28. KAPITEL

In den Büros des Office of Professional Accountability (OPA), wie das Dezernat Interne Ermittlungen der Metro Police offiziell hieß, war es eisig kalt. Jemand hatte die Klimaanlage auf volle Leistung gestellt, was angesichts der herrschenden Außentemperaturen vollkommen übertrieben war.

Taylor musste all ihre Selbstkontrolle aufbieten, um nicht zu zittern. Sie wollte keinen falschen Eindruck erwecken. Captain Delores Norris sollte nicht denken, dass sie Angst hatte. Sie nahm an, dass sie die Klimaanlage absichtlich so kalt gestellt hatten, damit sie sich selbst mächtiger fühlen konnten. Price schien das nichts auszumachen, er legte einfach seinen rechten Knöchel auf sein linkes Knie und saß ganz still und in Gedanken versunken da.

Taylor hatte seit David Martins Tod kaum Kontakt mit dem OPA gehabt. Außer letzten Monat, als sie gezwungen gewesen war, ihr Magazin auf einen Mörder zu leeren, der sich Schneewittchen nannte. Damit hatte sie aber kein Problem gehabt. Die Officer des OPA waren innerhalb der Truppe nicht sonderlich beliebt. Sie durften keine Freundschaften mit ihren Kollegen schließen, mussten sich von den anderen fernhalten und stets tadellos verhalten. Verbrüderungen waren nicht erlaubt.

Kurz nachdem die ehemalige Investigative Service Division in Office of Professional Accountability umbenannt worden war, hatte Fitz ihr den Spitznamen „Oompa“, also Blasmusik, verpasst. Die Mordkommission hatte sich darüber sehr amüsiert, und irgendwann war der Name dann auch in andere Abteilungen durchgesickert und wurde heute wie selbstverständlich benutzt. Taylor nahm an, dass die Beamten der Internen Ermittlung inzwischen von allen „Oompas“ genannt wurden – natürlich nur hinter ihrem Rücken.

Mit der Ernennung des neuen Abteilungsleiters wurde der Name sogar noch passender, wobei Taylor sich ab und zu fragte, ob ihr Chief of Police überhaupt Sinn für Humor besaß. Neuer Captain war Delores Norris, eine Frau, die nicht größer als einen Meter fünfzig sein konnte. Doch was ihr an Größe fehlte, machte sie dadurch wett, dass sie schwarz und eine Frau war. Sie war während ihrer Laufbahn unglaublich schnell befördert worden und nun Chefin der am meisten gehassten Abteilung der gesamten Polizei. Ihre winzige Statur trug nur dazu bei, dass der Spitzname weiter in Gebrauch blieb, und dass sie leichte O-Beine hatte und ging wie ein Besucher auf dem Oktoberfest nach der sechsten Maß, half auch nicht wirklich. Wenn sie über die Flure wackelte, war immer ein leises „Oompa, Oompa“ zu hören. Taylor war es ein Rätsel, wie die Frau es aushielt, ständig das Ziel für Hohn und Spott zu sein.

Die Frage stellte sich ihr auch in diesem Moment, wo Taylor selbst das Ziel von Oompas Spötteleien war und die Situation überhaupt nicht amüsant fand.

Delores Norris saß mit kerzengeradem Rücken auf dem Stuhl, der Stoff ihrer gestärkten Uniform berührte nicht einmal die Stuhllehne. Ihr Haar war kurz geschnitten, um die Schläfen wurden die Locken schon leicht grau. Sie las einen vor ihr auf dem Tisch liegenden Bericht und klopfte dabei mit ihrem Stift auf den dazugehörigen Umschlag. Alle paar Sekunden warf sie Taylor einen Blick über ihre rote, halbmondförmige Lesebrille zu und schüttelte leicht den Kopf. Nach einer gefühlten Stunde unter diesem durchdringenden Blick schloss Norris die Akte und legte den Stift daneben.

„Also Lieutenant, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie enttäuscht ich bin, Sie heute in meinem Büro zu sehen. Sie hatten eine außergewöhnliche Karriere bei der Metro Police, eine, die es lohnte, im Auge zu behalten. Ich habe sie beobachtet, junge Frau.“ Sie hatte einen seltsamen Akzent. Nicht wie ein Ausländer, aber irgendwie komisch, als wenn sie versuchte, ein ernsthaftes Lispeln zu vermeiden. Sie betonte die falschen Wörter, was ihrer Stimme einen gewissen schrillen Unterton verlieh.

