12. KAPITEL
Taylor wühlte sich durch die Vorgänge des Nachmittags in dreifacher Ausfertigung, als ihr Telefon klingelte. Sie erkannte die Durchwahl von Sams Anschluss in der Rechtsmedizin und warf einen Blick auf die Uhr. Fünf. Zu früh für die toxikologischen Berichte. Beim zweiten Klingeln nahm sie ab. Ohne eine Begrüßung sprudelte Sams enthusiastische Stimme aus dem Hörer.
„Weißt du eigentlich, wie viel Glück du hast?“
Taylor lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und legte die Füße auf den Schreibtisch. „Nein, in diesem speziellen Fall nicht. Warum?“
„Weil du jetzt nach Hause fahren, eine Dusche nehmen und dir etwas Schickes anziehen darfst, um den heutigen Abend mit mir zu verbringen.“
„Oh nein. Ich habe noch unglaublich viel zu tun und bin definitiv nicht in der Stimmung.“
„Du weißt noch nicht mal, worum es geht, und lehnst schon ab?“ „Ja.“
„Ach Taylor, du bist eine Spielverderberin. Ich bestehe darauf, dass du mich begleitest. Ich habe meine Verabredung für heute Abend verloren. Er ist bis über beide Ohren verknallt in eine Mikrobe, die in einer Petrischale in seinem Büro wächst. Ich brauche aber eine Begleitung. Es ist nicht schicklich, wenn eine junge Lady wie meine Wenigkeit ganz allein in der Stadt unterwegs ist. Also pack deinen Kram zusammen, fahr nach Hause und zieh dir etwas Elegantes an.“
Taylor stöhnte. „Elegant? Wo zum Teufel willst du mich hinschleppen?“
„Zum Dinner der American Cancer Society. Ich bin die Hauptsprecherin.“
„Nein, Sam. Definitiv und absolut nein“, sagte sie mit mehr Entschlossenheit, als sie verspürte.
„Großartig. Ich hol dich um Viertel vor sieben ab. Du solltest das rote Kleid tragen, das wir dir auf Barbados gekauft haben.“
„Das Kleid hat nicht genügend Platz, damit ich eine Waffe tragen kann.“
„Und das, meine liebe Freundin, ist genau der Punkt. Ich denke nicht, dass du im Frist Center jemanden erschießen musst.“
„Berühmte letzte Worte. Ich erinnere mich an das letzte Mal, als du mir gesagt hast, ich würde keine Waffe brauchen. Ich wurde entführt.“
„Nun, das wird heute Abend nicht passieren, das verspreche ich. Nur ein bisschen Gummiadler zum Essen und ein paar Gläser kostenloser Champagner. Du brauchst mal eine Pause. Ich wette, du warst schon wieder den ganzen Tag hinter den bösen Jungs her.“
„Natürlich war ich das. Das ist mein Job.“ Aber Sam hatte bereits aufgelegt. Taylor verdrehte die Augen, legte den Hörer auf und ließ ihre Füße zu Boden fallen.
Was für eine Wahl. Sie konnte an ihrem Schreibtisch sitzen, Papierarbeit erledigen, den Detectives aus der B-Schicht beim Furzen und Schlechte-Witze-Erzählen zuhören, während sie darauf warteten, dass es in einem ihrer Fälle einen Durchbruch gab. Oder sie könnte sich etwas umwerfend Unbequemes anziehen und sich einen Abend lang freundlich zeigen. Sie wusste nicht, welche Option schlimmer war.
Zweifelnd musterte Taylor das rote Kleid. Sie trug bereits einen halterlosen BH, halterlose schwarze Strümpfe und schwarze Stilettos. Sam und Simon hatten das Kleid von einem Urlaub in der Karibik mitgebracht. Sam hatte von dem eng anliegenden Schnitt geschwärmt und erklärt, dass es an ihrer Figur einfach umwerfend aussehen würde. Taylor hatte ihr gedankt, das Kleid aber nie anprobiert. Soweit sie das beurteilen konnte, war eine Briefmarke auch nicht viel kleiner.
