34. KAPITEL
Taylor und Baldwin rasten die West End hoch, auf dem Dach über der Fahrerseite eine blinkende, heulende Sirene. Baldwin fuhr. Es war zu laut, um sich zu unterhalten, was Taylor ganz gut passte. Sie wusste, was los war, warum Fitz sie gerufen hatte und seine normalerweise polternde Stimme mit Grauen angefüllt gewesen war. Aiden. Aiden hatte getötet. Fitz meinte, dass jemand ihnen eine Nachricht schickte. Als Taylor aufgelegt hatte, hatte Baldwin sie nur fragend angesehen. Er wusste es auch.
„Könnte eine Falle sein“, sagte er.
Sie schüttelte den Kopf. Eine Nachricht.
Sie überließ sich der Erinnerung an Aiden, wie er in ihrem Vorgarten gestanden hatte. Wenige Augenblicke nachdem er zwei Männer mit bloßen Händen tötete, war er so verdammt entspannt gewesen, so … ungerührt von dem, was er gerade getan hatte. Ein Gefühl des Versagens, des Verlusts ob der zwei Männer, die nur auf ihr Hilfegesuch reagiert und versucht hatten, sie zu beschützen, kroch ihre Wirbelsäule entlang. Sie war so mit ihren eigenen Problemen beschäftigt gewesen, dass sie sich nicht einmal die Zeit genommen hatte, ihre Namen herauszufinden.
Die Gegend wurde weniger städtisch, und beschauliche Rasenflächen zeigten ihnen, dass sie an ihrem Ziel, der Vanderbilt University, angekommen waren. Diese Gegensätze hatte Taylor an Nashville schon immer gemocht; es lag etwas Fröhliches in der Art, wie die Stadt sich von Block zu Block veränderte. Die Vanderbilt war immer ein beliebtes Ziel. Die Hoffnungen der arglosen Collegestudenten, die reich verzierten, vor darin enthaltenem Wissen beinahe berstenden Gebäude. Bevor Taylor sich in der Erinnerung an ihre eigenen verlorenen Jahre verlieren konnte, bog Baldwin scharf rechts ab in den Centennial Park, wobei er nur knapp eine Joggerin verfehlte, die schnaufend auf dem Bürgersteig lief.
Um das Parthenon herum wimmelte es nur so von Streifenwagen. Blaulichter blitzten in der Mittagssonne. Ein Pulk Officer stand am Fuß der Treppe und sah irgendwie vollkommen fehl am Platz aus. Tagsüber war das Parthenon eine Touristenattraktion und ein beliebter Spazierweg. Die Menschen tobten mit ihren Hunden über den Rasen, picknickten unter den riesigen Eichen und bewunderten den perfekten Nachbau griechischer Architektur.
Der kalte Schauer breitete sich weiter in Taylors Körper aus. Abgesehen von den Polizisten war der Centennial Park seltsam leer. Der Anblick des Parthenons weckte normalerweise nostalgische Gefühle in ihr; es war kein Schuljahr vergangen ohne einen Besuch des bekanntesten Wahrzeichens der Stadt Nashville. Im Kopf ging sie die Informationen durch, die ihr auf jedem dieser Ausflüge eingebläut worden waren: gebaut 1897, um die Besucher der Hundertjahrfeier zu beeindrucken und den Ruf der Stadt als „Athen des Südens“ widerzuspiegeln. Eigentlich war das Parthenon nur als temporärer Bau gedacht gewesen, doch die Bürger Nashvilles ließen es einfach stehen. Im Jahr 1931 wurde es als dauerhaftes Monument noch einmal neu aufgebaut. Die massiven Bronzetüren beschützten die größte, nicht im Freien stehende Statue der westlichen Welt: eine Replik von Phidias kolossaler Statur von Athene, Göttin der Weisheit, der Kriegsführung und der Künste. Sie war von dem Nashviller Künstler Alan LeQuire geschaffen worden. Das Kunstmuseum im Parthenon wurde auf der ganzen Welt respektiert. Erst letzten Monat hatte Taylor hier eine Ausstellung besucht.
Jetzt wirkten die Säulen, die das mit einem Fries versehene Dach trugen, Unheil verkündend. Das Gebäude stand einsam und verlassen da, entehrt durch einen ungebetenen Tod, Schauplatz eines modernen Opferrituals. Taylor musste sich zwingen, aus dem Wagen auszusteigen, um Fitz zu begrüßen, der ihnen entgegengekommen war, sobald er das Auto gesehen hatte.
