10. KAPITEL
Taylor stieg in ihren Wagen. Puh. Sie rieb sich die Augen. Reiß dich zusammen, mahnte sie sich. Es hätte schlimmer kommen können. Zum Beispiel wenn du ihnen hättest erzählen müssen, dass ihre Tochter vergewaltigt worden war oder aufgeschlitzt oder in einem Fass mit Säure versenkt. So schlimm der Mord an Corinne Wolff auch war, es gab unglücklicherweise immer noch Schlimmeres. Ein schwacher Trost für die Familie Harris, das wusste Taylor, aber wenigstens sie fühlte sich besser.
In der Hoffnung, damit den Gedanken an diese anschuldigenden Blicke zu entfliehen, steckte sie ihr Handy in die Freisprecheinrichtung, schaltete auf Lautsprecher und wählte die „Eins“ für ihre Mailbox.
Baldwins tiefe Stimme erklang. Er hörte sich etwas blechern an, was an der mangelnden Qualität des kleinen Lautsprechers lag.
„Ich wollte nur mal fragen, wie es dir geht, Babe. Ich hoffe, du hast einen schönen Tag. Ruf mich an, wenn du Zeit hast. Ich liebe dich.“
Taylor rief ihn zurück. Er ging beim ersten Klingeln ran, klang aber etwas abwesend.
„Ich hatte einen spaßigen Morgen, und du?“, fragte sie.
„Genauso. Alles ist gut. Ich kann allerdings nicht sagen, dass ich das hier vermisst habe.“
„Geht es Garrett gut?“
„Oh ja, vollkommen. Er wird wieder gesund.“
„Das ist fein. Sag ihm viele Grüße von mir, ja? Und pass auf dich auf.“
Sie plauderten noch ein paar Minuten, dann legte sie auf. Sofort waren ihre Gedanken wieder bei ihrem Fall. Zeit, sich an die Arbeit zu machen.
Baldwin legte auf und seufzte schwer. Er fuhr sich mit der Hand durch sein schwarzes Haar, sodass es zu allen Seiten abstand. Ein Look, den Taylor sehr amüsant fand, wie er wusste. Mein kleines Stachelschwein nannte sie ihn dann immer. Bei dem Gedanken an diese Albernheit verdrehte er die Augen und wünschte sich, er wäre zu Hause.
Gott, er hasste es, sie anzulügen.
Nein, nichts war in Ordnung.
Baldwin war immer gut darin gewesen, alles fein säuberlich getrennt zu halten. In den hektischsten Ermittlungen blieb er ruhig, er konnte jede Situation mit klinischer Präzision analysieren, ohne sich zu sehr darauf einzulassen, um sich dann mit gleicher Präzision und ohne Bedauern dem nächsten Fall zuzuwenden. Das war mit ein Grund dafür, warum das FBI ihn eingestellt hatte. Und auch die CIA verlangte genau diese Fähigkeit, wenn sie ihn anheuerte.
Er war ungefähr vier Jahre in der Profiling-Einheit gewesen, als Garrett einen kurzen Trip nach Washington, D.C. vorgeschlagen hatte. Es ging um einen ungewöhnlichen Fall. „Es ist ein Gefallen für einen Freund, Baldwin. Du musst dir nur einmal den Tatort und ein paar Beweise anschauen und mir sagen, was du darüber denkst.“
Er war nur allzu bereitwillig mitgegangen. Garrett war sein Mentor und immer fair zu ihm gewesen. Heute bedauerte er sein Einverständnis und war doch gleichzeitig froh, dass er derjenige war, den man gebeten hatte mitzukommen. Er dachte zurück an den Tag, an dem es mit den Lügen angefangen hatte. Ein Junimorgen, der den Lauf seines Lebens verändert hatte.