Egal. Sie biss die Zähne zusammen und zog das Kleid über den Kopf. Sie war überrascht, wie schwer es sich anfühlte, wenn man bedachte, aus wie wenig Stoff es gefertigt war. Sie zupfte hier und da, und auf einmal floss der Stoff beinahe an ihr herunter. Das Kleid schmiegte sich an ihren Körper und betonte ihre Kurven an genau den richtigen Stellen. Sie schaute in den Spiegel. Heilige Muttergottes. Sam hatte recht. Es war hübsch. Zarte, tief angesetzte Spaghettiträger betonten ihr Dekolleté, und der Empireschnitt sorgte dafür, dass der Stoff leicht ihre Knie umspielte. Das sollte sie mal für Baldwin anziehen, es würde ihm sicher gefallen.
Sie ließ ihre vollen Haare offen über den Rücken fallen, legte noch einen Hauch Lidschatten und Mascara auf, und weil sie sich ein wenig verrucht fühlte, nahm sie dazu den dunkelroten Lippenstift und tupfte ein wenig Vaseline für einen sanften Glanz darauf. Fertig. Eine geheimnisvolle Fremde in Rot.
Jemand hupte. Taylor machte das Licht aus, eilte die Treppe hinunter, schnappte sich ihre Tasche und eine Stola und verließ das Haus durch die Vordertür. Die kleine Clutch war ein Kompromiss, den sie hatte eingehen müssen. Sie hasste es, eine Tasche mit sich herumzutragen, das passte nicht zu ihrem Lebensstil. Wenn sie eine Hosentasche für ihren Lippenpflegestift und einen Gürtel für ihr Holster hatte, war sie schon zufrieden.
Aber dieses Outfit bot keinen Platz, um eine Waffe zu verstauen. Sie hätte ein Messer in ihren Strumpfhalter stecken können und einen Ein-Schuss-Revolver in ihren Ausschnitt, aber das war zu unpraktisch. Also hatte sie sich für die schwarze Abendtasche aus Satin entschieden, die gerade groß genug für einen Taurus 941 Revolver im 22er Kaliber und mit einem schönen kurzen Lauf war. Eine der vielen „Spaß“-Waffen, die sie in ihrem Safe hatte. Ihre Pistole, die sie normalerweise am Knöchel trug, war ein wenig größer, eine 22er Beretta, die sie in einem handgemachten Lederpolster in ihren Stiefeln trug. Aber die Beretta war zu schwer, um sie in diesem kleinen Täschchen mit sich herumzutragen.
Sam hatte das Verdeck ihres BMW Cabrios heruntergelassen und stieß bei Taylors Anblick einen Pfiff aus, der eines Bauarbeiters würdig war.
Taylor zeigte ihr einen Vogel und rief: „Mach das verdammte Verdeck hoch. Es ist viel zu kalt, um so durch die Gegend zu fahren.“ Sie schloss die Tür hinter sich ab und ging wegen der ungewohnten Schuhe ein wenig unsicher zum Auto.
Sam lächelte nur. „Fein, Brummbär. Ich hatte gedacht, dir würde ein wenig frische Luft gefallen.“ Sie drückte einen Knopf, und das Verdeck fuhr surrend aus und klappte dann zu. „Du siehst hübsch aus.“
„Du auch.“ Sam trug ein dunkelblaues Kleid im griechischen Stil und dazu geschnürte Gladiatorensandalen. Ihre Haare hatte sie zu einem unordentlichen Knoten zusammengefasst. Der Pony fiel dicht und gerade geschnitten in die Stirn. Wie immer sah sie unangestrengt chic aus. Während Sam einen Gang einlegte und rückwärts auf die Straße fuhr, klappte Taylor die Sonnenblende herunter und schaute in den Spiegel. Mit dem roten Lippenstift kam sie sich ein wenig zu auffällig vor.
„Nichts machen! Du siehst fabelhaft aus.“
Taylor klappte die Blende wieder hoch und lächelte ihre beste Freundin an. „Danke.“
„Gern geschehen. Also, wie läuft es so?“
Während der fünfzehnminütigen Fahrt plauderten sie über alles und jeden, nur nicht über ihren Beruf. Sam glitt durch den leichten Verkehr, und als sie vor dem Frist Center hielten, fühlte Taylor sich so entspannt wie seit Tagen nicht mehr.
