1. KAPITEL
Michelle Harris saß mit zusammengebissenen Zähnen in ihrem Auto an der Ampel der Kreuzung Old Hickory und Highway 100. Sie war spät dran. Corinne hasste es, wenn sie sich verspätete. Sie würde sie nicht kritisieren, würde ihr keine Vorwürfe machen; sie würde nur auf die Uhr am Herd schauen, die Digitaluhr, die immer drei Minuten vorging, damit Corinne ein Zeitpolster hatte. Eine kleine Falte würde zwischen ihren perfekt gezupften Augenbrauen erscheinen.
Ihr Tennismatch begann in einer Stunde. Sie hatten noch Unmengen Zeit, aber Corinne würde erst Hayden in der Kinderkrippe abgeben und dann einen Proteindrink trinken müssen, bevor sie sich zur Vorbereitung auf ihr Spiel aufwärmen und stretchen würde. Michelle und Corinne waren seit Jahren Partner im Doppel, und sie brauchten nur noch zwei Spiele, um die Meisterschaft zu gewinnen. Ihr jährlicher Sieg der Richland Klubmeisterschaft war beinahe schon eine feste Institution, hatten sie beide doch schon siebenmal in Folge gewonnen.
Sie tippte mit den Fingern ihrer rechten Hand nervös aufs Lenkrad und zog mit der linken ihren Pferdeschwanz über die Schulter nach vorne; eine tröstende Geste, die sie sich als Kind angewöhnt hatte. Corinne hatte nie irgendwelchen Trost gebraucht. Sie war immer die Starke gewesen. Selbst wenn Michelle als kleines Kind ihren Pferdeschwanz nach vorne gezogen hatte, sodass die kleinen, ungezähmten Locken sich um ihr Ohr kringelten, war zwischen Corinnes Augenbrauen diese kleine Falte entstanden, die ihren Unmut über die Schwäche der älteren Schwester ausdrückte.
Bei der Erinnerung daran warf Michelle den Zopf angewidert nach hinten. Die Ampel wurde grün, und sie trat das Gaspedal durch. Sie hasste es, bei Corinne zu spät zu kommen.
Michelle nahm die Abfahrt zur Jocelyn Hollow Road und folgte der geruhsamen, sich in leichten Kurven dahinschlängelnden Straße zu der Sackgasse, in der ihre Schwester wohnte. Der Hartriegelstrauch im Vorgarten der Wolffs zeigte gerade erste Knospen. Michelle lächelte. Der Frühling kam. Ein schrecklicher Winter hatte Nashville monatelang fest im Griff gehabt, doch jetzt sah es endlich so aus, als wäre diese Zeit vorbei. Neues Leben rührte sich an den Waldrändern, Kälber wurden auf den Weiden geboren. Das Zwitschern der Zaunkönige und Kardinäle hatte einen helleren Klang, und alle Altvögel erwarteten die Ankunft ihrer Jungen. Corinne trug auch ein neues Leben in sich, sie befand sich im siebten Monat einer unkomplizierten Schwangerschaft – dabei sah sie aus, als hätte sie kaum den vierten Monat erreicht. Da sie noch genauso viel Sport machte wie vor der Schwangerschaft, blieben die Babypfunde aus; sie hatte vor, bis zur Geburt Tennis zu spielen, genau wie sie es bei Hayden getan hatte.
Das war nicht fair. Michelle hatte keine Kinder, sie hatte nicht mal einen Ehemann. Der Richtige war ihr einfach noch nicht begegnet. Ihr einziger Trost war Hayden. Mit einer so anbetungswürdigen und zauberhaften Nichte wie ihr brauchte sie kein eigenes Kind. Zumindest jetzt noch nicht.
Sie bog auf die mit Ahornbäumen gesäumte Auffahrt der Wolffs und stellte den Motor ab. Corinnes schwarzer BMW 535i stand vor der Garage. Die gusseisernen Lampen zu beiden Seiten der Haustür brannten. Michelle runzelte die Stirn. Es sah Corinne gar nicht ähnlich, zu vergessen, die Lichter auszuschalten. Sie erinnerte sich noch an den Streit, den Corinne und Todd, ihr Ehemann, über sie gehabt hatten. Todd wollte welche, die automatisch im Dunkeln angingen und im Hellen wieder aus. Corinne hatte darauf beharrt, dass sie es ohne Probleme schaffen würden, das Licht selber an- und auszuschalten. So war es ewig hin und her gegangen. Todd argumentierte mit der Sicherheit, während Corinne behauptete, dass diese automatischen Lampen billig aussähen und nicht zu ihrem Haus passten. Am Ende hatte sie gewonnen. Wie immer.
Corinne schaltete die Lampen immer als Erstes am Morgen aus. Wie ein Uhrwerk.
Michelles Nackenhaare richteten sich auf. Hier stimmte etwas nicht.
Sie stieg aus dem Wagen und schloss die Tür nicht ganz hinter sich. Der Weg zur Haustür ihrer Schwester war in einem kunstvollen Muster gepflastert, in dessen Nischen kleine Statuen standen. Es handelte sich um lächerlich teure Designerpflastersteine aus einem winzigen, jahrhundertealten Steinbruch in Virginia, wenn Michelle das noch recht in Erinnerung hatte. Sie folgte dem Weg und erreichte die Haustür. Diese war nicht verschlossen, aber das war typisch. Michelle hatte Corinne wieder und wieder gesagt, dass sie die Tür über Nacht abschließen sollte. Aber Corinne hatte sich immer sicher gefühlt und keinen Sinn darin gesehen. Michelle öffnete die Tür.
