27. KAPITEL
Taylor saß im Pausenraum des CJC und spielte mit einem Styroporbecher. Sie schaute zum gefühlten tausendsten Mal auf die große Industrieuhr, die an der Wand hing. Verdammt, es war beinahe Mittag. Wann würden sie endlich mit ihr reden wollen? Und wo blieb Baldwin?
Das Gefühl, hilflos ausgeliefert zu sein, nichts tun zu können, war schlimmer als alles, was sie je empfunden hatte. Warten gehörte nicht gerade zu ihren Stärken. Leuten in den Arsch zu treten, erst zu schießen und sich später Gedanken um die Folgen zu machen, das war ihr Job. Herumzusitzen und sich beschützen zu lassen hatte nicht in dem Vertrag gestanden, den sie unterschrieben hatte, um Polizistin zu werden. Sie war diejenige, die andere beschützen sollte.
Stattdessen saß sie in diesem viel zu hellen Raum, abgeschnitten von jeglicher Kommunikation. Herrgott noch mal, es war ihr sogar nicht erlaubt gewesen, selbst ins Büro zu fahren. Baldwin hatte wohl Price angerufen, denn ein kräftiger Streifenbeamter namens Bud hatte sie förmlich aus dem Haus getragen und in seinen Streifenwagen verfrachtet. Dann war er mit quietschenden Reifen in den sich langsam entfaltenden Morgen gefahren, während sie leicht benebelt von den Aktivitäten der letzten Minuten hilflos auf dem Beifahrersitz gesessen hatte. Sie war es nicht gewohnt, herumgeschubst zu werden.
Price hatte an der Tür des CJC mit herabhängendem Schnurrbart auf sie gewartet. Müdigkeit, Wut, Hunger – all das konnte man ihm an seinen Barthaaren ansehen. Taylor hatte schon vor langer Zeit gelernt, das Zucken seiner Lippen zu lesen, bevor sie ihm in die Augen schaute. Als sie merkte, wie abgekämpft er war, schaute sie ihm gar nicht erst in die Augen. Was sie da sehen würde, würde sie nur noch mehr aufregen. Ganz offensichtlich erzählte man ihr nicht, was hier wirklich los war.
Sie war kurz befragt worden, dann hatte man sie in diesen Raum gebracht, ihr einen Becher Kaffee gegeben und sie gebeten, hierzubleiben. Price hatte die Tür hinter sich geschlossen, und sie erwartete beinahe, das Klicken des Türschlosses zu hören, doch das passierte nicht. Dennoch beschloss sie, auf ihren Boss zu hören und ruhig abzuwarten. Die Minuten vergingen. Zehn, fünfzehn, dreißig, fünfundvierzig. Beinahe eine Stunde verging ohne ein Wort. Als der große Zeiger die Zwölf erreichte, hielt sie es nicht länger aus.
Ach, verdammt, dachte sie. Sie stand auf, warf den Becher in den Mülleimer und legte ihre Hand auf den Türknauf. Als sie die Tür öffnete, sah sie Baldwin wie eine wärmegesteuerte Rakete auf sich zukommen. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, aber er lächelte. Es lag noch ein kleines bisschen Spannung von ihrem Streit in der Luft, aber als er seine Lippen auf ihre presste, war all das vergessen. Sie genoss seinen Kuss, seine Nähe. Sie schlang ihre Arme um seinen Körper und fragte sich, ob er immer so warm war. Da sie nicht diejenige sein wollte, die den Kuss beendete, wartete sie, bis er sich zurückzog. Dann löste sie sich atemlos von ihm, knallte die Tür zu und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Das hat länger als eine Stunde gedauert. Jetzt sprich“, befahl sie.
„Warte eine Minute“, erwiderte er. „Price ist …“
Die Tür zum Pausenraum öffnete sich erneut, und Taylor sprang zur Seite. Price trat ein. Er sagte nichts, sondern nahm sich nur einen Becher Kaffee. Dann setzte er sich an einen Tisch, nahm einen großen Schluck und zog eine Grimasse.
„Mein Gott, ist der schlecht. Der muss schon älter sein.“ Er drehte sich um, schüttete den Rest in die Spüle, stellte den Becher auf dem Tisch ab und seufzte schwer.
„Captain, was ist hier los?“ Taylor bemühte sich, ruhig zu bleiben. Was nicht leicht war, denn langsam war sie ernstlich genervt.
Price und Baldwin tauschten einen Blick aus. Prices Nicken war kaum wahrnehmbar. Baldwin bedeutete Taylor, sich zu setzen. Sie funkelte die beiden Männer kurz an und nahm sich dann einen Stuhl.
„Also was?“, fragte sie.
„Okay.“ Baldwin zog sich ebenfalls einen Stuhl heran und setzte sich. „Im Moment passieren zwei Dinge. Wir suchen die Wälder hinter unserem Haus nach Aiden ab. Er ist extrem gefährlich und wütend auf mich, was ihn noch furchteinflößender macht.“
„Baldwin, wer ist er?“
Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Das ist eine sehr lange Geschichte.“ Er schaute Price an. „Dieser Mann steht auf unserer Fahndungsliste. Er wird international gesucht, was der Grund dafür ist, dass ihr nichts von ihm wisst. Wir haben keine Ahnung, warum er jetzt in den Staaten ist.“ Price nickte, und Baldwin wandte sich wieder an Taylor. „Aber es gibt noch etwas anderes, um das du dich zuerst kümmern musst.“
„Sag mir einfach, was los ist.“
Beide Männer schwiegen. Taylor wartete einen Moment. Düstere Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Als weiterhin keiner ein Wort sagte, hob sie frustriert die Hände.