Sie gaben dem Parkwächter den Schlüssel und betraten das umwerfende Außenzelt des Museums. Die Feier hatte schon angefangen. Männer in dunklen Anzügen und Frauen in eleganten Kleidern wanderten umher, tranken Champagner und knabberten an verschiedenen Hors d’oeuvres, die auf Silbertabletts serviert wurden. Sam und Taylor nahmen sich jede ein Glas und stießen miteinander an. „Cincin“, sagte Taylor, und bei diesem Wort vermisste sie Baldwin ganz fürchterlich.
Sie schlenderten durch den Raum, grüßten die Leute, die sie kannten, was auf die meisten zutraf. Einige Freunde von Taylors Mutter kamen auf sie zu, machten ihr Komplimente über ihr Kleid und fragten, wie es Kitty Jackson derzeit ging. Ein paar trauten sich sogar, nach Win, ihrem Vater, zu fragen.
Sie beantwortete beide Sorten von Fragen mit der gleichen Unbekümmertheit: Kitty ging es gut, sie hatte im Winter beim Skifahren in Gstaad einen Schweizer Banker kennengelernt und sich entschieden, ihren Aufenthalt in Europa in den Frühling hinein zu verlängern. Win saß als Gast der Regierung in einem Gefängnis der minimalen Sicherheitsstufe in West Virginia.
Die meisten Leute kannten die Fakten hinter Win Jacksons Fall nicht. Das FBI hatte es geschafft, seine Rolle in dem riesigen Geldwäsche- und Menschenschmuggelring relativ geheim zu halten. Win würde nicht gegen seinen ehemaligen Boss aussagen. Der Mann, den man nur L’Uomo nannte, saß derzeit in einem brasilianischen Gefängnis, vermutlich an eine Wand gekettet. Gut so, dachte Taylor immer. Der Kerl war wirklich menschlicher Abfall.
Taylor spürte, dass ihr aufgesetztes Lächeln langsam brüchig wurde. Diese Art von Veranstaltung hatte schon vor langer Zeit ihren Charme für sie verloren. Lange Zeit war sie ein braver Söldner gewesen und hatte im Gefolge ihrer Eltern all die Partys und Wohltätigkeitsveranstaltungen besucht, die den gesellschaftlichen Kalender Nashvilles füllten. Mit achtzehn hatte sie sogar eine grässliche Debütantinnen-Saison durchgestanden – ein Jahr voller Alkohol und Petting, das seinen Höhepunkt in einem Knicks auf dem Debütantinnenball fand, während Sam und Simon kichernd an ihrer Seite standen.
Sie nahm an, ihre Freundschaft hatte es ihr ungemein erleichtert, gegen die hochfliegenden Pläne ihrer Eltern zu rebellieren. Sam hatte auch kein Leben im Elfenbeinturm gewollt. Das Wissen, dass sie bald auf dem College in Knoxville wären, weit weg von den neugierigen Blicken der Nashviller Gesellschaft, hatte geholfen, dieses Jahr zu überstehen.
Sie beide gaben der Welt ihrer Eltern etwas zurück, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Taylor gab ihr Bestes, um sie zu beschützen. Sam deckte ihre dunkelsten Geheimnisse auf. Es war ein fairer Tausch, solange sie ab und zu ihrer gesellschaftlichen Pflicht nachkamen.
So wie an diesem Vorfrühlingsabend. Die feine Gesellschaft von Nashville war wie immer erfreut zu sehen, dass Taylor und Sam wenigstens für einen Abend ihre Rollen spielten und nicht allzu viel Unruhe verursachten. Das Thema des Abends war natürlich der Mord an Corinne Wolff. Die Wolffs waren keine ganz Unbekannten, auch wenn sie nicht auf die besten Feste eingeladen wurden. Corinne war in den Country Clubs der Gegend zu Hause. Neues Geld, hörte Taylor eine der Botox-Frauen durch aufgespritzte Lippen flüstern. Die ultimative Sünde.
Die vorherrschende Meinung war, dass ein Drogenabhängiger ins Haus eingebrochen war und Geld für seinen nächsten Schuss geklaut hatte. Taylor hatte nicht das Herz, ihnen zu sagen, dass die meisten Fixer im Inneren gute Seelen waren, die eher jemandem die Handtasche klauten, als ihn zu Tode zu prügeln. Sollten sie doch ihre eigenen Ängste haben.