Taylor fühlte sich wie ein gescholtenes Schulmädchen. Sich über die Oompa lustig zu machen war leicht, wenn man ihrer finster dreinblickenden Leiterin nicht direkt gegenübersaß. Taylor nickte nur schwach, nicht sicher, was die Frau von ihr hören wollte.

Die Oompa musterte sie noch einen Moment, und Taylor hätte schwören können, dass es um ihre Lippen zuckte. Verdammt, sie genoss es, Taylors Unbehagen zu sehen. Diese Erkenntnis reichte, um Taylor wütend zu machen. Sie setzte sich aufrechter hin und erwiderte Oompas Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie hatte nichts falsch gemacht und würde sich von niemandem etwas anderes einreden lassen.

„Ihnen ist doch bewusst, Lieutenant, dass das hier schwere Zeiten für Sie sind. Die Videos von Ihnen beim …“, sie unterbrach sich und schnaubte einmal, als wenn ihr ein unglaublich widerlicher Geruch in die Nase gestiegen wäre, „… beim Geschlechtsverkehr mit einem Kollegen sind eine Sache. Mit diesem Punkt müssen wir uns separat befassen. Für die aktuelle Unterhaltung viel wichtiger ist das Video, das zeigt, wie Sie Ihren Kollegen erschießen. Sehr kaltblütig, wie ich hinzufügen darf. Das sieht nicht gut für Sie aus, mein Mädchen.“

Bei der lächerlichen Ausdrucksweise und Betonung hätte Taylor am liebsten laut geschrien. Stattdessen gab sie nur schnippisch zurück: „Oh, sicher, vergessen wir doch einfach alle, dass wir wissen, dass es sich nicht so zugetragen hat und ich David Martin aus Notwehr erschossen habe. Er hat versucht, mich umzubringen. Darf ich hinzufügen, dass sowohl die Grand Jury als auch Ihre Abteilung dieser Annahme damals zugestimmt haben?“

„Taylor“, warnte Price sie.

Taylor biss die Zähne zusammen und schwieg. Oompa nutzte die Gelegenheit, wieder das Wort zu ergreifen.

„Nun, Lieutenant, ich muss schon sagen, dass das Video relativ belastend ist.“

Taylor hatte Mühe, ruhig zu bleiben. „Das Video ist offensichtlich manipuliert worden.“

„Das sagen Sie, Lieutenant, das sagen Sie. Aber das ist nicht so einfach, nicht wahr? Auf dem Rücken Ihrer Kollegen die Karriereleiter hinaufzuklettern war Ihnen wohl nicht genug?“

„Wie bitte?“ Taylor schaute Price an, der vor Entrüstung stotterte.

„Captain Norris, diesen Vorwurf weise ich entschieden zurück. Die Akte von Lieutenant Jackson ist tadellos, sie hat sich ihre Position redlich verdient. Sie überschreiten hier gerade Ihre Kompetenzen.“

Tue ich das, Mitchell? Du deckst diesem Mädchen doch schon seit Jahren den Rücken. Vielleicht ist es an der Zeit, sie auf eigenen Füßen stehen zu lassen, damit sie ihre Flügel ausbreitet und wir sehen können, ob sie wirklich fliegen kann.“

„Ich finde, das ist hier nicht der rechte Augenblick für deine Metaphern, Delores. Wir sprechen hier über die Karriere eines der am höchsten ausgezeichneten Officers in meinem Department. Einer Frau, die den Respekt der Truppe als auch der Leitung genießt.“

Es gab keinen Zweifel, was Price damit implizierte, und Taylor unterdrückte ein Lächeln, als sie sah, wie Oompas Kopf beinahe explodierte. Die gewählte Aussprache war mit einem Mal verschwunden.