„Um Himmels willen, ich kann damit schon umgehen. Ist mein Vater aus dem Gefängnis ausgebrochen oder meine Mutter gestorben?“
„Nein“, sagte Baldwin.
„Dann ist es auch nicht das Ende der Welt. Sag es mir einfach. Du weißt, dass ich so etwas nicht leiden kann. Hör auf, mich beschützen zu wollen.“
Baldwin schaute Price an, dann wieder Taylor. „Die Presse hat deine Videos.“
Taylor rührte sich nicht, doch ihr Herz flatterte wie verrückt. Sie hatte zu viel versprochen. Der Jüngste Tag war über sie hineingebrochen. „Nein“, sagte sie.
Price räusperte sich. „Doch. Und es kommt noch schlimmer. Es gibt eine Aufnahme von der Nacht, in der David Martin gestorben ist. Sie zeigt, wie du ihn erschossen hast.“
„Ich weiß, dass ich ihn erschossen habe. Ich war dabei, falls du dich erinnerst. Er hat mich durch die Hütte gejagt und versucht, mich zu töten. Ich musste ihn erschießen. Entweder er oder ich.“ Ihre Stimme klang schwach, und sie setzte sich aufrechter hin. „Es war er oder ich“, wiederholte sie fester. „Das weiß inzwischen jeder.“
Baldwin nickte. „Wir wissen das. Aber das Video, das im Umlauf ist, gibt das nicht ganz so wieder.“
„Was willst du damit sagen? Wenn es von der Kamera ist, die uns beim Sex gefilmt hat – entschuldige, Captain –, dann zeigt es genau, was passiert ist. Ich habe die Sexvideos gesehen. Der Winkel ist perfekt.“
„Der Winkel ist perfekt, das stimmt. Aber es sieht nicht nach Selbstverteidigung aus. Er fleht dich an, nicht zu schießen, und du machst einen Schritt auf ihn zu und drückst ab.“ Sie wollte etwas sagen, aber Price hob seine Hand. „Ich weiß, dass du ihn nicht so getötet hast. Deine Version der Vorfälle hat vor Gericht standgehalten, und ich weiß, dass du nicht lügen würdest. Aber jemand hat es so geschnitten, dass es aussieht, als wäre es genau so passiert. Und dieses Band ist der Presse zugespielt worden. Nun haben wir ein kleines Problem, wie du dir sicher vorstellen kannst.“
„Was für ein Problem? Ich gebe ein Interview und erkläre, was passiert ist und dass sie da eine Fälschung vorliegen haben.“
Baldwin und Price tauschten wieder einen Blick.
Price sprach als Erster. „Taylor, ich kann das nicht alleine regeln. Wir müssen uns mit der Internen Ermittlung zusammensetzen. Die sind schon ganz aufgeregt.“
„Jetzt?“
„Ja.“
Sie schaute Baldwin an.
„Mach dir keine Sorgen, Babe“, sagte er. „Alles wird gut. Geh mit Price. Ich muss noch ein paar Anrufe tätigen. Wir kriegen das schon hin, das verspreche ich dir. Okay?“
Taylor starrte ihn an und sah, dass er sich Mühe gab, gefasst zu wirken. Es musste schlimmer um sie stehen, als sie ahnte. Sie befeuchtete sich ihre Lippen und schenkte ihm ein kleines Lächeln. Ihr fiel auf, dass er die Luft angehalten hatte.
„Okay.“ Sie wandte sich an Price. „Aber Captain, eines interessiert mich. Wie ist dieses Video an die Presse gelangt?“
Er hatte so viel Anstand, betreten auszusehen. „Ich habe heute Morgen gegen halb acht einen anonymen Anruf erhalten. Der Anrufer sagte, du wärst in einer kompromittierenden Situation gefilmt worden, und versicherte mir, dass das Video in den Mittagsnachrichten gezeigt würde. Aber wer auch immer das veranlasst hat, sie haben ihren Angriff koordiniert, Taylor. Die Sexvideos sind noch nicht gezeigt worden, sie liegen den nationalen Kabelsendern aber vor. Die Arschlöcher haben sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Quelle zu verifizieren. Es war draußen, bevor ich eine Chance hatte, es aufzuhalten.“ Seine Stimme brach. „Und ich habe es versucht, Taylor. Ich habe es wirklich versucht. Wir könnten verlangen, dass sie die Geschichte unterdrücken, aber das wäre nur wie Öl ins Feuer zu gießen. Die Sexvideos und der Film mit der Schießerei sind sorgfältig geplant worden, um dich zu Fall zu bringen. Wir werden aber einen Weg finden, das aufzuklären, ich schwöre es.“
Oh, das war nicht gut. Das war überhaupt nicht gut. Das Wort national hallte wieder und wieder durch Taylors Kopf und gab ihr einen Vorgeschmack, womit sie es hier wirklich zu tun hatte. Taylor schloss die Augen und versuchte, sich an das letzte Mal zu erinnern, als sie vor die Kollegen der Internen Ermittlung zitiert worden war. Damals war es nicht sonderlich gut für sie gelaufen. Inzwischen gab es dort neue Leute, eine neue Führung. Vielleicht würde alles glattgehen. Doch der Knoten in ihrem Magen verriet die tiefer sitzende Angst. Sie zuckte zusammen, schluckte einmal und öffnete ihre Augen wieder.
„Mist“, sagte sie.