Die örtliche Presse war auch vor Ort. Taylor und Sam posierten für unzählige Fotos. Taylor wusste, dass man sie deswegen morgen bei der Arbeit aufziehen würde, aber es war ihr egal. Sie hatte eine nette Unterhaltung mit Amy Hendricks, einer Reporterin des Tennessean und ehemaligen Mitschülerin an der Father Ryan. Alles in allem war es eine typische Nashviller Cocktailparty: angenehm mit Hang zum Einschläfernden.
Nach einer halben Stunde kam die Vorsitzende der Veranstaltung, Linda Whaley, und schnappte sich Sam. Taylor wanderte ein wenig herum, doch sie blieb nicht lang allein. Innerhalb weniger Minuten hatten drei verschiedene Männer sie gefragt, ob sie ihr einen Drink spendieren könnten. Auch wenn sie freundlich und angemessen flirtend reagierte, fing sie doch an, das Champagnerglas als kleinen Hinweis mit der linken Hand an den Mund zu führen. Doch der Ring schreckte niemanden wirklich ab. Einige der Herren trugen sogar selbst Eheringe. Idioten.
Sie schaute auf ihre Uhr. Das Essen müsste jede Minute beginnen. Wie auf Kommando hörte sie ein leises Klingeln. Die Dinnerglocke. Mit einem Schluck leerte sie ihr Glas und reichte es einem vorbeikommenden Kellner. Dann machte sie sich auf den Weg zu ihrem Platz. Linda hatte gesagt, sie würde vorne am ersten Tisch bei Sam sitzen. Großartig. Mitten im Zentrum der Aufmerksamkeit. Genau das, was sie wollte.
Ein Gentleman im Abendanzug, dessen weiße Krawatte sich strahlend von den schwarz glänzenden Aufschlägen seines Jacketts abhob, hielt ihr die Tür zum Speisesaal auf. Sie nickte ihm dankend zu und betrat den Raum. Sie blieb kurz stehen, um sich zu orientieren, da sprach eine leise Stimme ihr ins Ohr. Sie zuckte zusammen und öffnete mit einer Bewegung ihrer Finger den Verschluss ihrer Tasche. Meine Güte, wussten die Leute denn nicht, dass man einen Polizisten niemals so erschrecken sollte?
„Hey, Tawny.“
Sie drehte sich um und schaute den Sprecher an. Ein untersetzter Mann Ende vierzig, leicht graue Schläfen, hängende Wangen, die Knöpfe seines Hemdes so gespannt, als wäre es einmal zu oft in der Reinigung gewesen oder er ein paar Mal zu viel zum Buffet gegangen. Er schaute sie mit einem widerlich gierigen Blick an. Sie hatte keine Ahnung, wer er war.
„Entschuldigung? Kennen wir uns?“
Der Mann warf einen Blick über seine Schulter und lehnte sich dann verschwörerisch vor. „Tawny, Tawny, Tawny. Mein Gott, ich hätte nie gedacht, dass ich dich mal in Fleisch und Blut sehen würde. Und nun bist du hier, ein Engel in Rot. Oder vielmehr ein Teufel, wie ich meine. Was hältst du davon, wenn du und ich hier verschwinden und unsere eigene kleine private Feier abhalten?“
Taylor bemühte sich, nicht über diese ungeheuerliche Anmache zu lachen. „Es tut mir leid, ich habe keine Ahnung, wer Sie sind.“ Sie wandte sich zum Gehen, doch er griff ihren Arm und zog sie zu sich zurück. Er drückte seinen Körper auf viel zu intime Weise in sie.
„Hey, Girlie. Ich rede mit dir.“
Keine gute Idee. Taylor behielt einen ruhigen, leisen Ton bei. „Lassen. Sie. Mich. Los. Sofort. Oder ich werde Ihnen den Arm brechen.“
Er ließ sie los, und sie wirbelte davon. Er folgte ihr auf den Fersen.
„Was glaubst du eigentlich, wohin du gehst, Tussi?“, zischte er ihr zu.
