23. KAPITEL
„Taylor Jackson. Das ist aber lange her!“
„Hi, Jasmine.“ Taylor begrüßte ihre Freundin mit einem Lächeln und fand sich kurz darauf in einer nach Flieder duftenden Umarmung wieder. Dann wurde sie in dem dunklen Raum allein gelassen, um sich auszuziehen. Sie entledigte sich ihrer Kleidung und kuschelte sich dann unter das luxuriös weiche Laken; sie lag auf dem Bauch, das Gesicht bettete sie auf ein rundes Lammfellkissen mit einem Loch in der Mitte. Ihre Nase schaute heraus, was in ihr ein Gefühl der Verletzlichkeit weckte. Irgendetwas in der Luft – vielleicht die verschiedenen Blumendüfte, die sich mit dem Geruch nach Kakaobutter und etwas Antiseptischem mischten, das so typisch für das etwas düstere Spa war, gaben ihr das Gefühl, zu halluzinieren.
Jasmine Allôns war genauso dunkel und exotisch, wie ihr Name vermuten ließ. Die Frau strahlte eine Sinnlichkeit aus, als wenn sie sich ständig in einem Zustand karmischer Sexualität befände – eine lebende, atmende Kamasutra-Pose. Neben ihr fühlte Taylor sich altbacken und prüde, was sie ganz sicher nicht war. Zumindest waren sie beide gleich groß. Taylor fand es gut, Jasmine in die schlehenfarbenen Augen sehen zu können, wenn sie log.
Also wirklich, schalt Taylor sich. Jasmine hatte es nicht mehr nötig zu lügen.
Taylor war eine der wenigen, die wussten, dass Jasmine Allôns ihre Tage und Nächte früher damit zugebracht hatte, unter dem Namen Jazz an glänzenden Stangen zu tanzen. Sie war noch minderjährig gewesen, als sie angefangen hatte, für einen skrupellosen Klubbesitzer zu arbeiten, und war sofort zum Stadtgespräch geworden. Taylor hatte Jasmine wegen Prostitutionsanbahnung festgenommen, als diese fünfzehn Jahre alt gewesen war und ihr in den Tanzstunden erworbenes Wissen auf dem Rücksitz ihres Autos zu Geld machte. Eine Geschichte, die in Nashville häufiger passierte. Jasmines Version hatte nur einen anderen Ursprung.
Jasmines Eltern waren Immigranten, die ihren Laden in der Innenstadt durch einen rassistisch motivierten Brandanschlag verloren hatten. Ein ganzer Häuserblock mit Läden ging in Flammen auf – darunter auch ihre Wohnung, die sich direkt über ihrem Postershop befunden hatte. Zurück blieb eine obdachlose Familie, die ein dankbares Ziel für Hass und Spott bot. Jasmines iranische Mutter hatte ein Diplom in Molekularbiologie von der American University in Beirut, ihr irakischer Vater war ein ehemaliger Nuklearmediziner, der während des ersten Irakkriegs in den Neunzigern in den USA Asyl gesucht hatte. Hier durften sie dann einen Postershop eröffnen und Taxi fahren. Beide besuchten die notwendigen Kurse, um US-Amerikaner zu werden, als sie ihren Laden verloren. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte für das leicht zu beeindruckende Mädchen, das im Laufe seines kurzen Lebens so oft entwurzelt worden war.
Für den Geschmack ihrer Eltern war Jasmine schon immer zu radikal gewesen. Sie hasste es, dass es ihren Eltern nicht erlaubt war, ihre akademischen Laufbahnen in diesem neuen Land weiterzuverfolgen. Also stritt sie sich konstant mit ihnen. Sie gab ihren Nachnamen auf und nahm den Namen Allôns an; ihre neuen amerikanischen Freunde akzeptierten ihn, ohne nachzufragen. Sie glaubten Jasmine, als sie behauptete, Französin zu sein. Ausländer war Ausländer im Süden der Vereinigten Staaten, was vor allem für Menschen aus Europa galt. Kaum einer der Einwohner war so weit gereist, um sie voneinander unterscheiden zu können, wenn sie nicht einen extrem starken Akzent oder irgendwelche sonstigen Merkmale hatten, wie zum Beispiel das Kopftuch muslimischer Frauen.
Nachdem der Laden fort war und die Zukunft der Familie unsicher, hatte Jasmine endgültig nichts mehr gehalten. Sie beging die ultimative Sünde und verliebte sich in einen weißen Jungen. Sie überließ es ihren Eltern, sich mit den aktuellen Problemen herumzuschlagen, und lief mit ihrem brandneuen Freund weg.