Er hielt etwas in der Hand.
Taylor trat vom Auto weg und schaute Fitz an. „Wer?“
Sie erhaschte einen Blick auf das Foto, das er in Händen hielt. Es war eine Nahaufnahme von einem nackten Oberkörper. Sie konnte oben gerade noch die Umrisse des Schlüsselbeins erkennen …
Die Temperaturen waren nicht gestiegen, dennoch spürte Taylor, wie ihr der Schweiß ausbrach. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit der Versammlung von Polizisten zu, die knappe zehn Meter entfernt standen. Dann zwang sie sich, ganz langsam zu gehen und möglichst unbeteiligt zu wirken. Doch innerlich war sie wie erstarrt vor Angst.
Die Leiche war nackt und kunstvoll so drapiert, dass sie an der oberen Treppenstufe lehnte. Ein unachtsamer Passant würde es überhaupt nicht bemerken und sie für eine spärlich bekleidete Person halten, die gerade ein Nickerchen machte.
Bei näherem Hinsehen erkannte man dichtes, braunes Haar, offene, aber nichts sehende Augen, die bereits von einem leicht milchigen Schleier überzogen waren. Ein silberner Draht, die Enden fachmännisch miteinander verwickelt, hatte sich tief in den Hals des toten Mannes gegraben. Das Ende des Drahts war kunstvoll gebogen und erinnerte Taylor an die Doggybags aus den schicken Restaurants, in die sie ihre Eltern als Kind mitgenommen hatten. Dort hatte man die Alufolie stets zu Schwänen oder Fächern gefaltet. Sie kämpfte gegen die Übelkeit an, die in ihr hochstieg.
An die nackte, haarlose Brust des Mörders, den sie nur unter dem Namen Aiden kannte, war ein Stück Papier genagelt. Eine Rolle Pergament, alt und vergilbt, über die ein einzelner roter Blutstropfen gelaufen war. Die Handschrift war spinnenartig und altmodisch. Als Taylor den Text las, stockte ihr der Atem.
Hochverehrter Lieutenant,
die Welt ist dank Ihnen ein besserer Ort. Betrachten Sie diese
kleine Gefälligkeit als Zeichen meiner Wertschätzung und
immerwährenden Bewunderung.
Der Pretender
Verflucht.
„Wie lange ist er schon hier?“, fragte sie und staunte über die Kraft in ihrer Stimme. Sie traute sich nicht, Baldwin anzusehen. Obwohl er einen Meter von ihr entfernt stand, konnte sie spüren, wie die Gedanken in seinem Kopf herumwirbelten. Sie musste ihn nicht ansehen, um zu wissen, dass er ebenfalls verblüfft war.
„Nicht lange“, erwiderte Fitz. „Die Rechtsmedizin hat ein Team losgeschickt, das sollte jeden Augenblick hier sein. Der erste Officer am Tatort hat berichtet, dass er am Handgelenk nach dem Puls gefühlt hat; die Leiche war noch warm. Er lag in der Sonne, aber es kann nicht mehr als eine Stunde her sein. Eine Joggerin ist ein paar Mal die Treppe hinauf- und heruntergelaufen und hat ihn dabei entdeckt. Sie hat sofort die Polizei gerufen. Ich habe mit ihr gesprochen.“ Er zeigte auf einen Streifenwagen, neben dem eine junge Frau in Joggingkleidung stand. Sie war blass und zitterte. „Sie hat nichts gesehen. Im Park ist es heute sehr ruhig. Sie meinte, sie hätte niemanden in der Nähe gesehen.“
Baldwin hatte bislang geschwiegen. Taylor schaute ihn an. Sein Gesichtsausdruck war eine bizarre Mischung aus Abscheu und Erleichterung. Er beantwortete ihre ungestellte Frage.
„Ich weiß nicht, ob ich mich freuen oder entsetzt sein soll. Aiden war ein fürchterlicher Mensch, und ich bedaure nicht, dass er tot ist. Aber mein Gott. Der Pretender.“
„Er hält sich an sein Programm, wie ich sehe. Ahmt immer noch andere Verbrechen nach. Du hast gesagt, dass Aiden mit einer silbernen Garrotte gemordet hat, richtig? Scheint, unser Serienmörder fühlt sich zum Ordnungshüter berufen.“ Sie lachte zittrig. „Vielleicht sollten wir ihn anheuern.“
Die gespielte Tapferkeit drohte zusammenzubrechen. Allein der Gedanke, dass ein Mörder, den sie nicht hatte fassen können, sich wieder in ihrer Stadt herumtrieb und in ihrem Namen tötete, zu ihren Ehren, verdammt noch mal, war beängstigend.