Anstatt einer Antwort blieb Taylor stehen, öffnete wie nebenbei ihre Handtasche und zeigte ihm die Pistole. Der Mann lächelte. Seine unteren Zähne sahen aus wie kleine Zapfen und waren ganz braun verfärbt. Sie unterdrückte einen Schauer.
„Oh-oh, sind wir nicht eine kleine Tigerin. Trägst eine versteckte Waffe, was? Ich habe ein paar Freunde, die sich sicherlich sehr dafür interessieren würden. Du solltest mir die Waffe vermutlich lieber geben, kleine Lady, denn du willst dir doch nicht selber wehtun, oder?“ Er streckte die Hand nach der Pistole aus. Taylor klappte die Handtasche zu, packte die Hand des Mannes und verdrehte sie blitzschnell, sodass er gezwungen war, sich von ihr wegzudrehen. Diese Bewegung nutzte sie, um ihn in Richtung Tür zurückzutreiben.
„Hey!“, sagte er laut genug, um die Aufmerksamkeit eines Kellners zu erregen, der allerdings nur schockiert zuschaute, wie Taylor das Schwein zurück in die Vorhalle manövrierte.
Sie stieß ihn mit dem Gesicht voran gegen eine Wand. Er schlug mit einem dumpfen Schlag auf, grunzte kurz und drehte sich zu ihr um. Sie hielt ihre Marke in der Hand. Bei dem Anblick fielen ihm beinahe die Augen heraus.
„Hören Sie“, fing er an, aber sie unterbrach ihn.
„Nein, Sie hören mir zu. Ich habe nicht die geringste Ahnung, für wen Sie mich halten. Aber wenn ich mich kurz vorstellen darf: Lieutenant Taylor Jackson, Mordkommission. Und wer zum Teufel sind Sie?“
Seine kleinen Schweinchenaugen wurden noch kleiner. „Tony Gorman.“
„Und warum haben Sie mich Tawny genannt?“
Sie konnte sehen, wie es in seinem Kopf arbeitete. „Wegen Ihrer Haare“, sagte er schließlich. Sie wusste sofort, dass er log. Sie beugte sich vor und zischte ihm ins Ohr.
„Sie sind ein Lügner, Mr Gorman. Ich sage Ihnen mal was: Warum schleichen Sie sich nicht einfach, und ich werde Sie nicht wegen Angriff auf einen Polizisten festnehmen. Und vielleicht denken Sie das nächste Mal besser nach, bevor Sie sich entscheiden, Ihre Hände an eine Frau zu legen. Einige von uns beißen nämlich.“
Sie hörte, wie er sie im Weggehen zwischen zusammengebissenen Zähnen Schlampe nannte. Fettes Arschloch. Sie rieb sich den Arm. Sie würde einen blauen Fleck in der Größe von Gormans Fingern bekommen. Manche Männer verstanden es einfach nicht.
Taylor kehrte in den Speisesaal zurück. Sie hatte das Gefühl, alle Augen wären auf sie gerichtet. Der Salat wurde bereits serviert. Sie setzte sich neben Sam, die ihr einen besorgten Blick schenkte. Taylor schüttelte nur den Kopf. „Später“, flüsterte sie.
Sie aß und machte höflichen Small Talk mit dem Pärchen zu ihrer Rechten und nippte an ihrem Bordeaux. Am Ende von Sams Rede klatschte sie am heftigsten und war mehr als erleichtert, dass der Abend langsam zu einem Ende kam. Ihre Füße taten weh. Sie wollte einfach ihre Klamotten loswerden und ins Bett schlüpfen.
Auf dem Weg nach Hause erzählte sie Sam, was vorgefallen war. Als sie an ihrem Haus angekommen waren, konnte Taylor schon darüber lachen, und Sam hatte ihr einen neuen Spitznamen verpasst: Miss Tawny. Mit einem Winken fuhr sie davon, und Taylor verschloss die Tür hinter sich. Sie ging in die Küche, stellte die Alarmanlage an und ließ ihre Schuhe auf den Parkettboden fallen. Sie würde sie morgen aufheben. Es war halb elf. Zu spät, um Baldwin zu stören, bei dem es eine Stunde später war und der vermutlich schon schlief. Sie beneidete ihn um seine Fähigkeit, sofort einzuschlafen, sobald sein Kopf das Kissen berührte. Sie goss sich ein Glas Chianti ein und ging hinauf in ihr Büro.