Natürlich geschah genau das, wovor ihre Eltern sie gewarnt hatten: Der junge Mann brachte sie mit Dingen in Berührung, zu denen sie keinen Zugang haben sollte – hauptsächlich Sex und Drogen. Es war die uralte Geschichte, ein Klischee – Teenager und ihr Übermut. Sie wurde abhängig von Crack und fing an, ihrem Freund zu glauben, wenn er ihr erzählte, sie könne sich Geld für noch mehr Crack verdienen, indem sie ihren Körper auf der Straße anbot. Zu klug, um eine Nutte zu werden, besorgte sie sich ein „Vorstellungsgespräch“ in einem Stripklub, log, was ihr Alter und ihre Drogenprobleme anging, und wurde als Haupttänzerin im Déjà Vu an der Demonbreun Street angeheuert. Dort zeigte sie fünf Abende die Woche und in der Matinee am Wochenende, was Gott ihr gegeben hatte – und das alles nur wenige Häuserblocks vom zerstörten Leben ihrer Eltern entfernt.
Jasmines kurzer Ausflug auf die schiefe Bahn endete, als Taylor sie dabei erwischte, wie sie auf dem Parkplatz hinter dem Déjà Vu gleichzeitig an einer Crackpfeife und einem Streifenbeamten saugte, der gerade Mittagspause machte und es eigentlich besser hätte wissen müssen.
In Jasmines Augen lag irgendetwas, das Taylor verfolgte. Was dazu führte, dass sie ein gutes Wort für sie einlegte, als es um einen Urteilsspruch ging. Sie schaffte es, sie auf Bewährung freizubekommen, indem sie versprach, ein Auge auf das Mädchen zu haben. Sie half Jasmine, in die Schule zurückzukehren, besorgte ihr einen Job als Tellerwäscherin in einem Restaurant und sah zu, wie das Mädchen seine Drogensucht besiegte. Und sie klatschte am lautesten, als Jasmine mit einem Abschluss in Bewegungswissenschaft das College verließ. Jasmine war eine echte Erfolgsgeschichte. Davon hatte sie nicht allzu viele vorzuweisen.
Als Jazz sich noch auf Plateauschuhen um Stangen gewunden hat, hatte sie dreitausend Dollar die Nacht verdient. Jetzt kostete eine Stunde Massage bei ihr einhundertfünfzig Dollar. Taylor allerdings behandelte sie umsonst.
Jasmine hatte ihre Vergangenheit nicht vergessen, und so half sie jungen Mädchen, die in einer ähnlichen Situation steckten wie sie damals, einen neuen Weg zu finden. Ihre Eltern, die inzwischen eingebürgert waren, hatten ein neues Zuhause und auch eine neue Berufung gefunden – sie führten eine Resozialisierungseinrichtung für die Mädchen, von denen Jasmine dachte, dass sie empfänglich wären für ein neues Leben.
Taylor wandte sich nicht oft an Jasmine, um Informationen von ihr zu bekommen. Sie respektierte die Veränderungen, die das junge Mädchen in seinem Leben vorgenommen hatte. Und sie bewunderte Jasmine dafür, dass sie sich niemals als Opfer betrachtete. Taylor verachtete Menschen, die keine Verantwortung für ihre Taten übernahmen. Jasmine aber tat es, und sie entschuldigte sich auch nicht für die Fehler, die sie gemacht hatte.
Die Erinnerungen lullten Taylor ein. Sie war kurz davor, einzuschlafen, da hörte sie Jasmine ins Zimmer kommen. Jasmine fuhr mit ihrer Hand über Taylors nackten Rücken, woraufhin Taylor leicht zusammenzuckte; sie musste sich erst daran gewöhnen, von einer Frau berührt zu werden. Dabei hatte die Berührung nichts Sexuelles; nur eine Masseurin, die versuchte, sich auf ihre Klientin einzustimmen. Dennoch brauchte Taylor immer einen Moment, bevor sie sich entspannen konnte. Jasmine wusste das und ließ ihr die Zeit. Erst wenn Taylors Schultern und Pomuskeln sich sichtbar entspannten, fing Jasmine an, sich ihren Nackenmuskeln zu widmen und ihre Daumen tief in die Verspannungen rund um Taylors Hals und Schultern zu drücken. Taylor seufzte. Wie gut das tat.