Baldwin nickte nur. Der Wagen der Rechtsmedizin fuhr vor. Fitz sprach mit leiser Stimme zu Taylor.
„Bist du in Ordnung?“
„Ja. Geh nur, kümmere dich um die Rechtsmediziner.“
Der Jüngste im Team, Dr. Fox, sprang mit glänzenden Augen aus dem Wagen. Das Geschehene machte langsam die Runde. Da klingelte auch schon Taylors Telefon. Sam. Taylor trat ein paar Schritte beiseite und nahm den Anruf an.
„Ich hab’s gehört. Stimmt es?“
„Ja. Sieht so aus, als wenn unser Junge wieder aufgetaucht ist. Hat eine ganz schöne Nummer mit Aiden abgezogen. Warum bist du nicht hier?“
„Ich war gerade in einer Sitzung mit der Verwaltung und konnte nicht weg. Fox kommt damit klar, oder?“
„Ich wüsste nicht, was dagegen spricht. Es ist ziemlich eindeutig. Der Nagel in der Brust ist allerdings neu.“
„Tja, ich habe auch seit einiger Zeit keine Garrottierung mehr gehabt, sollte also lustig werden. Ich werde dafür sorgen, dass alles korrekt abläuft. Mach dir keine Sorgen. Ich muss los, die Sitzung geht weiter. Pass auf dich auf, okay?“
„Mach ich. Wir hören uns später.“ Sie legte auf und schaute zu Baldwin. Der telefonierte ebenfalls. Vermutlich mit Garrett, um ihre Beschützer abzubeordern.
Sie kehrte zu Aidens Leiche zurück. Das Gefühl, beobachtet zu werden, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Guter Gott. Was war das für eine Woche gewesen. Sie fing an, Phobien zu entwickeln. Wie viele Serienmörder konnte eine Stadt wie Nashville an einem Tag vertragen?
Aidens klebriger Blick schien direkt in ihre Seele zu schauen. Fitz und Fox gesellten sich zu ihr.
„Es ist an der Zeit, die Techniker ihren Job machen zu lassen“, sagte Fitz. Taylor nickte. Fox umkreiste die Leiche und gab dabei leise, schnalzende Geräusche von sich.
„Meine Herren“, sagte er. „Das wird lustig.“
„Ihr Rechtsmediziner seid echt krank. Komm, LT, verschwinden wir von hier.“ Taylor ließ sich von Fitz zu ihrem Wagen zurückbegleiten. „Ich kümmere mich hier drum. Du fährst ins Büro zurück und machst mit dem Wolff-Fall weiter. Dafür brauchst du mich nicht. Lincoln und Marcus machen ihre Sache sehr gut. Wir treffen uns später.“
Sie nickte erneut und setzte sich wie betäubt auf den Beifahrersitz. Baldwin klappte sein Telefon zu und stieg ebenfalls in den Wagen. Er startete den Motor, und Fitz schloss vorsichtig die Beifahrertür. Taylor wusste nicht, warum sie zuließ, dass alle sie betüddelten. Reiß dich zusammen, Mädchen.
Baldwin fuhr los, die Augen stur auf die Straße gerichtet. Sie merkte, dass er reden wollte. Das war gut, denn sie wollte es nicht.
„Ich muss mit dir reden“, sagte er.
„Das hab ich gemerkt. Du vibrierst ja nahezu vor Anspannung.“
Er räusperte sich und bog links auf die West End ab. „Hinter der Aiden-Geschichte steckt mehr, als ich dir erzählt habe.“
Sie bedeutete ihm mit einer Geste, fortzufahren.
Er seufzte. „Was ich dir jetzt erzähle, ist streng geheim.“
„Was, werde ich jetzt für Mission: Impossible rekrutiert?“ „Lustig.“ Er sah einen freien Parkplatz am Straßenrand und stellte das Auto ab.
„Was soll das?“
„Ich mache keine Witze.“ Er nahm die Sonnenbrille ab und schaute Taylor tief in die Augen. „Ich kann mir hiermit mächtigen Ärger einhandeln. Aber du musst einfach die Wahrheit erfahren.“
Taylors Herz setzte einen Schlag aus. Tausend Gedanken rasten durch ihren Kopf, die alle so abrupt endeten, wie sie begannen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, um sich vor dem zu schützen,
was jetzt auf sie zukommen würde. „Die Wahrheit worüber?“
„Über mich. Über das, was ich tue. Über meine … Vergangenheit.“
„Du hast ein uneheliches Kind.“
„Verdammt, Taylor, es ist mir ernst.“
Sein Ausbruch überraschte sie. So hatte er noch nie zu ihr gesprochen.
