40. KAPITEL
Taylor war müde. Sie saßen wieder vor Henry Andersons Haus. Die Sonne war untergegangen. Die Luft war kühl, beinahe frostig. Die Lichter in Andersons Haus wirkten warm und einladend. Sie beobachteten Michelle Harris, wie sie durchs Wohnzimmer wuselte. Man konnte nicht sagen, ob sie weinte oder vor Freude sang.
Dieses Mal klopfte Taylor mit ihren Knöcheln. Ganz höflich. Klopf, klopf, klopf.
Michelle kam an die Tür und erblickte Taylor und Baldwin. Ihr Gesicht verzog sich vor Wut. Bevor sie jedoch reagieren konnte, hob Taylor beschwichtigend ihre Hände.
„Alles gut. Können wir reinkommen? Wir müssen mit Ihnen reden.“
„Warum sollte ich Sie hereinlassen? Sie haben in der letzten Woche mein Leben komplett zerstört.“ Aber sie trat ein paar Schritte zur Seite und ließ die Tür offen. Mit einem Schulterzucken in Richtung Baldwin trat Taylor ein.
Michelle hatte den Kamin angemacht, und es sah so aus, als würde sie ein wenig feiern. Essen vom Lieferservice und eine offene Flasche Wein standen auf dem Couchtisch im Arbeitszimmer. Dieses Mal nahm Taylor sich einen Moment Zeit, um sich umzusehen. Was sie wusste und was sie sah, schien überhaupt nicht zusammenzupassen. Anderson war ein mieser Charakter, ein Mann, der aus den primitivsten Gefühlen der Menschen Profit schlug. Und doch war sein Haus so warm und einladend wie Taylors eigenes. Dieser Gegensatz jagte ihr einen Schauer über den Rücken.
Michelle setzte sich aufs Ledersofa und zog ihre Füße unter sich. Dann nahm sie das Weinglas in die Hand und drehte den Stiel zwischen ihren Fingern.
„Möchten Sie einen Schluck?“ Es war keine wirkliche Frage, und Taylor machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten.
„Warum haben Sie es getan, Michelle? Warum haben Sie Corinne umgebracht?“
Michelle schaute nicht auf, sondern starrte nur ausdruckslos auf den Inhalt ihres Glases. Ein Pinot Noir, der Helligkeit des Rots und den leichten Brauntönen nach zu urteilen, in denen sich die fröhlich tanzenden Flammen fingen. Taylor schaute auf die Flasche. Sie hatte recht. David Bruce, ein gutes Weingut. War Anderson etwa auch ein Weinkenner, so wie sie? Dunkel und Schatten, das waren sie. Zwei Seiten der gleichen Medaille. Sie erschauderte und lenkte ihre Gedanken wieder zu Michelle.
„Ich habe ihn geliebt“, sagte Michelle. „So einfach ist das.“
„Waren Sie an dem Wochenende mit Todd zusammen? War er bei Ihnen und nicht in Savannah, wie er behauptet?“
„Ja. Wir haben uns in Crossville getroffen und sind über Nacht geblieben.“
Gott. Der Roman Kaltblütig bekam gerade einen Zwilling in Fleisch und Blut. Ihre Schwester getötet und es ihrem Liebhaber angehängt. Nettes Mädchen.
„Sie wissen, dass wir Sie jetzt festnehmen müssen.“
„Kann ich noch meinen Wein austrinken?“
Taylor schaute Baldwin an. Seine grünen Augen wirkten im Licht des Feuers beinahe schwarz. Er nickte.
„Wenn Sie uns erzählen, wie es passiert ist.“
Michelle beugte sich vor, nahm die Flasche und goss sich einen großzügigen Schluck ein. Mit einem beinahe entschuldigenden Lächeln an Taylor nahm sie einen Schluck, leerte die restliche Flasche ins Glas und lehnte sich dann mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck zurück, als würde sie jetzt gleich eine wundervolle Geschichte erzählen.
„Sie hatte sie beide. Beide liebten sie. Sie fickten mich. Na ja, Henry konnte nicht mehr so richtig, aber er hat Corinne hinterhergehechelt wie ein Rüde der läufigen Hündin. Todd hatte sie so um den kleinen Finger gewickelt, dass er alles getan hat, was sie sagte. Sie war der Kopf hinter allem, das wissen Sie, oder?“
Taylor nickte. Eine anstrengende Durchsuchung aller Unterlagen hatte gezeigt, dass Corinne ihre Finger tatsächlich in allen Zweigen von Andersons Imperium gehabt hatte.
