29. KAPITEL
Taylor ging immer weiter. Sie ignorierte Price, der ihren Namen rief, ignorierte die spöttischen Kommentare von Norris, ging einfach schnurstracks immer weiter über den langen Flur an den Büros vorbei und aus dem Gebäude heraus. Die Sonne hatte ihren Abstieg schon begonnen, die Dunkelheit eines frühen Frühlingsabends lag bereits als Ahnung in der Luft.
Suspendiert. Und sie hatte sich Sorgen um Lincoln gemacht. Es war okay. Es machte ihr nichts aus. Sie wusste nur, dass sie sich so weit wie möglich von dem fiesen Lächeln der Oompa, von Prices Entrüstung, von ihren eigenen Erinnerungen entfernten musste. Sobald sie die Treppe hinuntergegangen war, legte sie an Tempo zu. Die Absätze ihrer Cowboystiefel dröhnten auf dem Bürgersteig, als ihre Schritte immer schneller und schneller wurden. Bald hatte sie ihre Höchstgeschwindigkeit erreicht. Mit gestreckten Beinen und langen Schritten überquerte sie den Parkplatz. Sie ging zu dem erstbesten Auto, einem cremefarbenen Caprice. Die Tür war unverschlossen, der Schlüssel steckte unter der Sonnenblende. Ohne langsamer zu werden, warf sie sich auf den Fahrersitz, rammte den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn herum und fuhr davon.
„Verdammt, verdammt, verdammt.“ Sie wiederholte das Wort wieder und wieder, ein Mantra, das ihr ein wenig half, ruhiger zu werden. Ihre Wut kochte über, als sie von dem Parkplatz fuhr. Sie schaute nicht zurück, sondern konzentrierte sich einzig auf die vor ihr liegende Straße. Sie hatte keine Ahnung, wo sie hinfuhr, sah nichts außerhalb der Windschutzscheibe. Sie fuhr einfach. Nach Norden, nach Süden. Es war egal. Ihr Handy klingelte. Sie griff in ihre Tasche und stellte es ohne hinzusehen aus.
Sie ließ Downtown hinter sich. Lärm und Dreck und Erinnerungen verblassten. Sie fuhr und fuhr, völlig abwesend.
Sie verließ gerade den Highway, als der Vollmond ihre Aufmerksamkeit erregte. Seit Stunden drehte sie Kreise um Nashville, hatte auf den kleinen Nebenstraßen ihr Heil gesucht. Sie befand sich auf einer gewundenen, zweispurigen Straße Richtung Westen. Sie kannte die Gegend gut genug, um zu wissen, dass sie sich weit südlich der Franklin befand, irgendwo unterhalb Leiper’s Fork. Den Weg von hier nach Hause kannte sie, sie konnte einfach geradeaus fahren, bis sie auf den Natchez Trace stieß. Dort müsste sie in Richtung Norden abbiegen, um zu ihrem Haus zu gelangen. Sehr passend. Sie hatte im Leben nie den einfachen Weg gewählt, war aber immer irgendwo gelandet, von wo aus sie nach Hause finden konnte.
Der nächtliche Himmel wurde dunkler. Das Mondlicht fiel auf die Bäume und ließ sie aussehen wie am Straßenrand stehende Männer. In dieser Gegend gab es Geister, das wusste sie. So viele geschlagene Schlachten, so viele verlorene Leben. Die Bäume waren stumme Soldaten, ein Spalier von Wachen, die ihr jetzt Durchfahrt gewährten.
Sie kam an einen Bahnübergang und fuhr langsamer, um zu sehen, ob ein Zug kam. Die Eisenbahnschienen lagen verlassen da. Als Taylor sie überquerte, schaute sie nach links und rechts. Irgendwas lag auf den Schienen. Sie wurde noch langsamer und schaute genauer hin. Sie erkannte es erst, als sie schon über die Schienen hinweg war.
Ein Hund. Ein Beagle, soweit sie das beurteilen konnte, der allein an den im Mondlicht liegenden Schienen entlanglief. Der Anblick ließ etwas in ihr zerbrechen. Sie stellte das Auto am Straßenrand ab, weit genug entfernt von vorbeikommenden Autos und Zügen. Dann stieg sie aus, joggte den kleinen Hügel zum Bahnübergang hinauf und fing an, dem Hund hinterherzulaufen.