Es hatte wie immer dichter Verkehr geherrscht. Garrett hatte auf der Fahrt Richtung Norden nicht viel gesprochen. Sie brauchten eine Stunde und vierzig Minuten, um den Beltway zu erreichen. Nicht die beste Zeit. Aber nachdem sie erst einmal auf der 495 waren, leerten sich die Straßen wie von Zauberhand, und innerhalb von fünf Minuten waren sie auf dem George Washington Parkway und fuhren Richtung McLean, Virginia.
Kurz nach der Ausfahrt zur Chain Bridge Road bog Garrett auf einen Aussichtsparkplatz und stieg aus dem Wagen. Der Potomac gurgelte zu ihren Füßen, die Wälder auf der anderen Seite waren dicht und Unheil verkündend. Es waren nur ganz undeutlich einige Wege zu erkennen. Garrett ging vor und bedeute Baldwin, ihm zu folgen. Irgendwas an der Gegend kam ihm vertraut vor. Baldwin brauchte einen Moment, um zu registrierten, dass sie sehr nah am Fort Marcy Park waren, dem Ort eines der berühmtesten Selbstmorde der Washingtoner Geschichte: der des stellvertretenden Beraters des Weißen Hauses, Vince Foster. Die Öffnung der Büchse der Pandora war dagegen ein Kinderspiel gewesen. Er schob die Gedanken an den Skandal beiseite und folgte Garrett tiefer in den Wald.
Nach ungefähr zweihundert Metern durch das Unterholz kamen sie an eine kleine Lichtung. Baldwin roch das Blut, bevor sein Gehirn die Szene vor ihm verarbeiten konnte.
Die Lichtung sah aus wie das Set eines billigen Horrorfilms. Ein selbst gebautes Trockenregal hing zwischen zwei Bäumen: ausgebreitete Haut, Stücke von Genitalien, ein abgetrennter Kopf mit wild starrenden, milchigen Augen – alles sorgfältig an die Drähte gehängt. Es handelte sich um mindestens fünf Frauen in verschiedenen Stadien der Verwesung. Fliegen summten um eine offensichtlich gerade erst getötete Frau.
Baldwin spürte, wie ihm die Galle hochstieg. Das war eine vollkommen unnatürliche Reaktion von ihm. Etwas Böses hauste in diesen Wäldern. Er konnte fühlen, wie das Grauen aus allen Poren sickerte, und wäre am liebsten zurück zum Auto gerannt.
„Heilige Muttergottes. Was ist das, Garrett?“
Garretts Antwort war ein Seufzen. „Das sollst du mir sagen.“
Später an diesem ersten Tag hatte Baldwin mit blassem, verkniffenem Gesicht im ersten Stock von Mr Henry’s gesessen, einer lauten Bar. Garrett saß schweigend neben ihm.
Garrett hatte angedeutet, dass von diesem Treffen Antworten zu erwarten wären, aber bisher war nichts geschehen. Baldwin trank ein Sierra Nevada Pale Ale und versuchte verzweifelt, damit den Geschmack von Fäulnis und Angst aus seiner Stimme zu spülen.
Er schaute aus dem Fenster, sah Menschen vorbeigehen und war froh, dass sie nicht wussten, welchen Horror er gerade erlebt hatte. Wie sollte er für ihre Sicherheit sorgen?
Als er sich wieder umdrehte, setzte sich ihm ein großer, kahlköpfiger Mann gegenüber und musterte ihn. Er hatte schlaue Augen, die blauer waren als kaltes Meereswasser, einen kräftigen Nacken und dicke Finger. Seinen Namen gab er mit Atlantic an, ein Spitzname, den er wohl seinem Äußeren zu verdanken hatte.
Atlantic sagte, dass er Baldwins Führungsoffizier in diesen grausamen, stummen Fällen sein würde. Baldwin hörte aufmerksam zu, fasziniert von den eisigen Augen, und versuchte, die Nationalität des älteren Mannes zu erraten. Er konnte es auf irgendeinen der Balkanstaaten eingrenzen, hörte auch ein wenig britischen Einfluss in den lang gezogenen As, doch genauer konnte er es nicht bestimmen. Was ihn unglaublich nervte.