„Sie war als Kriminelle sogar noch besser als die tolle Tennisspielerin, die jeden Trick beherrschte. Es gab nichts, was sie nicht konnte. Ich liebte sie beide, und sie liebten beide Corinne. Schenkten ihr Kinder. Gaben ihr alles. Ich hab die Reste bekommen. Immer schon. Das war nicht fair. Sie wissen von Connecticut?“
„Ja. Sie haben einen Mann erschlagen.“
Ihre Miene wurde ausdruckslos, ihre stechend blauen Augen verschlossen. „Er hat mich vergewaltigt. Er hatte es verdient. Er hatte mir gedroht, am nächsten Tag zurückzukommen und auch Corinne zu vergewaltigen. Ich hatte keine Wahl. Ich musste sie verteidigen.“
„Sie haben einen Mann erschlagen, um sie zu beschützen. Wenn Sie Ihre Schwester so sehr geliebt haben, warum haben Sie Corinne dann umgebracht? Warum haben Sie versucht, mit dem Blut Ihrer Schwester den Mann anzuschwärzen, den Sie lieben?“
Michelle nahm schweigend einen Schluck Wein. Ihr Blick wurde matt, sie wirkte ein wenig angeschickert. Sie wusste, dass sie erledigt war. Sie hatte nichts mehr zu verlieren.
„Das war ein günstiger Zufall. Sie hat sich in seinem Wagen die Hand aufgeschnitten. Ich wusste, dass man ihn beschuldigen würde. Corinne und ich haben uns oft gestritten, aber an dem Freitag hatten wir einen fürchterlichen Krach. Wir haben uns ein paar der Filme angesehen, die wir verkaufen wollten. Sie machte einen Witz darüber, dass Henry ihn bei mir nicht hochbekam. Ich machte einen Spruch, dass Todd da keinen Anlass zur Klage gäbe. Ja.“ Sie wedelte etwas unbeholfen mit der Hand herum. Taylor merkte, dass Michelle immer betrunkener wurde, und nahm ihr das Glas ab. Michelle bemerkte es nicht einmal.
„Ich hatte so viel Spaß mit Todd. Sie wusste nicht, dass wir es miteinander trieben. Direkt unter ihrer Nase, ihrer Nase. Das gefiel ihr nicht. Ich sagte, Pech gehabt, wenn sie meinen Mann fickt, ficke ich ihren. Eins führte zum anderen. Ich ertrug ihren Anblick nicht mehr. Sie sagte, ich sei eine Versagerin, dass ich schon immer die größte Enttäuschung im Leben unserer Eltern gewesen sei. Sie war so gemein.“
Michelles Blick verschleierte sich, und ihre Pupillen wirkten in dem weichen Licht riesig.
Taylor sprang auf. „Mist! Baldwin, ruf den Notarzt. Sie muss irgendwas genommen haben, bevor wir gekommen sind. Verdammt. Michelle.“
Taylor schüttelte sie, und Michelle lächelte. „Ich hab vergessen … das Licht auszumachen. Sag … Mom nichts davon. Sie … wäre … böse … wenn … sie … es … wüsste …“
Sie reagierte nicht mehr. Baldwin rief den Krankenwagen und hockte sich dann neben Michelle, um ihren Puls zu fühlen. Sie legten sie flach auf den Boden. Ihr Atem ging schwer, ihr Herz klopfte nur noch schwach unter Taylors Fingern.
„Verdammt, Baldwin, was hat sie genommen?“
„Ich weiß nicht. Ich sehe hier nichts herumliegen.“
„Vielleicht in der Küche? Komm schon, Michelle, bleib bei uns. Michelle?“
Baldwin ging und kehrte kurz danach mit einem Fläschchen verschreibungspflichtiger Tabletten zurück. „Sie hat das Lorazepam genommen, das Corinne verschrieben worden ist. Ich weiß allerdings nicht, wie viel noch in dem Fläschchen war. Laut Etikett ist es heute Nachtmittag nachgefüllt worden, und jetzt ist es leer. Sie meint es ernst.“
Die Rettungssanitäter hämmerten gegen die Haustür. Baldwin ließ sie ein und erzählte, was er wusste.
„Wird sie es überleben?“, fragte Taylor.
„Ich weiß es nicht. Alkohol und Lorazepam kann eine tödliche Mischung sein, aber vielleicht haben wir es noch gerade rechtzeitig bemerkt. Es steht auf Messers Schneide.“
Seine Stimme klang kühl. Sie standen nebeneinander und sahen zu, wie die Rettungssanitäter sich an Michelle zu schaffen machten. Ihre Rettungsversuche hatten beinahe etwas Verzweifeltes an sich. Sie mussten ihr einen Beatmungsschlauch in den Rachen schieben und eine Herzmassage geben. Ein paar Minuten später rasten die Sanitäter mit Michelle auf der Trage aus dem Haus und fuhren mit kreischenden Sirenen in Richtung Baptist Hospital. Auf keinen Fall würden sie zulassen, dass die Frau während ihrer Schicht starb.
Taylor stand in der Tür und sah ihnen nach. Sie verschränkte die Arme und funkelte Baldwin anklagend an.
„Du wusstest es“, sagte sie.
Er nickte.
„Wir hätten eher Hilfe rufen können.“
„Das hätten wir. Aber jetzt wissen wir die Wahrheit. Wenn sie nicht geglaubt hätte zu sterben, hätte sie es uns nicht erzählt.“
Erschöpft rief Taylor die Kriminaltechniker an, damit sie sich das Haus vornahmen. Sie wollte kein Risiko eingehen.
Sie fühlte sich, als würde sie durch Schlamm waten. Es war Mitternacht, als sie und Baldwin wieder in ihr Auto stiegen. Der Anruf kam auf dem Nachhauseweg. Michelle Harris war um 23:56 Uhr gestorben.