete dann die Sicherung an ihrem Holster und holte ihre Glock heraus. Sie nahm sie in die Hand und legte ihren Finger an den Abzug.

„Ja“, flüsterte sie.

„Hör mir jetzt gut zu. Ich will, dass du ins Haus gehst, Alarm auslöst und über dein Handy Verstärkung rufst. Leg dieses Telefon nicht auf, Taylor, hast du mich verstanden?“

Sie diskutierte nicht, sondern ging wie befohlen ins Haus, schloss die Tür hinter sich, trat an die Bedientafel für die Alarmanlage und drückte den Knopf, der einen stummen Alarm an die Sicherheitsfirma schickte, die ihr Haus überwachte. Dieser Alarm würde ihnen verraten, dass sie sich in unmittelbarer Gefahr befand und die Polizei auf schnellstem Weg ohne Blaulicht und Sirenen zu ihr kommen musste.

Bisher hatte es noch nie einen Anlass gegeben, den stummen Alarm zu nutzen, und alleine das Drücken des Knopfes ließ ihr die Nackenhaare zu Berge stehen. Baldwin hatte beim Einbau der Alarmanlage auf diesem Feature bestanden. Sie fragte sich, ob das hier der Grund dafür gewesen war. Er wusste irgendetwas.

„Baldwin. Ich habe den stummen Alarm ausgelöst. Sag mir, was los ist.“

„Das kann ich nicht. Aber beschreib mir die Person, die du gesehen hast.“

„Hey, sag mir erst, was hier los ist.“

„Taylor, ich bitte dich, mir zu vertrauen. Erzähl mir einfach, wie er aussah.“

Taylor rief sich das Bild des Mannes ins Gedächtnis. Sie spürte, wie ihr Puls zu rasen anfing, als sie ihn wieder vor sich sah.

„Groß, mindestens eins neunzig. Braune Haare, eher länger, sie fallen ihm über das rechte Auge. Beige Hose, cremefarbener Pullover unter einer blauen Windjacke. Mehr konnte ich nicht erkennen.“

„Wenn ich dir ein Bild faxe, meinst du, du würdest ihn wiedererkennen?“

„Du weißt, wer das ist? Was zum Teufel ist hier los?“

„Taylor … hol dir einfach das Fax. Ich schicke es in diesem Moment rüber. Ich glaube, ich weiß, wer er ist. Und wenn das stimmt, dann bist du in großer Gefahr.“

„Ich kann ganz gut selbst auf mich aufpassen, Baldwin. Wenn er nicht gerade die Fähigkeit besitzt, Kugeln abzuwehren …“

„Nein, vor ihm kannst du dich nicht selbst schützen. Niemand ist vor ihm sicher, ob bewaffnet oder nicht. Wirf einfach einen Blick auf das Fax, Taylor.“

Seine Stimme klang angespannt und hatte einen Unterton, den sie noch nie zuvor gehört hatte. Angst. Was nicht gerade zu ihrer Beruhigung beitrug. Sie rannte, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf und ging in Baldwins Büro im ersten Stock. Das Fax war schon da. Sie nahm es und schaute es sich genau an.

„Ja, Baldwin. Das ist der Kerl.“

„Oh Gott.“ Baldwin atmete schwer in den Hörer. „Wo zum Teufel bleiben die Cops?“

„Äh, Babe? Ich bin auch ein Cop, falls du das vergessen hast.“ Es klingelte an ihrer Tür. „Hörst du? Sie sind da.“

„Sieh genau nach, bevor du aufmachst.“

Sie ging die Treppe hinunter und hörte, wie Baldwin im Hintergrund jemanden anschrie. Wow, so hatte sie ihn noch nie erlebt. Dieser Typ musste ja eine ganz schön fiese Nummer sein.

Es klingelte noch einmal. Durch die Glasscheibe konnte sie eine Bewegung auf der anderen Seite der Tür erkennen. Sie streckte die Hand nach dem Türknauf aus. Er fühlte sich heiß an, aber sie wusste, dass das nur ihre Einbildung war. Sie drehte den Knauf und öffnete die Tür.

Der Anblick, der sich ihr bot, sah aus wie die Apokalypse. Surreal. Wie aus einem schlechten Film. Zwei kräftige Männer, der eine blond, der andere rothaarig, lagen in einer Blutlache am Fuß ihrer Treppe. Auf der Straße vor ihrem Haus parkte ein frühes Modell eines grauen Ford Taurus, was ihr sagte, dass die beiden die verdeckte Einheit waren, die ihre Sicherheitsfirma zu ihr geschickt hatte. Ihre Kehlen klafften auf, sie waren mit einem scharfen Messer glatt durchgeschnitten worden. Der Rothaarige lebte noch, aber nur so gerade eben. Sie sah, dass er mit den Lippen wieder und wieder das Wort „Sorry“ formte. Dann wurden seine Augen ausdruckslos, leer. Und während sie ihn noch beobachtete, hörte sein Mund auf, sich zu bewegen.

Aus dem Augenwinkel nahm sie den Mann wahr, den sie vorhin am Waldrand gesehen hatte und der nun mit den Händen in den Hosentaschen in ihrem Vorgarten stand. Sie hob den Blick, und die Welt hörte auf, sich zu drehen. Sie starrten einander an, die Blicke ineinander verhakt. Er bewegte sich nicht auf sie zu, bedrohte sie nicht. Dann nickte er, schürzte die Lippe und schickte ihr einen Luftkuss. Taylor blinzelte, sie konnte nicht glauben, was ihr Gehirn ihr da mitteilte. Dann war er fort. Es waren keine zwei Sekunden vergangen.