„Hey, Hundi, bleib stehen, mein Süßer. Du wirst noch verletzt werden.“ Der Hund blieb stehen, sobald er ihre Stimme hörte. Er drehte sich um und schaute sie mit schief gelegtem Kopf und dickem Hundegrinsen an, als wolle er sagen: Hey Lady, was tun Sie hier auf den Schienen? Sie könnten verletzt werden.“
Sie schnippte mit den Fingern und stieß einen leisen Pfiff aus. Der Hund wedelte mit dem Schwanz und grinste weiter. Er kam nicht zu ihr. Er stand einfach nur da und sah zu, wie sie näher und näher kam. Er trug kein Halsband. Er war nicht fürchterlich dünn, aber auch nicht dick und hatte ein glänzendes Fell, als wenn er erst vor Kurzem irgendwo weggelaufen wäre. Er sah aus wie ein Reisender, wie einer, der die kürzesten Wege kennt, die bequemsten Abkürzungen. Ein Vagabund auf dem Weg, die Welt zu erkunden. Wie um ihren Eindruck zu bestätigen, berührte er, als sie nahe genug war, um ihm die Hand hinzustrecken, ihre Finger kurz mit seiner Nase, schnüffelte einmal und drehte sich dann um und trottete davon. Die Schienen führten linksherum in einem Bogen um eine Kurve. Taylor sah seinem wedelnden Schwanz hinterher, bis er hinter der Kurve verschwand. Er wollte keine Hilfe. Er gehörte in seine kleine Hundewelt, wusste, wo er sein musste und was er tun sollte. Ganz im Gegenteil zu ihr.
Erst als der Hund verschwunden war, fiel ihr auf, dass sie weinte.
Baldwin hatte sich selbst in eine Art Delirium gearbeitet. Taylor ging seit Stunden nicht an ihr Handy. Aiden lief immer noch irgendwo in der Nähe frei herum, und die Fernsehsender streuten auf jedem Kanal Gerüchte und Anspielungen über Baldwins Geliebte. Würde ihm in diesem Moment jemand komisch kommen, hätte er keine Probleme, ihn mit bloßen Händen zu erwürgen, dessen war er sicher.
Es war beinahe Mitternacht, als sein Handy endlich klingelte. Gott sei Dank, es war Taylor. Er nahm den Anruf entgegen.
„Meine Güte, Taylor, wo warst du? Du hast mich zu Tode erschreckt.“
Ihre Stimme war belegt, als wenn sie geweint hätte. Es brach ihm das Herz. Zu weinen, das war für diese Frau so untypisch, und Schwäche zu zeigen überhaupt nicht ihr Stil.
Sie sprach sehr leise. „Schrei mich nicht an, okay? Mir geht es gut. Ich bin auf dem Weg nach Hause. Ich brauche etwas Schlaf. Ich muss herausfinden, was hier gespielt wird. Ich bin müde. Bist du da?“
„Ja, das bin ich.“ Er sprach jetzt ebenfalls leiser. „Hast du schon etwas gegessen?“
„Ich habe keinen Hunger“, kam die tonlose Antwort. „Ich könnte allerdings eine Zigarette gebrauchen.“
Er lachte kurz auf. „Okay, das kriege ich vielleicht hin. Du hast bestimmt noch irgendwo eine Packung versteckt. Fahr einfach vorsichtig, ja? Ich sehe dich dann hier.“
„Bye“, sagte sie und war weg. Baldwin sackte erleichtert zusammen. Bis zu diesem Moment, in dem er wusste, dass es ihr gut ging, hatte er gar nicht gemerkt, welche Sorgen er sich wirklich um sie gemacht hatte.
Verdammt. Wie hatte alles so schnell so schlimm werden können? Es war noch keine vierundzwanzig Stunden her, dass sie ihn angerufen und von den Sexfilmchen erzählt hatte. Jetzt waren sie überall in den Nachrichten, zusammen mit dem Video, das zeigte, wie Taylor David Martin erschießt. Er war sicher, dass man das Video sehr leicht als Fälschung enttarnen konnte. Er hatte bereits seine Leute drangesetzt. So wie es aussah, war eine Tonspur hinzugefügt worden, die den Eindruck erweckte, Martin würde um sein Leben betteln. Leicht zu beweisen. Der Schaden, der dadurch entstanden war, dass Taylor ihre Marke hatte abgeben müssen, war da schon schwerer wieder rückgängig zu machen.
Vor dem Fenster leuchteten Scheinwerfer auf. Taylor war da. Er schaltete den Fernseher aus, ging zur Garage und öffnete die Tür. Er lächelte, als sie den in warmes Licht getauchten Raum betrat. Ihr Haar war zerzaust, ihre Nase leicht gerötet. Ihre grauen Augen wirkten stürmisch, ein wütendes Gewitter tobte in ihren Tiefen.
„Wer ist jetzt das Stachelschwein?“, zog er sie auf. Dann nahm er sie in seine Arme. Sie ging nicht auf den Scherz ein, sondern seufzte nur tief. Ihr Rücken war kerzengerade, ihre Muskeln angespannt. Er konnte mit ihr fühlen und fragte sich, ob er mit ihr reden oder sie einfach ins Bett bringen sollte. In dem Moment knurrte ihr Magen laut und vernehmlich.
„Lass mich dir schnell was zu essen machen“, bot er an.
„Nein, wirklich nicht. Mir geht es gut.“ Ihr Herz war nicht involviert, sie klang vollkommen abwesend. Er ließ sie los. Ihre Proteste ignorierend ging er vor und öffnete eine Dosensuppe und schaltete den Ofen ein, um ein Brot aufzubacken. Sie stand hölzern an der Spüle und starrte in den hinteren Garten hinaus.