Oh mein Gott.
Michelle rannte zurück zu ihrem Auto und holte ihr Handy. Während sie den Notruf wählte, eilte sie wieder zum Haus und stürmte durch die Tür.
Das Telefon klingelte an ihrem Ohr und klingelte und klingelte. Sie registrierte die Fußspuren, drehte eine kleine Runde durchs Erdgeschoss, und als sie niemanden sah, rannte sie die Treppe zwei Stufen auf einmal nehmend hoch. Schwer atmend kam sie oben an, wandte sich nach links und ging den Flur hinunter.
Eine Stimme erklang in ihrem Ohr, und sie versuchte, die einfachen Fragen zu verstehen, während sie das sich ihr bietende Bild aufnahm.
„911, um was für einen Notfall handelt es sich?“
Sie konnte nicht antworten. Oh Gott, Corinne. Auf dem Boden, das Gesicht nach unten. Überall Blut.
„911, was für einen Notfall möchten Sie melden?“
Die Tränen flossen. Die Worte verließen ihren Mund, bevor sie merkte, dass sie die schreckliche Wahrheit ausgesprochen hatte.
„Ich glaube, meine Schwester ist tot. Oh mein Gott.“
„Können Sie das bitte wiederholen, Ma’am?“
Konnte sie? Konnte sie ihre Stimmbänder dazu bringen, ohne sich auf den reglosen Körper ihrer Schwester zu übergeben? Mit einem Finger berührte sie Corinnes Hals. Erstaunlich, wie kalt sich ein toter Körper anfühlte. Oh Gott, das arme Baby. Panisch rannte sie aus dem Zimmer. Hayden, wo war Hayden? Michelle drehte sich um die eigene Achse und erblickte weitere Fußabdrücke. Kein Anzeichen des kleinen Mädchens. Sie schrie erneut, hörte die Worte aus ihrem eigenen Mund, als wenn jemand anderes spräche.
„Hier ist Blut, oh mein Gott, hier ist überall Blut. Und da sind Fußabdrücke … Hayden?“, rief Michelle, nun verzweifelt, außer sich. Sie rannte ins Schlafzimmer zurück. Sie konnte nicht klar denken.
Die Frau in der Notrufzentrale sprach sie wieder und wieder an, doch sie reagierte nicht, konnte nicht reagieren. „Ma’am? Ma’am? Wer ist tot?“
Wo war das süße kleine Mädchen? Ein erdbeerroter Schopf tauchte hinter der Ecke des großen Doppelbetts auf. Sie braucht einen Moment, um ihn zuzuordnen – Hayden mit roten Haaren? Sie war doch hellblond, beinahe weiß. Nein, da stimmte etwas nicht.
„Hayden, oh meine Güte, du bist ja ganz voller Blut. Komm mal her. Wie bist du denn aus deinem Bettchen gekommen?“
Sie zog das kleine Mädchen in ihre Arme. Hayden war wie erstarrt, vollkommen unbeweglich, einen Moment lang unfähig oder unwillig, sich zu rühren. Dann schlang sie ihre Arme um den Hals ihrer Tante. Die vor geronnenem Blut steifen Haare piksten Michelle in die Haut. Sie fühlte einen tiefen Stich im Herzen.
„Ma’am? Ma’am, wie lautet die Adresse?“
Die Stimme der Frau am Notruf zwang Michelle, ihren Blick von der Leiche ihrer Schwester abzuwenden. Sie richtete sich auf und hielt Hayden ganz fest. Nur hier raus. Die Kleine soll das nicht weiter mit ansehen.
„Ja, ich bin noch da. Die Adresse ist 4589 Jocelyn Hollow Court. Meine Schwester …“ Sie waren jetzt auf der Treppe nach unten, und Michelle sah die Blutspuren, die kreuz und quer über den Teppich verliefen.
Die Dame am Notruf versuchte immer noch, die Einzelheiten zusammenzufügen. „Hayden ist Ihre Schwester?“
„Hayden ist ihre Tochter. Oh Gott.“
Als Michelle unten an der Treppe ankam, bewegte sich das Kind auf ihrem Arm, streckte seine Hand aus und schaute nach oben zur ersten Etage.
„Mama wehtun“, sagte sie mit einer Stimme, die eher klang wie von einer gebrochenen Vierzigjährigen als von einer schüchternen, achtzehn Monate alten Elfe. Mama tut jetzt nichts mehr weh, Darling.
Sie standen nun auf der Veranda vor der Haustür. Michelle atmete ein paar Mal tief durch. Hayden weinte leise an ihrer Schulter; mit einer Hand zeigte sie immer noch zurück zum Haus.
„Wer ist tot, Ma’am?“, fragte die Telefonistin jetzt sanfter.
„Meine Schwester. Corinne Wolff. Oh, Corinne. Sie ist … sie ist so kalt.“
Michelle konnte sich nicht mehr zusammenreißen. Sie hörte, wie die Frau vom Notruf sagte, dass die Polizei unterwegs wäre. Sie ging den Weg mit seinen verdammten Pflastersteinen hinunter und setzte Hayden auf den Beifahrersitz ihres Volvos.
Dann dreht sie sich um und verlor ihren Kampf gegen die Übelkeit. Direkt am Fuße des zart knospenden Hartriegelstrauchs spie sie sich die Seele aus dem Leib.