Atlantic sprach mit seinem seltsamen Akzent gefühlte Stunden lang, aber Baldwin wusste, dass es nur ein paar Minuten gewesen sein konnten. Als er fertig war, fragte Baldwin: „Warum ich?“
„Weil Sie der Beste sind, den wir je gesehen haben. Weil Sie mehrere Sprachen sprechen und sich an jedes Land anpassen können. Wie viele Sprachen sprechen Sie fließend? Acht? Neun?“
„Dreizehn.“
Atlantic neigte respektvoll den Kopf und tippte mit dem Finger auf die Tischplatte. „Weil Sie die Leidenschaft besitzen, um diesen Opfern Erlösung zu verschaffen, und gleichzeitig die Klugheit, darüber Schweigen zu bewahren. Und weil wir darum bitten.“
Zu dem Zeitpunkt hatte ihm das als Antwort gereicht. Baldwin hatte zugestimmt, die Position des Profilers in dem einzunehmen, was Atlantic „Operation Engelmacher“ getauft hatte.
Seine erste Aufgabe bestand darin, den Waldmörder zu finden. Baldwin hatte den Fall innerhalb weniger Tage gelöst. Der Mörder war ein Attaché der sambischen Botschaft. Baldwin hielt ihn auf, bevor er sein sechstes Opfer töten konnte. Der Mann war kurzerhand und mit einer strengen Warnung an seine Regierung, ihn nie wieder einen Fuß auf US-amerikanischen Boden setzen zu lassen, ausgewiesen worden. Das blitzende Lächeln des Mörders, als er das Flugzeug bestieg, das ihn nach Lusaka zurückbringen würde, verfolgte Baldwin bis heute in seinen Träumen.
Das war der Erste. Es gab noch mehr. Selten auf US-Boden. Die Fälle, an denen er arbeitete, waren sehr ruhig, verstrickt und tödlich. Verschiedene Mörder, verschiedene Vorgehensweisen. Todeszonen und Bluträusche, die so verschwiegen wie möglich behandelt werden mussten und für die man sich dunkelster Kanäle bediente. Das waren keine Männer, wie man sie in Gerichtsshows oder sogar vor einem echten Gericht sah. Diese Männer wurden geschützt.
Die Regierungen verschiedener Länder hatten bezahlte Mörder auf ihren Gehaltslisten. Männer und Frauen, die dafür bezahlt wurden zu töten, die ausgebildete Soziopathen waren und manchmal von den ihnen vorgeschriebenen Wegen abwichen, um ihre eigentlichen Neigungen zu befriedigen. Sie entwickelten eine Blutlust, die allein die Zielpersonen der Regierung nicht mehr stillen konnten. Diese Mörder aufzuspüren war eine Aufgabe, die nicht irgendwelchen Agenten überlassen wurde.
Operation Engelmacher hatte auch einen echten Namen. „Die vereinigte Einsatzgruppe gegen potenziell gefährliche Subjekte“, aber DVEGPGS funktionierte als Akronym nicht so gut. Also wurden sie OE, eine verdeckt arbeitende Gruppe, die so geheim war, dass nur die unmittelbaren Mitglieder von ihrer Existenz wussten. Es gab keine Aufsicht durch den Kongress, keine Anweisungen des Präsidenten, nur den Kopf der CIA und ein paar Menschen, denen nur mitgeteilt wurde, was sie unbedingt wissen mussten.