„Meine Güte, reiß mir doch nicht gleich den Kopf ab. So schlimm kann es schon nicht sein. Sag mir einfach, was los ist.“ Sie lehnte sich gegen die Tür und schaute ihn an. Sie wappnete sich für das Schlimmste, konnte sich aber nicht vorstellen, was das wohl sein könnte.
„Ich mache nebenbei ein paar Jobs. Profiling.“
„Das ist alles? Das große Geständnis? Du bist ein Profiler. Natürlich ruft man dich, wenn man Hilfe braucht …“
„Für die CIA.“
Das ließ sie verstummen.
„Willst du mir sagen, dass du ein Spion bist?“
Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Nein. Kein Spion. Ein Berater.“
„Ich wusste nicht, dass die CIA sich mit Profiling beschäftigt.“
„Das tut sie auch nicht. Genau deswegen komme ich ins Spiel. Es handelt sich um eine verdeckte Gruppe namens OE. Eine Sondereinheit. Operation: Engelmacher. Wir folgen den bösen Jungs, die in Übersee arbeiten. Sagen voraus, wo sie als Nächstes zuschlagen werden, geben den Menschen, die sie überwachen, Tipps, wie sie ihre Spuren verfolgen können und so weiter.“
„Und das ist geheim? Das klingt für mich nach keiner sonderlich großen Sache.“
„Es ist wegen dem Status der Personen, denen wir folgen. Die Mörder, die wir verfolgen … sie werden nicht verhaftet.“
„Warum nicht?“
Sie sah, wie er darum rang, eine Antwort zu finden. Die Erkenntnis, dass er fürchtete, sie würde ihn für die Rolle, die er in dieser undurchsichtigen Organisation spielte, verurteilen, ließ sie die Hand nach ihm ausstrecken und seinen Arm berühren.
„Hey.“ Der herausfordernde Ton in ihrer Stimme war verschwunden. „Du kannst es mir sagen. Es ist okay.“
Er lächelte. „Du denkst vielleicht nicht mehr so, wenn ich zu Ende erzählt habe. Wir lassen sie ziehen. Wir verfolgen ihre Bewegungen, sagen voraus, wo sie als Nächstes zuschlagen, schanzen ihnen sogar Aufträge zu, um ihre Mordlust zu befriedigen. Wenn wir sie inhaftieren würden, hätte das massive Auswirkungen auf die jeweils aktuellen politischen Spielchen, die gespielt werden. Diese Menschen tun schlimme Dinge für uns und andere Regierungen. Ich versuche, nicht zu viele Einzelheiten zu erfahren, denn es ist so schon schlimm genug. Und es geht gegen alles, was ich bin.“
Ehrlichkeit. Sie wusste, sie konnte immer darauf zählen, dass er ihr die Wahrheit sagte, ob sie es wollte oder nicht. Besser spät als nie, nahm sie an.
„Das merke ich. Wie um alles in der Welt bist du da nur reingeraten?“
„Garrett. Er leitete unsere Seite des Programms. Er hat mich mit einem Agenten zusammengebracht, mit dem ich seit zehn Jahren zusammenarbeite. Manchmal fliegen sie mich nach Übersee, damit ich die Jungs aufspüre. Viele verschiedene Länder auf der ganzen Welt. Wir hatten allerdings immer eine Verabredung: Wenn einer von ihnen hierherkommt, werde ich sofort informiert.“
„Das ist der Grund, warum du bei Aiden hinzugezogen wurdest?“
„Genau. Er hatte es schon immer auf mich abgesehen, aber bisher hatte ich keine Schwachstelle. Mich zu töten war nicht das, was er wollte. Er musste mir alles nehmen, so wie ich ihm seiner Meinung nach alles genommen habe.“ Er drückte ihre Hand. „Zumindest glaube ich das. Ich habe dir gesagt, dass wir davon ausgehen, dass er uns in Italien gesehen hat. Das Timing stimmt. Er hat seinen Verfolger getötet und ist dann hierhergekommen. Nur damit du weißt, dass Aiden alles getan hätte, um seine Ziele zu erreichen. Deshalb musste ich nach Quantico gehen. Ich musste versuchen, ihn aufzuspüren. Wenn sie mir von Anfang an die Wahrheit erzählt hätten, nämlich dass er seinen Verfolger in Florenz umgebracht hat, hätte ich dich niemals allein gelassen. Ich habe gesehen, was er anrichten kann.“
„Ich auch.“ Das Bild der toten Sicherheitsmänner stand ihr so klar vor Augen, als wenn sie hier mit ihnen im Auto wären. Sie schüttelte den Gedanken ab. Dann kam ihr ein neuer in den Sinn.
