8. KAPITEL
Wenn Taylor mitten in einem Fall steckte, arbeitete sie jeden Tag ein bisschen mehr als am Tag davor.
Sie verließ das Büro kurz nach elf Uhr abends. Zu Hause hatte sie bestimmt noch etwas Wein und Käse und vielleicht sogar ein Stück Brot. Es war zu spät für ein echtes Abendessen, und nachdem sie fünf Monate mit Baldwin zusammengelebt hatte, merkte sie jetzt, dass sie keine Lust mehr hatte, allein zu essen. Um halb zwölf schloss sie die Tür zu ihrem Haus auf. Sie gähnte ausgiebig und entschied, es gut sein zu lassen und gleich ins Bett zu gehen. Sie würde sich stattdessen morgen ein ausgiebiges Frühstück gönnen.
Baldwin hatte angerufen und ihr eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, die dazu gedacht war, in ihr die lustvolle Sehnsucht nach seiner Wärme zu entfachen. Sie lächelte über diesen Versuch, sie zu schmutzigen Gedanken anzuregen, war aber zu müde, um an irgendetwas anderes als ihr kuscheliges Bett und viele Stunden Schlaf zu denken.
Auf dem Tresen in der Küche lag die Rechnung des Klempners. Das Leck hatte sie vollkommen vergessen. Hatte sie diesen Tag wirklich mit einem so banalen Thema begonnen? Es fühlte sich an, als wäre seitdem mindestens eine Woche vergangen.
Nur ein kaputter Schwimmer, der dafür gesorgt hatte, dass stetig Wasser in die Toilette floss und sie so zum Überlaufen gebracht hatte. Er hatte ihn ersetzt. Die Rechnung betrug 150 Dollar für Teile und Arbeitszeit, aber dank ihrer Versicherung musste sie davon nur 42,50 Dollar zahlen. Sie warf einen kritischen Blick zur Decke im Esszimmer. Sie war bereits ohne sichtbare Flecken getrocknet. Gut. Die Decke zu ersetzen stand nicht sonderlich weit oben auf ihrer Liste an Dingen, die sie gerne tun würde. Auch wenn an dem Haus schon tausend Kleinigkeiten angefallen waren, so waren sie doch zum Glück auch nur das gewesen: Kleinigkeiten. Sie klopfte dreimal auf Holz – möge es dabei bleiben.
Sie rief Baldwin zurück, und sie unterhielten sich ein paar Minuten. Sie erzählte ihm von ihrem Tag, und er versicherte ihr, dass es Garrett gut gehe. Nach ihrem vierten lautstarken Gähnen schlug Baldwin vor, dass Taylor besser zu Bett gehen solle. Mit dem Versprechen, am nächsten Morgen wieder zu telefonieren, legten sie auf.
Ein Hund bellte einmal scharf und tief auf, dann heulte er. Das Geräusch verursachte ihr eine Gänsehaut. Bevor sie nach oben ging, stellte sie noch die Alarmanlage an.
Sie wusch sich das Gesicht, putzte sich die Zähne und war gerade dabei, ins Bett zu klettern, als sie den Einspieler das erste Mal hörte. Channel Five wiederholte seine Zehn-Uhr-Nachrichten um Mitternacht noch einmal auf einem Schwestersender. Mit einer dramatischen Stimme, die jeden Zuschauer in ihren Bann zog, kündigte der Sprecher die nächste Nachricht an.
„Wir werden Ihnen jetzt den Notruf vorspielen, der vom Tatort des Mords an Corinne Wolff aus abgesetzt wurde. Wir müssen Sie jedoch warnen, das Band ist sehr verstörend und für jüngere Zuschauer nicht geeignet.“
Der Bildschirm wurde schwarz, dann erschien ein Telefonsymbol auf blauem Hintergrund. Darüber stand das Wort Notruf. Das Band begann mit viel statischem Knistern, dann wurde es klarer. Michelle Harris’ Worte wurden vom Sender zusätzlich eingeblendet.
911-Vermittlung: „Neun-eins-eins, um was für einen Notfall handelt es sich?“
Michelle Harris: „Ich glaube, meine Schwester ist tot. Oh mein Gott.“ (weint)
911-Vermittlung: „Können Sie das wiederholen, Ma’am?“
Michelle Harris: „Da ist Blut, oh mein Gott, da ist überall Blut. Und da sind Fußspuren … HAYDEN?“
911-Vermittlung: „Ma’am? Ma’am? Wer ist tot?“
Michelle Harris: „HAYDEN, oh, lieber Jesus, du bist ja ganz voller Blut. Komm her. Wie bist du aus deinem Bettchen geklettert?“
911-Vermittlung: „Ma’am? Ma’am, wie ist die Adresse?“
Michelle Harris: „Ja, ich bin hier. Das ist 4589 Jocelyn Hollow Court. Meine Schwester …“
911-Vermittlung: „Hayden ist Ihre Schwester?“
Michelle Harris: „Hayden ist ihre Tochter. Oh Gott.“ Hintergrundgeräusche: „Mama aua.“
911-Vermittlung: „Wer ist tot, Ma’am?“
Michelle Harris: „Meine Schwester, Corinne Wolff. Oh Corinne. Sie ist, sie ist kalt.“ (Weinen, undeutliche Geräusche)
911-Vermittlung: „Die Polizei ist unterwegs, Ma’am.“
Taylor schaltete den Fernseher aus. Nach diesem Beitrag würde sie garantiert nicht einschlafen können. Sie stieg aus dem Bett und ging über den Flur in das Extrazimmer. Ein paar Runden Billard halfen immer, ihre Gedanken zu beruhigen.
