20. KAPITEL
Trotz der vorgezogenen Gardinen heizte die Mittagssonne den Konferenzraum langsam ganz gut auf. Baldwin saß an dem rechteckigen Tisch, Garrett Woods an seiner Seite. Auf dem großen Plasmabildschirm, der an der Wand hing, war Atlantics rundes Mondgesicht in Übergröße zu sehen. Sie waren über eine sichere Datenleitung mit ihm in Berlin verbunden, sein derzeitiger Heimathafen für diese Aktion.
Baldwin konnte kaum geradeaus gucken. Er brauchte dringend ein paar Stunden Schlaf. Und zwar bald. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und gähnte, dann rieb er sich die Augen, bevor er fortfuhr.
„Tut mir leid. Ich bin nur ein wenig müde. Ich habe bis heute Morgen gebraucht, um die ganze Geschichte zusammenzusetzen.“
„Kein Problem, Baldwin“, versicherte ihm Atlantic.
„Okay, lass mich weitermachen. Der erste Name, der mir aufgefallen ist, war Ali Fatima. Er ist vor drei Wochen von Lissabon nach Paris gereist. Dort ist er eine Woche geblieben, wir haben die Hotelunterlagen für ihn unter dem Namen André Guigernon. Unter diesem Namen ist er auch von Paris nach Montreal geflogen, wo er ebenfalls eine Woche blieb. Wir müssen noch intensivere Recherchen anstellen, um herauszufinden, was er dort gemacht hat, aber das können wir später tun. Du willst jetzt vielleicht lieber die französischen und kanadischen Behörden informieren und gucken, ob sie irgendwelche ungelösten Mordfälle aus den zwei Wochen haben, für die unser Junge verantwortlich sein könnte.“
„Darum kümmere ich mich“, sagte Garrett.
„Okay. In Montreal wurde er zu Alexandre Cadoc. Er ist nach Seattle geflogen. Wir hatten Glück. SeaTac hat einen Schalter, der es internationalen Passagieren erlaubt, schneller durch den Zoll zu kommen. Die Kameras in dieser Reihe haben eine schöne Aufnahme von ihm gemacht. Er ist zur Gepäckausgabe gegangen, hat das Gebäude verlassen und ist zwei Stunden später zurückgekehrt, um als Arthur Bleheris einzuchecken und nach Denver zu fliegen. Wir wissen, dass er da ein Auto gemietet hat, und das war’s. Der Fahndungsaufruf nach dem Mietwagen ist schon raus, aber es gibt keine Spur mehr von ihm, nachdem er Denver verlassen hat. Die Mietwagenfirma hat standardmäßig Navigationsgeräte in ihren Autos, aber er hat ausdrücklich eines ohne verlangt, sodass wir ihn nicht über GPS orten können. Der Mitarbeiter erinnert sich, dass unser Freund gesagt hat, er verfahre sich gerne, weil das der einzige Weg sei, wirklich etwas vom Land zu sehen.
Tja, das ist es auch schon. Mehr habe ich nicht. Ich weiß weder, wo er ist, noch, was er vorhat. Es gibt immer noch keinen Hinweis darauf, wer einen Anschlag in den Staaten beauftragt hat.“ Er sackte in seinem Stuhl zusammen und schaute Atlantic in die kalten Augen. „Wo war sein Verfolger? Wie hat Aiden das alles so schnell organisiert, ohne dass wir etwas davon mitbekommen haben?“
„Der Verfolger ist tot.“
Baldwin schaute ihn aus zusammengekniffenen Augen an. „Wann?“
„Vor vier Wochen in Florenz.“
Florenz? Vor vier Wochen war Baldwin mit Taylor in Florenz gewesen. Er hatte ihr einen neuen Ring gekauft, sie hatten wie Teenager gekichert. Und dann traf es ihn wie ein Schlag. Aiden. Taylor. Beide in der gleichen Stadt, mit Baldwin als gemeinsamen Nenner. Er sprang von seinem Stuhl auf.
„Du hast es gewusst. Verdammt, du hast es gewusst. Wieso hast du mich nicht gewarnt?“
„Wir kennen seine Absichten nicht“ war alles, was Atlantic sagte.
„Wir kennen sie nicht“, erwiderte Baldwin. „Stimmt. Er könnte für einen Auftrag unterwegs sein, von dem niemand irgendetwas gehört hat? Komm schon. Vor ein paar Wochen ist er zufällig in der gleichen Stadt, in der meine Verlobte und ich Urlaub machen. Sein Verfolger wird tot aufgefunden, und er kommt in die Staaten. Was zum Teufel denkst du denn, was er für Absichten hat? Er ist hinter mir her. Nach dem Debakel mit seiner Familie hat er geschworen, mich zu erledigen. Und hier bin ich, in Quantico, isoliert wie nie, dabei sollte ich in Nashville sein, um sicherzustellen, dass er mein Leben nicht so zerstört, wie ich seines zerstört habe.“
Atlantic senkte nur leicht das Kinn und sagte: „Du musst ihn für uns finden, Baldwin.“
Baldwin war zu müde, um sich zu streiten. Außerdem war es sinnlos, sich mit Atlantic auf eine Diskussion einzulassen, das hatte er schon vor langer Zeit gelernt. Er wandte sich an Garrett. „Ich fasse es nicht, dass du mir nichts davon erzählt hast. Du weißt, dass ich jedes winzige Informationszipfelchen brauche, um diesen Idioten zu finden. Du hast mir das wichtigste Puzzleteil vorenthalten. Mein Gott, Garrett. Ich dachte, ich könnte dir vertrauen.“
Atlantic räusperte sich. „Er hat nach meinen Anweisungen gehandelt. Wir wollten nicht, dass dieser Vorfall dein Urteilsvermögen trübt. Wenn du gedacht hättest, dass er hinter dir her ist, wärst du für uns nicht mehr nützlich gewesen.“
„Natürlich. Weil das ja alles ist, was zählt, nicht wahr? Dass ich euch gebe, was ihr braucht. Fickt euch.“
Baldwin stürmte aus dem Raum und kehrte in sein provisorisches Büro zurück. Verdammt sollten sie sein, alle miteinander. Menschen würden getötet werden, und wofür? Um ihre halb illegalen Aktivitäten weiter unter Verschluss zu halten? Das schienen sie ihm kaum wert zu sein. Für den Moment schob er das Thema beiseite. Irgendwo da draußen lenkte Aiden seinen Wagen zu einem bestimmten Ziel, und Baldwin konnte nur beten, dass er ihn rechtzeitig aufspüren würde.