„Wir kannst du es wagen anzudeuten, dass ich nicht den Respekt der Truppe habe? Wusstest du, dass ich schon vier Mal für meine Hingabe an diese Abteilung ausgezeichnete worden bin …?“

„Delores.“ Price beugte sich vor und schaute sie aus zusammengekniffenen Augen an. „Ich deute gar nichts an. Ich sage nur, dass dieser weibliche Lieutenant nicht nur ein exzellenter Officer ist, sondern sich durch ihre hervorragende und beispielhafte Arbeit auch den Respekt ihrer Kollegen erworben hat. Sie ist ein Gewinn für die Polizei. Sie hat mir gesagt, dass das Video manipuliert worden ist und sie Detective Martin nicht kaltblütig erschossen hat, und ich glaube ihr. Ich werde dich, was diesen Fall angeht, bis aufs Messer bekämpfen, Delores. Das kannst du mir glauben.“ Price hatte seine Wut kaum noch unter Kontrolle. Ein fuhr sich mit der Hand über seinen kahlen Kopf, auf dem sich bereits ein paar Schweißtropfen gebildet hatten.

Taylor war schockiert. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals gehört zu haben, wie ihr Boss einem Vorgesetzten sagte, er solle sich in Acht nehmen. Aber genau das hatte er gerade getan. Und die Oompa wusste es. Ihr Gesicht nahm eine ungesunde, dunkelrote Farbe an. Sie setzte ihre Brille wieder auf, um ihr Unbehagen zu verbergen. Dann räusperte sie sich und schaute Taylor an.

„Nun, mein Mädchen, das war ein leidenschaftlicher Appell zu Ihren Gunsten. Ich nehme an, Sie erzählen uns, was in der Nacht geschehen ist.“ Sie schaltete ein Aufnahmegerät ein, das neben ihr auf dem Tisch stand. „Natürlich fürs Protokoll.“ Die Oompa lächelte, was kein schöner Anblick war. Immer noch in vier verschiedene Farbtöne der Wut gehüllt, sah sie aus wie eine vom Teufel besessene Potato-Head-Puppe. Allerdings wie die männliche Version.

Taylor schob das Bild beiseite und schaute zu Price, der immer noch verärgert die Stirn runzelte. Er nickte und strich sich dann mit dem Finger über seinen dichten Schnurrbart. „Taylor, erzähl uns, was genau passiert ist. Lass nichts aus.“

Taylor lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und stieß den angehaltenen Atem aus. Sie hätte Delores Norris gerne ein paar wohl gewählte Worte gesagt, aber sie schluckte sie herunter. Es hatte keinen Sinn, sich ein Wettpinkeln mit der Frau zu liefern, die ein gutes Wörtchen in der Beurteilung der ganzen Angelegenheit mitzureden hatte.

Sie nickte Price zu, atmete noch einmal tief ein und begann.

„Okay. Glauben Sie mir, die Einzelheiten jener Nacht haben sich mir tief ins Gedächtnis gebrannt. Ich habe garantiert nichts vergessen.“ Taylor holte den Abend aus den Tiefen ihrer Erinnerungen hervor und fing mit gerunzelter Stirn an, ihre Geschichte zu erzählen.

„Ich hatte mir gerade den Kopf zerbrochen, wie ich Captain Price über das informieren sollte, was ich entdeckt hatte. Ich habe das Telefon bestimmt zehn Mal in genauso vielen Minuten zur Hand genommen. Ich wusste, wie schlimm es aussah, wusste, dass es Karrieren zerstören würde. Aber dem Ganzen musste Einhalt geboten werden.“

Taylor drückte auf die Wahlwiederholung, hörte, wie gewählt wurde, die Verbindung zustande kam. Sie legte wieder auf und ließ ihre Hand mit dem Hörer sinken. Wenn sie diesen Anruf tätigte, würde es kein Zurück mehr geben. Hatte sie recht, würde sie das nicht zur Heldin machen. Lag sie aber falsch … nun, darüber wollte sie gar nicht erst nachdenken. Ihren Job zu verlieren wäre dann die geringste ihrer Sorgen. Sie war verdammt, wenn sie es tat, und verdammt, wenn sie es nicht tat.

Sie legte das Telefon auf den Billardtisch und ging die Treppe in ihrer Hütte hinunter. In der Küche öffnete sie den Kühlschrank und nahm eine Dose Cola light heraus. Sie lachte über sich. Als ob noch mehr Koffein ihr den Mut verleihen würde, den Anruf zu tätigen. Sie sollte es mit einem Schluck Whiskey probieren. In Filmen funktionierte das immer.