Nach ungefähr fünfzehn Minuten fragte Jasmin: „Nun?“
Taylor versuchte gar nicht erst, so zu tun, als wenn sie nur für eine Massage hergekommen wäre. Sie wollte Jasmines Intelligenz nicht beleidigen. „Ich brauche Informationen.“
„Welcher Art?“
„Deiner Art. Ich suche nach ein paar Mädchen. Sie sind auf einem Video zu sehen, das an einem Tatort gefunden wurde. Hausgemacht, aber gute Qualität.“
„Sex oder nur Striptease?“
„Sex. Bisexueller Gruppensex und hetero. Sie sehen nicht gerade aus, als täten sie es gegen ihren Willen. Aber sie sind jung. Nicht älter als achtzehn, vielleicht sogar jünger.“
„Willst du sie hochnehmen?“ Ah, Jasmine, die Beschützerin.
„Nein. Ich will nur mit ihnen reden. Ich brauche ein paar Antworten, will herausfinden, ob sie den Kopf der Operation kennen. Ich habe einen Verdächtigen, der wegen Mordes angeklagt ist, und ich bin mir nicht sicher, ob er es war.“
Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann sagte Jasmine: „Dreh dich um.“ Sie hob eine Decke des Lakens an, und Taylor drehte sich stöhnend auf den Rücken. Nachdem sie es sich wieder bequem gemacht hatte, ging Jasmine schweigend daran, ihren rechten Hüftbeuger zu massieren, bis die Muskeln nachgaben.
Taylor wartete. Jasmine wusste etwas. Ihr Körper strahlte das so sichtbar aus, als wären es Rauchzeichen.
Sie sprachen erst wieder, als Jasmine sich an den Kopf der Liege setzte und ihre Hände unter Taylors Schulterblätter schob, wo sie dann anfing, ihre Finger in die Muskeln entlang Taylors Nacken zu graben.
„Es geht um Todd Wolff, oder?“
Taylor wäre beinahe von der Liege gesprungen. Jasmine lachte. „Entspann dich. Ich glaube, ich kann dir helfen. Falls es dir weiterhilft, soweit ich gehört habe, ist er harmlos.“
„Ich glaube kaum, dass ein Ehemann, der sich selbst beim Sex mit anderen Frauen filmt, harmlos ist.“
„Und der Tod seiner Frau mag diesem Eindruck auch widersprechen, aber er ist es. Er zahlt wohl ganz gut und hat keine ausgefallenen Wünsche. Alle Models sind mindestens sechzehn. Es ist zwar nicht das, was die Kirche empfiehlt, aber es ist auch nichts Schlimmes.“
„Nur für den Hausgebrauch?“
„Das weiß ich nicht. Aber ich kann dich mit einem der Mädchen zusammenbringen, die mal für ihn gemodelt hat.“
„So nennen die Mädchen das heute?“
„Oh Taylor, wo bist du nur all die Zeit gewesen.“ Jasmine kam zum Ende und tätschelte Taylors Schulter, um ihr zu zeigen, dass sie fertig war. Taylor setzte sich auf, wickelte sich das Laken um den Oberkörper und drehte ihren Kopf, bis es hörbar knackte.
„Was meinst du mit ‚wo bin ich nur gewesen‘?“
Jasmine stellte das Licht ein wenig heller. Die Dunkelheit in dem Raum verschwand und machte einem sanften, entspannenden Leuchten Platz. Die Glühbirne war mit Freesienöl besprüht worden, und durch die Wärme verbreitete sich der Duft im ganzen Zimmer. Jasmine zog ihren Hocker vom Kopfende der Liege zu sich und setzte sich Taylor gegenüber. In ihren tiefen, dunklen Augen tanzte ein trauriges Ballett.
