Angelina fiel, sie fiel durch Schluchten, aus denen das Feuer loderte. Behaarte Teufel tauchten die nackten, bleichen Seelen in kochende Sümpfe. Angelina fiel immer tiefer, raste vorbei an schwarzen Spießen, auf welche die Köpfe von Menschen gespießt waren, die lautlos um Hilfe riefen. Immer höllischer wurde das Inferno, immer lauter das Getöse, immer dichter der Schwefeldampf, der ihre Sinne betäubte. Sie fiel in den tiefsten Schlund der Hölle. Und jetzt wusste sie es. Domenian war selbst der Teufel, den zu bekämpfen er vorgab. Beim ›Fegefeuer der Eitelkeiten‹ saß der Teufel auf der Spitze der Pyramide und wurde verbrannt, mit all dem, was vorher an ›Eitelkeiten‹ zusammengetragen wurde. In diesem Moment kam ihr die Erkenntnis: Mit Gewalt kann man den Teufel, kann man die Sünde nicht aus der Welt schaffen, weil man damit neue Sünde auf sich lädt. Es wurde heller um sie, sie flog auf der anderen Seite aus der Hölle heraus und landete sanft auf der Lichtung im Wald. Domenian kniete vor ihr, hielt sie mit den Armen umfasst und schaute sie mit Augen an, die verdreht waren und fast aus den Höhlen quollen.
»Ich habe dich gesehen!«, rief er mit krächzender Stimme. »Du hast mit dem Teufel gebuhlt, ich war dabei!«
»Ich habe gesehen, dass du selbst dieser Teufel bist, Domenian«, antwortete Angelina mit mehr Ruhe, als sie es sich zugetraut hätte.
»Vade retro, Satanas!«, murmelte er und schlug das Kreuzzeichen. In sein Gesicht war ein Ausdruck des Abscheus getreten. »Die Zeit ist gekommen«, sagte er. »Ich werde jetzt zunächst den Leichnam Vendutis verbrennen und dich dann an diesem Baum«, er deutete in die Richtung einer alten Linde, »erhängen und dich gleichfalls ins Feuer stoßen.«
Angelina begann zu zittern. Sie glaubte immer noch zu träumen, |432|doch es war grausame Wirklichkeit. An dem Baum war eine Schlinge befestigt. Wie war es wohl, wenn man erhängt wurde? War denn niemand in der Nähe, um ihr zu helfen? Als hätte er ihre Gedanken gehört, bemerkte Domenian:
»Es wird niemand kommen, um dich zu retten, Angelina. Wir sind ganz allein auf der Welt.«
Angelina nahm ihren letzten Mut zusammen.
»Warum willst du mich töten, Domenian?«, fragte sie. »Nur, weil ich mit deinem Bruder getanzt habe?«
Domenian zögerte. Sein Gesicht zuckte vor Angst und Wut.
»Ihr seid dasselbe Pack gewesen wie meine Mutter«, stieß er schließlich hervor. »Ich habe sie immer verehrt und geliebt. Eines Tages, mein Vater arbeitete auf dem Feld und mein Bruder, der feine Herr, besuchte die Klosterschule in Florenz, schickte meine Mutter mich zum Zwetschgenpflücken. Hernach hieß sie mich, sie zu entsteinen, damit sie später Mus daraus kochen konnte. Dabei brach mir das Messer ab. Ich ging in die Küche, um ein anderes zu holen. Da hörte ich es. Aus dem Schlafraum kam ein Stöhnen. Ich schaute vorsichtig um die Ecke und sah sie in der Umarmung mit einem fremden Mann. Wie ein einziges Tier wälzten sie sich auf dem Strohsack. Ich hob das Messer und trat einen Schritt vor. Doch ich hatte nicht den Mut, ließ es wieder sinken und ging hinaus zu den Zwetschgen. Ich habe nie ein Wort über meine Lippen kommen lassen. Aber als mein Bruder nach Hause kam und wir bei dem Fest in Fiesole waren, habe ich euch gesehen, hinter einem Busch. Ihr wart im Begriff, die gleiche Sünde zu begehen wie meine Mutter mit ihrem Buhlen. Da habe ich zugeschlagen und euch zu dem Weinkeller geschafft, erst dich, dann ihn.«
Angelina erinnerte sich plötzlich an ein fernes, süßes Gefühl, das von tiefer Trauer erstickt worden war. Sie stöhnte auf.