Sie öffnete die Dose und starrte gedankenverloren aus dem Küchenfenster. Es war schon seit Stunden dunkel. Der Mond war verschwunden und hatte vor ihrem Fenster eine undurchdringliche Dunkelheit hinterlassen. Doch in einer Stunde würde es wieder hell werden. Bis dahin musste sie eine Entscheidung getroffen haben.

Taylor wandte sich vom Fenster ab. Es gab keine andere Lösung. Sie konnte und würde ihre Integrität nicht für diesen Idioten aufs Spiel setzen. Ein unbekanntes Geräusch brachte sie abrupt in die Gegenwart zurück. Es klang wie der Transformator am Ende ihrer Auffahrt, ein tiefes, elektronisches Summen. Den Bruchteil einer Sekunde später gab es ein lautes Knacken, dann gingen alle Lichter aus. Ihr Herz klopfte wie wild, und sie schalt sich innerlich. Dummes Mädchen, dachte sie. In diesem Teil von Bellevue gab es alle naslang Stromausfälle. Der Nashville Electric Service hatte extra für diesen Teil der Stadt eine vierundzwanzigstündige Notbesetzung. Es hatte so geklungen, als ob der Stromausfall von einer simplen Überspannung ausgelöst worden war. Hör auf, dich wie ein Angsthase zu benehmen, befahl sie sich. Du bist eine erwachsene Frau, du hast keine Angst vor der Dunkelheit.

Sie griff in ihre Krimskramsschublade und tastete nach der Taschenlampe. Sie betätigte den Schalter und fluchte, als die Lampe nicht anging. Batterien. Wo waren noch gleich die Batterien?

Sie hörte ein anderes, leiseres Geräusch und erstarrte. Alle ihre Sinne schalteten auf höchste Alarmstufe. Sie lauschte ganz still. Ja, da war es wieder. Ein Kratzen, ganz in der Nähe von ihrer rückwärtigen Terrasse. Sie nahm einen tiefen Atemzug und schlängelte sich aus der Küche. Dabei hielt sie sich nah an der Wand und schlich in Richtung Hintertür. Ihre Hand fuhr unwillkürlich zu ihrer Hüfte und fand nichts. Verdammt. Sie hatte ihre Waffe oben gelassen.

Das Klirren von brechendem Glas ließ sie innehalten. Die Glastüren, die zum rückwärtigen Garten führten, waren aufgebrochen worden. Es war zu spät, um nach oben zu rennen und die Pistole zu holen. Um zur Treppe zu kommen, müsste sie einmal quer durch das Wohnzimmer laufen. Aber wer auch immer gerade ihre Tür aufgebrochen hatte, würde sie nicht einfach so davonschlendern lassen. Leise trat sie den Rückzug in die Küche an. Sie hielt den Atem an, als würde das dabei helfen, kein Geräusch zu verursachen.

Sie sah die Faust nicht, sondern spürte sie nur gegen ihren Kiefer knallen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und bevor sie reagieren konnte, schlug die Faust wieder zu. Dieses Mal explodierten ihre Zähne in ihrem Mund, und Blut sprudelte von ihren Lippen. Sie wirbelte herum und knallte mit dem Gesicht zuerst gegen die Wand. Der Aufprall raubte ihr die Luft. Sie merkte, dass der Eindringling sie packte, als sie drohte, an der Wand herunterzurutschen.

Er bewegte sich schnell, blitzschnell. Jetzt, wo er sie anfasste, hatte sie einen Vorteil, denn nun wusste sie genau, wo ihr Angreifer sich befand. Sie setzte an, sich zu drehen und zu ducken, doch die Hand auf ihrer Schulter drückte sie mit dem Gesicht voran in die Wand. Verdammt, das tat weh.

Sie wehrte sich, so gut sie konnte. Dass sie es mit einem Mann zu tun hatte, merkte sie nicht nur an seiner Stärke, sondern auch an der verräterischen Härte, die sich gegen ihren unteren Rücken drückte. Großartig, er würde sich nicht damit zufriedengeben, sie zusammenzuschlagen, nein, er wollte auch noch seinen Spaß mit ihr haben.

Aber nicht, wenn sie es irgendwie verhindern konnte.