Die Suppe war schnell heiß. Er stellte ihr einen Teller auf den Tisch, legte ein halbes Baguette dazu und drängte sie dann, sich zu setzen. Eine Erinnerung an seine Mutter schoss ihm durch den Kopf, wie sie ihm in einen Stuhl geholfen hatte, nachdem ihm als Teenager der Blinddarm entfernt worden war. Ihre Verhätschelung hatte ihn genervt, und in Erinnerung daran trat er jetzt einen Schritt beiseite und ließ Taylor mehr Raum.
Ein paar Minuten vergingen. Er ließ die Stille sich ausbreiten, nahm sich selbst einen Teller Suppe und setzte sich Taylor gegenüber an den Tisch.
Endlich sprach sie. „Ich versuche, mir eine Zukunft aufzubauen, aber die Vergangenheit lässt mich nicht. Martin, L’Uomo, meine idiotischen Eltern. Jedes Mal, wenn ich einen Schritt nach vorne mache, passiert irgendwas, das mich zurückwirft. Ich versteh das einfach nicht.“
Ihr Ton verriet eine stille Resignation. Sie jetzt auf all ihre Erfolge hinzuweisen würde nichts bringen, das wusste Baldwin. Er entschied sich für einen anderen Ansatz.
„Willst du wissen, was los ist, oder lieber nicht?“
Sie schaute ihn an; ein Funken Neugier blitzte in ihren Augen auf. Das ist mein Mädchen, dachte er.
Sie seufzte tief, stippte dann ihr Brot in die Suppe und fing an zu essen. „Oh, ist das heiß.“ Sie ließ das Brot auf den Teller fallen und legte den Löffel beiseite. „Du kannst es mir genauso gut erzählen. Es wird sich ja leider nicht in Luft auflösen, nur weil ich es ignoriere.“
„Nein, das wird es nicht. Aber ich glaube, ich kann dir helfen.“
„Ich weiß nicht, Schatz. Vielleicht habe ich es dieses Mal endgültig vermasselt.“ Die für sie so untypische Zerbrechlichkeit war wieder da, und Baldwin sehnte sich danach, sie zu trösten.
„Ich glaube nicht. Eine Freundin von mir sitzt gerade an dem Video der David-Martin-Schießerei. Sie hat bereits ein paar Hinweise dafür gefunden, dass der Film synchronisiert worden ist. Diese Anschuldigung sollten wir also spätestens morgen früh aus der Welt schaffen können. Was das andere angeht, so habe ich mich ein wenig mit Lincoln unterhalten, nachdem du weg warst. Er möchte übrigens, dass du ihn anrufst.“ Er zeigte auf sein Handy, doch sie schüttelte den Kopf.
„Später“, sagte sie.
„Okay. Er hat mir die ganzen Daten gegeben, die ein anderer Freund von mir wiederum in seine Datenbank eingepflegt hat. Weißt du, der, von dem ich dir erzählt habe, der an einem ähnlichen Fall arbeitet. Er hat bereits die Besitzer der Website ausfindig gemacht und dafür gesorgt, dass die Seite aus dem Netz genommen wird. Es werden keine neuen Videos mehr auftauchen.“
„Oh Mist. Die Mädchen!“
„Was?“
„Ich wollte gestern eigentlich zur Hütte rübergehen und nachgucken, ob es da immer noch versteckte Kameras gibt. Dann bin ich eingeschlafen und habe es heute Morgen in all dem Trubel vergessen.“ Auch der bittere Unterton in ihrer Stimme war ihm nicht vertraut.
„Sie haben angerufen. Sie haben alles durchsucht und ein paar Minikameras gefunden. Genau da, wo du sie vermutet hattest, in den Luftschächten. Dein Kriminaltechniker Tim Davis hat sie bereits eingesammelt und zur Analyse mitgenommen. Ich lasse sie dann zu Sherry Alexander weiterschicken, der Freundin, die an den Videos arbeitet. Wenn irgendjemand sie zu ihren Besitzern zurückverfolgen kann, dann sie.“
Taylor nickte. Ihr Haar fiel ihr übers Gesicht. Ungeduldig fing sie an, sich einen Pferdeschwanz zu binden, hielt aber dabei inne. Ihre Arme sackten herunter, als die Erschöpfung sie übermannte.
„Willst du immer noch eine Zigarette?“, fragte Baldwin.
Taylor schüttelte den Kopf. „Honey, ich muss ins Bett. Bringst du mich?“
„Natürlich.“ Er stand auf und zog sie auf die Füße. Er wollte zärtlich sein, sie sanft an sich ziehen, ihre Lippen mit seinen streicheln, aber die Nähe ihres Körpers in Verbindung mit ihrer ungewohnten Verletzlichkeit war einfach zu viel für ihn. Er küsste sie grob und heftig. Sie erwiderte den Kuss, schlang ihre Arme um ihn, und einen Augenblick fragte er sich, ob sie es überhaupt bis ins Schlafzimmer schaffen würden. Sie vertieften den Kuss. Er spürte, wie er steif wurde. Sie griff seine Hand und führte ihn aus der Küche. Im Hinausgehen schaltete er das Licht aus.