„Sex ist in, Taylor. Diese Mädchen machen die Filme, weil sie es wollen, nicht weil sie dazu gezwungen werden. So etwas gilt heutzutage als Statussymbol.“
„Statussymbol?“
„Ja. Als du aufgewachsen bist, waren Mädchen, die mit ihren Freunden geschlafen haben, alle Schlampen.“
„Na ja. Die Schlampen waren die, denen es nichts ausgemacht hat, dass die Leute davon wussten. Der Rest von uns hat einfach den Mund gehalten.“
Jasmine lächelte. „Heute machen sich die Kids auf der Highschool über dich lustig, wenn du nicht mindestens drei oder vier verschiedene Partner hattest. Hast du jemals den Begriff ‚Freunde mit gewissen Vorzügen‘ gehört? Jugendliche, die Sex haben, ohne dass sie fest miteinander gehen? Das hier ist der nächste Schritt. Ich habe von einem Klub gehört, einer geheimen Verbindung, die an den Privatschulen die Runde macht. Selbst gedrehte Videos. Es werden Punkte für jede Variante verteilt – Männer, Frauen, oral, anal. Das Ziel ist es, das Video zu verkaufen, es ins Internet zu stellen. Eines hat sogar seinen Weg zu einem kommerziellen Vertrieb gefunden, ist aber vom Markt genommen worden, nachdem man herausgefunden hat, dass die Mitwirkenden alle minderjährig gewesen waren. Die Nachfrage nach Amateurpornos ist groß genug, dass es sich für die Pornoindustrie lohnt, solche dummen Aktionen zu unterstützen. Traurig, aber wahr.“
„Und diese dummen Kinder sehen Paris Hiltons Sexvideo und denken, sie werden berühmt, wenn sie als Schlampe auf YouTube bekannt werden? Die haben doch keine Ahnung, wie beherrschend diese Branche ist. Wie gefährlich ihr Leben werden kann. Ich wette, die meisten von ihnen wissen nicht mal, dass ihre Eltern die Videos im Internet kaufen können.“
Taylor gingen Bilder von den Videos auf Selectnet.com durch den Kopf. Sie schüttelte den Kopf. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass irgendeine Minderjährige das freiwillig mitmachte. „Ich hatte keine Ahnung. Warum hast du mir das nie erzählt?“
„Nimm’s nicht persönlich, aber es ist einfach nicht mein Problem. Ich muss mich auf die Mädchen konzentrieren, die wirklich Hilfe brauchen, und kann mich nicht um verzogene Gören kümmern, die Freitagnacht mit Daddys BMW zu Todd Wolff fahren, um Mitglied im Klub zu werden.“
„Mein Gott.“ Taylor war übel. Kinder waren manchmal so unglaublich dumm.
„Nun ja, ich denke nicht, dass er dir hierbei eine große Hilfe ist. Ich suche eben die Nummer des Mädchens raus, von dem ich glaube, dass es mit dir reden wird. Sie ist aus der Clique verbannt worden und schwer damit beschäftigt, ihr Leben umzukrempeln. Vielleicht erzählt sie dir ein paar Hintergrundgeschichten. Versprechen kann ich dir allerdings nichts.“
„Danke, Jasmine. Ich weiß das sehr zu schätzen.“
Jasmine verließ das Zimmer, und Taylor zog sich schnell an. Als sie gerade in ihre Stiefel schlüpfte, kehrte Jasmine zurück und reichte ihr einen Zettel mit einer Telefonnummer und einem Namen darauf.
„Zu behandeln wie die Frucht vom verbotenen Baum?“
Jasmine lachte. „Du kannst ruhig meinen Namen erwähnen. Sie ist ein gutes Kind. Hat wieder auf den rechten Weg zurückgefunden und versucht jetzt, anderen Mädchen zu helfen.“
„Wie alt ist sie?“
„Siebzehn.“
„Mein Gott, ich hatte ja keine Ahnung“, sagte Taylor erneut. Es brauchte schon einiges, um sie zu schockieren – so wie zum Beispiel diese Geschichte.
„Tja, nun weißt du es. Ich habe einen weiteren Patienten. Kommst du klar?“
„Ja. Danke noch mal, Jasmine.“
„Gern geschehen.“
Taylor umarmte sie kurz, dann trat sie in den Flur hinaus und schaute auf die Uhr. Der Tag zerrann ihr unter den Fingern. Sie musste noch zur Hütte fahren, um zu sehen, ob Kameras in den Lüftungsschlitzen steckten und Nacktaufnahmen von ihren Mieterinnen aufzeichneten. Außerdem hatte sie Hunger; die paar Bissen Pizza hatten nicht gereicht. Und sie vermisste Baldwin. Ihr ganzer Körper klebte von Massageöl, und ihre Haare standen in alle Richtungen ab. Meine Güte, sie war wirklich ein Wrack.
Auf dem Parkplatz stieg sie in ihren Wagen und steckte den Schlüssel ins Schloss. Sie könnte eine Baseballkappe aufsetzen und sich bei Jonathan’s eine Kleinigkeit zum Mitnehmen holen, in der Hütte anrufen und fragen, ob es den Mädchen was ausmachte, wenn sie kurz vorbeikäme. Sie hatten eigentlich keine Wahl – sie war ihre Vermieterin und hatte einen Schlüssel und konnte das Haus laut Vertrag jederzeit ohne Vorankündigung betreten; aber sie versuchte, die Privatsphäre der beiden so weit wie möglich zu respektieren.
Sie klappte ihr Telefon auf und rief Sam an, die einverstanden war, sich auf einen kleinen Snack mit ihr zu treffen. Dann startete sie den Motor und fuhr in dem Wissen Richtung Westen, dass sie nah daran war.