Sie wirbelte herum, sodass sie mit ihrem Gesicht an seiner Brust war. Dann holte sie aus, doch er packte ihre Faust und drückte Taylor wieder gegen die Wand. Er legte seine Hände um ihren Hals. Sie kämpfte gegen ihn an, merkte jedoch schnell, dass er nicht hier war, um sie zu verprügeln und zu vergewaltigen. Er war hier, um sie umzubringen. Da er stärker war als sie, machte sie sich ganz schlapp. Sie sackte gegen ihn und überraschte ihn mit dem plötzlichen Gewicht. Den Moment nutzte sie, um sich mit ihrem rechten Bein von der Wand abzustützen und ihn mit aller Macht von sich zu stoßen. Es ergab sich eine kleine Lücke zwischen ihnen, durch die sie sich aus seinem Griff befreien konnte. Sie taumelte ins Wohnzimmer und krachte gegen den Schiefercouchtisch, wobei sie sich einen tiefen Riss im Schienbein zuzog.

Ihr Angreifer setzte ihr nach. Taylor nutzte den stabilen Tisch, um sich aufzurichten. Mit dem linken Arm holte sie zu einem perfekten Jab aus, wobei sie tiefer zielte, als sie sein Kinn vermutete. Sie traf ihr Ziel und hörte ihn vor Schmerzen aufstöhnen. Zufrieden spuckte sie das Blut aus, das sich in ihrem Mund gesammelt hatte. Dann trat sie ihm in den Magen und spürte, wie er nach Atem rang. Er fiel gegen die Wand. Sie wirbelte herum und rannte zur Treppe. Er sprang ihr hinterher, doch sie war schneller. Sie nahm drei Stufen auf einmal und bog in dem Moment um die Ecke, als ihr Angreifer oben ankam. Das Licht ging wieder an und blendete sie für einen Moment.

Die Waffe lag auf ihrem Billardtisch neben dem Telefon, genau da, wo Taylor sie hatte liegen lassen, als sie in die Küche gegangen war, um sich was zu trinken zu holen. Sie wurde nachlässig. Bei allem, was passierte, hätte sie nicht davon ausgehen dürfen, in ihrem Haus sicher zu sein.

Ihre Finger schlossen sich um den Griff der Glock. Sie packte die Neunmillimeter fester und wirbelte in genau dem Augenblick herum, als der Mann schreiend durch die Tür kam. Sie dachte nicht über die Folgen nach, sondern reagierte einfach nur. Die Kugel traf ihn direkt zwischen den Augen. Sein Schwung trieb ihn noch ein paar Schritte vorwärts. Knapp anderthalb Meter von ihr entfernt fiel er mit einem dumpfen Geräusch zu Boden.

Sie hörte ihren eigenen angestrengten Atem. Sie schmeckte ihr Blut und hob eine verletzte Hand an ihren Kiefer, um vorsichtig ihre Lippen und Zähne zu befühlen. Der Mistkerl hatte ihr zwei Backenzähne ausgeschlagen. Der Adrenalinrausch verebbte. Bewusstlos brach sie neben dem leblosen Körper zusammen.

Das Pochen in ihrem Kiefer weckte sie. Der Himmel vor dem Fenster wurde langsam hell, das Morgenlicht leuchtete das Grauen vor ihren Füßen aus. Sie musste eine ganze Weile ohnmächtig gewesen sein. Langsam erhob sie sich und nahm die Szene in sich auf. Der Mann war auf dem Fußboden ihres Spielzimmers zusammengebrochen, sein Blut sickerte langsam in ihren Berberteppich. Abwesend betrachtete sie den Fleck.

„Der wird schwer wieder rauszukriegen sein.“

Sie schüttelte den Kopf, um den Nebel zu vertreiben. Was für ein kranker Gedanke! Schock, sie musste unter Schock stehen. Wie lange hatten sie gekämpft? Waren es nur fünf Minuten gewesen? Eine halbe Stunde? Sie fühlte sich, als hätte sie sich tagelang gegen ihn gewehrt; ihr Körper war müde und wund. Ganz zu schweigen von dem getrockneten Blut um ihren Mund und dem offenen Riss an ihrem Schienbein. Sie hob ihre Hand zum Gesicht. Ihre Nase war schon wieder gebrochen. Verdammt.