Während der Computer hochfuhr, ging sie ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Sie entledigte sich des Kleids und Schmucks wie eine Chrysalis und fühlte sich sofort besser, als sie nackt war. Sie kehrte zum Computer zurück, stellte das Weinglas auf einen Untersetzer und fing an, das Wort „Tawny“ zu googeln.
Es schien ein begehrtes Pseudonym für Pornostars und Möchtegernschauspielerinnen zu sein. Der Tawny Frogmouth war ein Vogel, eine Familie hatte ihrem Kaninchen namens Tawny eine eigene Website gewidmet, es gab viele Hinweise auf Flora und Fauna und sogar auf einen Hafen. Doch nichts, was ihr auch nur im Entferntesten ähnlich sah. Sie versuchte es mit „Tawny Nashville“, erhielt ein paar Sexhotlines und ein griechisches Restaurant, aber immer noch nichts, was mit ihrem Leben in Verbindung stand. Offensichtlich handelte es sich um eine Verwechslung.
Aber Taylor war ungewöhnlich genervt. Sie hatte den Blick in Tony Gormans Augen gesehen, die Lust in seinen Gesichtszügen. Er war ein Mann, der bei ihrem Anblick an Sex dachte, und dadurch wurde ihr so unbehaglich zumute wie noch nie. Wenn sie schwächer gewesen wäre oder gar eine andere Frau, wäre die Situation ganz anders ausgegangen.
Sie löschte Tawny aus ihrem Browser und gab stattdessen den Namen Tony Gorman ein. Zu viele Treffer. Sie versuchte es mit Varianten: Anthony Gorman, Tony Gorman Nashville, Anthony Gorman Tennessee, aber es waren immer noch zu viele Ergebnisse. Sie war ziemlich müde und nahm an, dass sie mehr Glück haben würde, den Schwachkopf zu finden, wenn sie morgen die Ressourcen der Polizei nutze.
Taylor schloss den Internetbrowser und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Sie dachte an den kurzen Einblick in Tony Gormans Seele. Das Konzept der Leidenschaft war ihr seit relativ jungen Jahren vertraut. Trotz all ihrer Fehler hatten ihre Eltern sie ab dem Zeitpunkt, an dem man erwarten konnte, dass sie eigene Entscheidungen traf, wie eine Erwachsene behandelt. Das hatte sie zu einem relativ frühreifen Mädchen werden lassen.
Als ihr Körper sich entwickelte und ihre schlaksige Figur und ihr jungenhaftes Verhalten im Alter von ungefähr fünfzehn Jahren weiblichen Formen Platz machten, fand sie sich schnell im Zentrum von ungewollter Aufmerksamkeit wieder. Meistens waren es ältere Männer; die Jungs in ihrem Alter hatten keine Ahnung, was sie mit ihr anfangen sollten. Innerhalb weniger Wochen hatte sie sich von dem ungelenken Fohlen in ein schlankes Warmblut verwandelt und wurde mit einem Mal von den Jungs, mit denen sie immer gespielt hatte, gemieden. Sie hatte das als unglaublich unfair empfunden und angefangen, sich nur noch mit Jungen zu verabreden, die deutlich älter waren als sie.
Ihre Jungfräulichkeit verlor sie an einen Freund ihres Vaters, mit dem sie eine heiße Affäre hatte, als sie siebzehn war. Sie war Hals über Kopf verrückt nach dem Mann, einem Professor für klassische Literatur an der Vanderbilt. Dr. James Morley war sexy und kultiviert und brachte ihr viel über Lieben und Leben bei. Die Affäre war der letzte Nagel im Sarg von Morleys kaputter Ehe, aber er blieb sowohl mit Taylor als auch mit seiner Frau befreundet. Ein paar Jahre später erlitt er einen tödlichen Herzinfarkt, und Taylor hatte um ihn getrauert.