„Oh mein Gott“, schrie sie. Sie warf die Tür zu und schob den Sicherheitsbügel vor. Jesus, sie hatte eine klare Schusslinie auf ihn gehabt und nicht einmal die Waffe gehoben. Was war mit ihr los? War sie erstarrt gewesen? Hatte sie ihn sich nur eingebildet? Durch ihre Ausbildung hätte sie eigentlich aus dem Unterbewusstsein reagieren müssen. Die Waffe ziehen und schießen. Warum hatte sie das nicht getan? Sie war verwirrt und kam erst wieder zu sich, als sie jemanden schreien hörte.

„Was, was, was?“, brüllte Baldwin ihr ins Ohr. Sie ignorierte ihn einen Moment, rannte nach oben und holte sich ein zweites und drittes Magazin für ihre Pistole. Dann setzte sie sich auf die oberste Treppenstufe, legte ihre Waffe auf ihren Schoß, zog ihr Handy hervor und wählte die Nummer vom Revier. Zwei Telefone, eine Waffe und ein Verdächtiger, der Streiche mit ihrer Wahrnehmung spielte. Die Zusammenstellung gefiel ihr überhaupt nicht.

„Warte kurz“, sagte sie zu Baldwin, als die Vermittlung des Reviers sich meldete.

„Nashville Police.“

„Hier ist Lieutenant Jackson. Code drei, 10-51, 10-54. Ich wiederhole, 10-51, 10-54! Officer brauchte Verstärkung. Code drei. Ich brauche hier sofort Verstärkung an meinem Haus. Ich habe einen Verdächtigen auf dem Grundstück, bewaffnet und gefährlich, ich wiederhole, er ist bewaffnet und gefährlich. Er hat gerade zwei Sicherheitsleute auf meiner Vordertreppe getötet. Ich habe keinen Sichtkontakt mehr zu ihm – ich bin in meinem Haus eingeschlossen. Ich brauche die Verstärkung jetzt!“

„Oh gütiger Gott.“ Baldwin fluchte.

Der Beamte in der Telefonzentrale fragte ungläubig nach: „Lieutenant, bestätigen Sie das bitte noch einmal für mich. Sie haben einen 10-51, 10-54, Code drei, getötete Beamte. Wir kommen mit Lichtern und Sirenen, Lieutenant. Voraussichtliche Ankunftszeit in drei Minuten. Sind Sie okay?“

„Bestätigt, Sicherheitsbeamte tot. Ich bin unverletzt, würde mich aber besser fühlen, wenn ich nicht allein wäre. Sagen Sie ihnen, der Verdächtige ist eins neunzig groß, braune Haare, beige Hose, cremefarbener Pullover, blaue Windjacke.“

„Mach ich, LT. Seien Sie vorsichtig.“

Sie legte auf. In der Ferne konnte sie bereits das Heulen der Sirenen hören. Sie wusste, dass alles gut werden würde, aber trotzdem zitterten ihre Hände. Sie steckte das Handy zurück in die Gürteltasche und nahm die Glock in die Hand. So schnell könnte er niemals die Tür aufbrechen und hereinkommen, und selbst wenn, sie hatte ihre Waffe über die Treppe auf die Haustür gerichtet. Schweißtropfen bildeten sich auf ihrer Stirn, an ihrem unteren Rücken, zwischen ihren Brüsten. Sie atmete ein paar Mal tief durch und versuchte, das Adrenalin unter Kontrolle zu bekommen. Langsam machte sich Wut in ihr breit. Sie zischte Baldwin an.

„Was in drei Teufels Namen ist hier los? Und woher kennst du den Typen? Sprich schnell, die Kavallerie ist im Anmarsch.“

„Oh Taylor. Es tut mir so leid. Ich hätte meinem Instinkt vertrauen sollen. Ich wusste, dass du in Gefahr schwebst, ich habe nur nicht geahnt, dass er sich so schnell zu dir aufmachen würde. Ich steige sofort in ein Flugzeug. Der Pilot fährt die Maschinen bereits hoch. In fünfzehn Minuten bin ich in der Luft. Wenn die Kollegen die Gegend gesichert haben, sieh zu, dass du da wegkommst. Geh ins Büro, such dir jemanden, der zu deinem Schutz ständig bei dir ist. Falls dich das beruhigt, er will eigentlich mich.“

„Wer will dich? Baldwin, was du sagst, ergibt keinerlei Sinn.“

Es wurde heftig an ihre Tür gehämmert. Sie schaute aus dem Fenster. Vier Streifenwagen und mehrere Leute hatten sich in ihrem Vorgarten verteilt. „Sie sind da. Ich muss mich jetzt darum kümmern. Du kommst direkt hierher?“

„Ich bin in einer Stunde da.“

„Wer ist er, Baldwin?“ Sie ging die Treppe hinunter und hörte förmlich, wie er am anderen Ende der Leitung mit sich rang. Zu wissen, dass er käme, verlieh ihr die Kraft, die Tür zu öffnen und sich noch einmal dem grauenhaften Anblick der beiden toten Wachmänner auszusetzen. Überall waren Waffen, schwarz und gefährlich, vor unausgelebter Wut nur so überquellend. Der Geruch von Blut hing schwer in der Luft. Die Hunde auf der anderen Straßenseite bellten sich die Kehle aus dem Leib.

„Wer ist er?“, fragte sie erneut.

„Sein Name ist Aiden“, antwortete Baldwin. „Doch man könnte ihn genauso gut den Tod in Person nennen.“