Sie machte das Licht an, nahm die Schutzdecke vom Tisch und holte sich ein Miller Lite aus dem kleinen Kühlschrank, der unauffällig in einer Ecke stand. Mit einer lässigen Handbewegung beförderte sie den Kronkorken in den Mülleimer und stieß gleich danach einen Fluch aus. Sie hatte vergessen, die Ergebnisliste für die Basketballwette mitzunehmen. Darum musste sie sich gleich morgen früh kümmern.
Sie baute die Kugeln auf und fing ihr erstes Spiel an. Der Rhythmus der Bewegung sorgte dafür, dass sich in ihrem Körper eine stille Ruhe breitmachte. Vorbeugen, anvisieren, die Kugel treffen, versenkt. Immer und immer wieder, bis der Tisch leer war. Sie baute die Kugeln noch einmal auf. Das Bier war leer, also holte sie sich ein neues. Zwischendurch hielt sie immer wieder inne, trank einen Schluck, konzentrierte sich auf das vor ihr liegende Ziel, versuchte, ihren Kopf leer zu bekommen.
Taylor war es langsam leid, dass tiefer, ungestörter Schlaf für sie inzwischen ein Fremdwort geworden war, aber wenigstens wurde sie so auf dem Filz immer besser. Sollte sie mal Lust auf einen Karrierewechsel verspüren, könnte sie es vielleicht als Billardprofi probieren.
Es war inzwischen halb vier, und langsam merkte sie, wie der Schlaf an ihren Lidern zupfte und ihr Körper nach ein wenig REM-Zeit verlangte. Sie deckte den Billardtisch zu, warf die Bierflaschen in den Mülleimer, machte das Licht aus und ging zurück in ihr Schlafzimmer.
Mit einem Mal hatte sie das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie trat ans Fenster, schob den Vorhang ein wenig zur Seite und schaute auf die dunkle Straße hinaus. Die Eigentümervereinigung hatte in ihre Satzung ein Verbot von Straßenlaternen aufgenommen, was in Taylors Augen das Dümmste war, was sie je gehört hatte. Infolgedessen brannten die Außenlichter an einigen Häusern die ganze Nacht; ihr warmer, gelber Schein eine Warnung an alle, die vorhatten einzubrechen. Sie wusste, dass Licht die beste Abschreckung war. Doch nicht alle Hausbesitzer empfanden so.
Nur an drei Häusern weiter die Straße hoch brannten die Lampen, sodass um Taylors Haus herum tiefe, undurchdringliche Dunkelheit herrschte. Taylor ließ ihren Blick über die Bäume wandern, deren Äste wie knochige Finger in den Himmel ragten. In einem oder zwei Tagen würden sie in voller Blüte stehen. Der Frühling kam meistens über Nacht nach Nashville. Taylor fragte sich, ob sie, wenn sie weiter hier stünde und hinausschaute, den Wechsel von der Nacht zum Tag miterleben würde? Im Moment gab es nichts zu sehen; niemanden, der auf der Straße herumlungerte und zu ihrem Fenster hinaufstarrte.
„Dumme Gans“, schalt sie sich. Der Klang ihrer eigenen Stimme beruhigte sie.
Sie stieg ins Bett und schaute auf die grotesken Schatten, die das sich im Deckenventilator spiegelnde Nachtlicht an die Wände warf. Dachte an Corinne Wolff, erschlagen, allein, unfähig, ihren Angreifer abzuwehren. Sie drehte sich auf die Seite und nahm das Kissen in den Arm, als Ersatz für Baldwin, der ihr normalerweise in solchen Momenten Trost spendete. Die Einsamkeit war beinahe greifbar. Taylor streckte ihren rechten Arm aus und schob die Hand unter das Kissen. Ihre Finger schlossen sich um den Griff ihrer Dienstwaffe. Ein Zittern überlief sie, und dann wurde sie endlich vom Schlaf übermannt.
Endlich gingen die Lichter aus. Er fragte sich, wie sie schlief. Auf der Seite oder auf dem Rücken? Auf dem Bauch, verletzlich und nicht in der Lage, sich zu verteidigen, wenn sie überrascht würde? Oh, wenn dem nur so wäre. Aber nein. Er hatte sie gehen sehen, die langen Schritte, die niemals zögerten und auf Kompromisslosigkeit schließen ließen, und er wusste, dass sie auf der Seite schlief, ein Bein über den Mann geschlungen, der neben ihr lag. Selbstbewusstsein. Das hatte sie im Überfluss. Oh, was würde er dafür geben, sie Demut zu lehren. Glück.
Ein neugieriger Hund hatte ihn gerochen und fing an zu bellen. Er zog sich tiefer ins Unterholz zurück, weg von dem Haus, weg von der Zivilisation. Seine Zeit würde kommen. Er musste nur Geduld haben.