In den folgenden Jahren hatte sie einige kürzere Beziehungen. Liebhaber in ihrem Alter, die sich von ihrer Intensität einschüchtern ließen. Ältere Männer, die sie beschützen, sie besitzen wollten. Sie hatte ein Händchen dafür, sich mit Männern einzulassen, die sie liebten, die sie selbst aber niemals lieben könnte. Das hatte zu ein paar hässlichen Szenen und Beziehungsstress geführt.
Baldwin war der erste Mann, den sie wirklich liebte, und zwar auf eine Art, von der sie nie gedacht hätte, dazu fähig zu sein. Das Geben und Nehmen von Herzen war etwas, worüber sie sich stets lustig gemacht hatte. Doch das mit Baldwin war wundervoll – und gleichzeitig machte es ihr Angst. Wenn sie ehrlich zu sich war, hatte er viel von ihrem ersten Liebhaber – die weltmännische Einstellung, die Intelligenz, das gute Aussehen. Aber Baldwin war auf gute Art anders: Er war ein ehrlicher Mann. Sie musste sich keine Gedanken wegen Untreue machen. Er hatte nie versucht, irgendetwas vor ihr zu verbergen. Es war nicht nötig, heimlich sein E-Mail-Postfach anzuschauen oder seine Geldbörse zu durchsuchen. Sie konnte ihn einfach fragen – und er antwortete immer.
Und vielleicht war das der Grund, weshalb sie in der Lage gewesen war, sich ihm voll hinzugeben: Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass er immer ehrlich zu ihr sein würde.
Taylor schüttelte die Gedanken und Gefühle ab und fuhr den Computer herunter. Als der Monitor mit einem kurzen Flackern dunkel wurde, sagte sie den Geistern der Vergangenheit, die sich mit ihr in dem Zimmer befanden, Lebewohl. Sie trank ihren Wein aus und schaltete das Licht aus.
Ihr Bett war warm und weich, und sie spürte, wie der Schlaf sofort an ihr zupfte. Vermutlich durch den Alkohol begünstigt. Stöhnend stand sie auf und nahm zwei Aspirin mit ein paar Gläsern Wasser in der Hoffnung, damit den befürchteten Mörderkopfschmerz am nächsten Morgen zu verhindern. Sie bekam von Wein keinen Kater mehr, lief aber Gefahr, eine Migräne zu erleiden, wenn sie nicht vorsorgte.
Sie kletterte ins Bett zurück. Bilder des Abends wirbelten durch ihren Kopf. Der hässlich verzerrte Mund des Mannes, die herumeilenden Kellner, die schmollmündigen Damen der Gesellschaft mit ihren identischen Liftings und gebotoxten Stirnen. Innerhalb weniger Minuten war sie eingeschlafen.
Das Klingeln des Telefons weckte sie. Es war immer noch dunkel. Noch im Halbschlaf packte sie den Griff der Glock, die unter Baldwins Kopfkissen lag, und nahm den Anruf an.
„Was?“
Nichts. Eine tiefe Stille füllte das Zimmer, statisch und bodenlos. Sie fragte sich, ob sie träumte. Dann hörte sie das Atmen.
Sie warf den Hörer auf die Gabel. Sofort klingelte es wieder. Das Display leuchtete in geisterhaftem Grün: UNBEKANNTER NAME, UNBEKANNTE NUMMER.
War ja klar. Sie ging trotzdem ran, dieses Mal ein wenig wacher.
„Was.“ Das war keine Frage.
Dieses Mal erklang das Lachen eines Mannes. Es war nicht Tony Gorman, so viel konnte sie sagen. Es war ein ganz anderer Ton. Und dann war es weg.
Taylor hielt das Telefon noch eine weitere Minute umklammert und hörte auf das sanfte Dröhnen der toten Leitung. Dann legte sie den Hörer vorsichtig wieder auf und setzte sich hin. Sie stopfte sich ein Kissen in den Rücken. Sie würde kein Licht anmachen – falls der Anrufer irgendwo in der Nähe war, sollte er nicht sehen, wie sehr er sie erschreckt hatte. Heute Nacht würde es für sie keinen Schlaf mehr geben. Sie streichelte die Glock, getröstet durch das Wissen, dass sie sich nicht in akuter Gefahr befand. Sie wüsste nur gerne, wer versuchte, sie zu verunsichern.