Die Vereinbarung, die Atlantic mit Garrett getroffen hatte, war, dass er Baldwin von Zeit zu Zeit auslieh, um bestimmte „Projekte“ zu überwachen. Was Baldwin aber tatsächlich tat, war, ein Profil internationaler Serienmörder zu erstellen, vor allem von Männern, die seine Auftraggeber nur zu gerne ins Gefängnis gesteckt wissen würden. Diese Killer waren für ihre jeweiligen Regierungen sehr wichtig und manchmal auch für die Vereinigten Staaten. Männer mit ungewöhnlichen Neigungen, wie Atlantic es so passend ausgedrückt hatte. Baldwins Job war es nicht, sie aus Ärger herauszuhalten oder zu verstecken, sondern vorherzusagen, wo und wann sie als Nächstes zuschlagen würden. Wenn die Engelmacher wussten, wann ein Mörder das nächste Mal aktiv werden würde, konnten sie einen Köder einsetzen; meistens handelte es sich dabei um einen Auftragsmord, der die sofortige Aufmerksamkeit des Attentäters erforderte. Mit dieser Taktik schafften sie es, die Unschuldigen so gut es ging zu beschützen und die Auftragsmörder einigermaßen im Auge zu behalten.
Wenn Baldwin ehrlich war, faszinierte ihn die kulturübergreifende Analyse. Bei den Engelmachern gab es kein „Nature versus Nurture“. Das Böse war stärker als beides zusammen.
Das Programm widerstrebte jeder Faser seines Seins, doch er verstand die Notwendigkeit. Baldwin war immer ein guter Soldat gewesen. Er stimmte der Arbeit in der Gruppe unter einer Bedingung zu. Die US-Regierung setzte ihre Attentäter normalerweise nicht im eigenen Land ein. Doch falls einer dieser Männer jemals wieder einen Fuß in die Vereinigten Staaten setzen würde, würde man Baldwin darüber informieren. Er wusste, wozu diese Irren fähig waren, und beharrte auf dieser Bedingung. Atlantic hatte schließlich zugestimmt.
Seit zehn langen Jahren arbeitete er schon in der Gruppe. Sie hatten zu jedem Zeitpunkt mindestens fünfzig Männer und Frauen gleichzeitig im Auge.
Garretts plötzliche Herzprobleme waren eine Täuschung. Baldwin war nach Quantico geholt worden, weil Atlantic sich an ihre Abmachung hielt. Er war gewarnt worden, und man hatte ihm das Werkzeug gegeben, um seinen Feind unter die Lupe zu nehmen. Ein Erzfeind von ihnen war auf dem Radar der Engelmacher aufgetaucht. Der Mörder hatte sein Zuhause ausgeräumt, alle Papiere und falschen Ausweise mitgenommen und war verschwunden. Man munkelte, dass er einen Auftrag in den USA erhalten hatte, aber bisher hatte sich noch niemand dazu bekannt.
Der Attentäter war gebürtiger Amerikaner, aber, als brillanter verlorener Sohn eines hochrangigen Diplomaten, überall auf der Welt aufgewachsen. Mit Billigung der Regierung hatte er früh angefangen zu töten. Seine außerplanmäßigen Aktivitäten waren gut verdeckt worden; er hatte sich Mühe gegeben, dabei einigermaßen diskret zu sein. Doch er war nicht diskret genug gewesen. Nachdem er einmal die Aufmerksamkeit der Operation Engelmacher erregt hatte, wussten sie, dass sie ihn im Auge behalten mussten. Und jetzt stimmten alle Lageberichte überein: Der Mörder, der als Aiden bekannt war, hatte eine Reise über den Atlantik angetreten.
Baldwin hatte schon oft mit Aiden getanzt. Er würde seine Signatur überall erkennen. Aiden mochte es, als Attentäter der alten Schule betrachtet zu werden; ein Künstler, der eine silberne Garrotte benutzte, um seine Opfer zu erwürgen. Er hatte mindestens vierzig Morde auf dem Gewissen, von denen sie wussten. Die tatsächliche Zahl könnte noch viel höher liegen. Er spielte das Spiel, wusste über das OE-Team Bescheid, wusste, dass er ein Ziel der Feds war. Er war ein sehr wahlloser Mörder – er brauchte keinen speziellen Typen, sondern einfach nur einen Hals. Das machte ihn besonders gefährlich.
Wenn die Berichte stimmten und Aiden wirklich in den Staaten war, musste Baldwin ihn sehr genau im Auge behalten. Vorausgesetzt, er fand ihn.