Sie betrachtete den Mann. Er lag mit dem Gesicht nach unten und leicht zu einer Seite geneigt. Sie schob ihren Zeh unter seinen rechten Arm und drehte den Körper dann mit dem Fuß um. Vielleicht war noch ein Rest Adrenalin in ihrem Blutkreislauf. Der Schuss war wirklich losgegangen; sie sah das kleine Loch in seiner Stirn. Sie streckte die Hand aus und fühlte an seiner Halsschlagader nach seinem Puls, doch da war nichts. Er war definitiv tot.

„Oh David“, sagte sie. „Was hast du dir nur dabei gedacht?“

„Ich habe immer noch die Narbe von dem Couchtisch an meinem Schienbein.“ Taylor wischte sich die Tränen aus den Augen und schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. Sie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, als sie die Vergangenheit abschüttelte und langsam wieder in der Gegenwart ankam. Sie starrte Delores an.

„Die Grand Jury hat diese Geschichte gehört. Sie war der Meinung, dass ich in Selbstverteidigung gehandelt habe. Ihr Büro hat mich von jeglichem Fehlverhalten freigesprochen. Was immer Sie auch auf diesem Video gesehen haben, es ist eine Lüge. Der Strom war während des Angriffs ausgefallen und setzte mittendrin wieder ein. Sicher hat das zu einer Lücke in dem Video geführt. Es wäre leicht, diese Lücke mit etwas anderem zu füllen.“

Die Oompa rutschte von ihrem Stuhl. Stehend war sie genauso groß wie Taylor im Sitzen. Sie schaute Taylor eindringlich an.

Wir sind diejenigen, die das zu entscheiden haben, Lieutenant. Es ist außerdem eine Beschwerde gegen Sie eingereicht worden wegen Schikane und Freiheitsberaubung. Es scheint, Sie hatten eine unangenehme Unterhaltung mit einem möglichen Zeugen. Er sagt, Sie hätten Ihre Waffe gezogen. Stimmt das?“

Mist. Verdammter Tony Gorman. Sie hatte ihn unterschätzt.

„So ist das nicht gewesen.“

„Wir werden sehen. Ich denke, Sie haben eine Grenze zu viel überschritten, Miss. Es tut mir leid, aber während wir die Fälle untersuchen, müssen Sie Ihre Marke und Ihre Waffe abgeben. Wir müssen genau nach Vorschrift vorgehen. Sie sind von jetzt an ohne Bezahlung suspendiert, und die Untersuchung Ihrer Taten wird uns verraten, was in der Nacht, in der Ihr Kollege ermordet wurde, wirklich passiert ist. Es ist sehr schwer, ein Videoband zu manipulieren, auch wenn das Fernsehen einem etwas anderes erzählt. Und wir werden uns auch die Anzeige bezüglich der Schikane genau ansehen.“

„Wie bitte?“, fragte Taylor in dem Moment, in dem Price sagte: „Sie können sie dafür nicht suspendieren! Sie hat nichts falsch gemacht.“

Die Oompa lächelte ihr schiefes Lächeln und streckte die Hand aus. „Oh? Ich denke, kaltblütig einen Kollegen zu erschießen ist durchaus als falsch anzusehen, Captain. Ich denke, Zeugen einzuschüchtern ist ebenfalls falsch. Ich kann den Lieutenant suspendieren, und ich habe es soeben getan. Die Öffentlichkeit würde nach meinem Kopf verlangen, wenn sie den Eindruck bekäme, wir würden das vertuschen. Ihre Marke und Pistole, Lieutenant.

Taylor schluckte alle Bemerkungen herunter, die ihr auf der Zunge lagen. Sie würde sich keinen Gefallen tun, wenn sie sich widersetzte. Die Oompa hatte es auf sie abgesehen, das wurde ihr nun bewusst. Eine Tatsache, die sich für ihre Karriere als tödlich herausstellen könnte. Ohne Price anzuschauen, der Norris mit wüsten Flüchen bedachte, stand sie auf. Sie überragte Oompa, die nicht mit der Wimper zuckte, sondern ihre Hand einfach nur ein wenig höher hielt.

Taylor nahm ihre Glock aus dem Hüftholster und legte sie in Norris winzige Handfläche. Dann löste sie ihre Marke vom Gürtel und legte sie vorsichtig auf die Dienstpistole. Sie schluckte. In ihren Ohren rauschte es. Ihr Herz fing an, wild zu pochen, und sie hörte nichts anderes mehr. Sie drehte sich auf dem Absatz um und verließ das Büro der OPA erhobenen Hauptes.