„Dein Italienisch ist perfekt. Hast du es deshalb gelernt, um irgendeinen italienischen Irren aufzuspüren?“
Er verzog das Gesicht. „Mein Italienisch und andere Sprachen. Das war mit ein Grund dafür, dass sie mich haben wollten.“
„Andere Sprachen? Was, so wie Deutsch und Französisch?“
Er fühlte sich sichtlich unbehaglich.
„Äh, ja.“
„Meine Güte, Baldwin, wie viele Sprachen sprichst du?“
„Dreizehn.“
Nur mit größter Mühe konnte sie verhindern, dass ihr die Kinnlade herunterklappte. Sie dachte an ihren Gedanken von vor ein paar Minuten zurück. Ehrlichkeit. Etwas zu verschweigen war keine Lüge, oder? Kreative Lügen, Notlügen, die dem Schutz dienten, zählten nicht, richtig? Sie schob den Gedanken beiseite. Er erzählte es ihr ja jetzt. Der Himmel wusste, dass auch sie ein paar Dinge aus ihrer Vergangenheit verschwiegen hatte.
„Garretts Herz?“
„Dem geht’s gut.“ Er sah sie an, als erwarte er, dass sie gleich explodieren würde. Ihr gefiel es nicht, dass er gezwungen gewesen war, sie anzulügen, aber genau so sah sie es. Freiwillig hätte er es nicht gemacht.
Sie grinste. „Okay. Beweise es.“
„Beweis was?“
„Sag mir, dass du mich liebst, auf … Polnisch.“
Jetzt fiel er in ihr Lächeln ein. „Das ist nicht gerade meine beste Sprache, aber gut. Kocham ciebie, Taylor. Von ganzem Herzen.“ Er zog sie in seine Arme, und sein Kuss raubte ihr den Atem. Als sie sich voneinander lösten, hatten sich ihre Finger in seinem Haar verfangen, und ihr Pferdeschwanz hatte sich aufgelöst. Mist, sogar der obere Knopf ihrer Jeans war geöffnet. In der Öffentlichkeit rummachen, also wirklich.
Sie richtete sich wieder her. „Ich sehe schon, mit diesem kleinen
Talent von dir werden wir noch viel Spaß haben.“
„Du bist nicht böse?“
„Wegen der OE? Ich finde es nicht toll, aber ich kenne dich. Wenn du der Meinung bist, was du tust ist richtig, dann steh ich zu dir. Bring nur nicht noch mehr dieser Irren mit nach Hause, okay? Ich habe auch so schon genug, um das ich mich kümmern muss.“
Der Gedanke ernüchterte sie beide. „Dir ist bewusst, dass der Pretender jetzt jede deiner Bewegungen verfolgt. Er nennt sich zwar einen Bewunderer, aber er ist gefährlicher als je zuvor.“
„Ja, das sehe ich auch so. Aber im Moment kann ich nichts dagegen tun. Fitz wird den Fall bearbeiten. Wir müssen schauen, ob es Hinweise gibt, die uns helfen, diesem Pseudonym endlich ein Gesicht zuzuordnen.“
„Das war auf jeden Fall nicht das letzte Mal, dass wir von ihm gehört haben.“ Baldwin startete wieder den Motor und legte einen Gang ein.
„Nein, sicher nicht. Aber wir haben heute Nachmittag ausreichend böse Jungs, mit denen wir uns beschäftigen müssen. Lass uns einfach erst mal den Wolff-Fall lösen.“
Schweigend setzten sie ihren Weg fort, über die West End zum Broadway, an einer ausgelassenen Gruppe Touristen vorbei, die vor dem Tootsie’s stand. Als sie ans CJC kamen, da merkte Taylor, dass Baldwin sich erst auf dem Parkplatz umsah, bevor er hinauffuhr. Die Bedrohung durch Aiden mochte Vergangenheit sein, aber die Erkenntnis, dass er mit weiteren Personen dieses Kalibers zu tun hatte, machte sie trotz ihrer anderslautenden Versicherung ihm gegenüber beklommen.