»Hattest du denn keine Angst, dass dich jemand beobachtet?«, fragte sie aufgebracht.
»Die waren alle voll des Weines und mit den Frauen beschäftigt«, entgegnete Domenian. »Und ich erkannte, dass du eine Hexe bist, |433|dass der Teufel Besitz von dir und ihm ergriffen hatte. Jetzt kannst du bereuen, was dir damals nicht möglich gewesen wäre.«
»Aber ich habe nichts getan, was ich bereuen müsste! Du solltest bereuen, Domenian!«
»Es ist zu spät«, sagte er. »Zu viel ist geschehen. Wenn du mit deinem Buhlen Francesco vor dem Angesicht des Teufels stehst, wenn du in den tiefsten Tiefen der Hölle schmorst, wirst du an mich denken.«
Angelina sank der letzte Mut. So musste sie also sterben, nachdem sie erkannt hatte, dass der Teufel sich eines jeden Menschen bemächtigen kann, der ihn nicht erkennt und rechtzeitig bekämpft. Domenian schleifte den Körper Tomasios vom Wagen und wuchtete ihn auf den Holzstoß. Mit Zunderstein und Schwamm schlug er Feuer, entzündete ein Büschel trockenen Grases und hielt es an den Scheiterhaufen. Gierig leckten die Flammen nach dem trockenen Holz. Bald brannte der untere Teil des Holzstoßes. Ein leichter Wind trieb den Rauch zu Angelina hinüber. Sie musste husten. Die Flammen erfassten den Körper Tomasios, schlugen über ihm zusammen.
Der Geruch verbrannter Haare und verkohlten Fleisches stieg Angelina in die Nase, und da sah sie alles wieder vor sich: wie Domenian seinen Bruder auf den Scheiterhaufen geschleift, Gebete gesprochen und gesungen und dann zugesehen hatte, wie er verbrannte. Als Angelina von dem Hirtenjungen aus dem Keller befreit wurde, hatte sie nichts mehr davon gewusst. Möglicherweise war die Verbrennung damals an derselben Stelle geschehen wie heute. Angelina war wieder die Zwölfjährige, die in ohnmächtiger Angst auf dem Boden lag und sich vorstellte, selber in den Flammen zu liegen, die Hitze zu spüren, die immer näher kam, den beißenden Qualm zu riechen. Wenn das Feuer sie erreicht hatte, würde sie einen unsäglichen Schmerz spüren, immer stärker, bis ihr die Sinne schwanden. An dem Blick, den ihr Domenian zuwarf, erkannte sie, dass es soweit war. Er kam langsam auf sie zu. Das Bild hatte er an den Stamm der Linde gelehnt.
|434|»Die Linde gilt bei uns als Baum der Liebe«, sagte er. »Da ich dich so sehr geliebt habe und liebe, da Gott dich so sehr geliebt hat, muss ich es tun.«
Er bückte sich und nahm sie in seine Arme. Sie wehrte sich heftig.
»Nein, ich will nicht sterben, lass mich«, schrie sie. »Hilfe, zu Hilfe!«
Er legte ihr eine Hand auf den Mund, so dass ihre Schreie erstickten. Schon sah sie die Schlinge über sich. Domenian nahm die Hand von ihrem Mund, um nach der Schlinge zu greifen. Angelina warf einen Blick auf das Bild. Die Frau darauf schien ihr zuzuzwinkern. Sie zwinkerte sich selber zu.
»Du wirst in der Hölle schmoren, Domenian«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich aber werde leben.«
Er hob sie hoch, um ihr die Schlinge um den Hals zu legen. In diesem Augenblick hörte Angelina Hufgetrappel. Sie wandte ihren Kopf und sah Francesco im Galopp auf die Lichtung zureiten. Domenian ließ Angelina zu Boden fallen und riss das Bild an sich. Francesco sprang vom Pferd und lief auf die beiden zu. Domenian rannte mit dem Bild zum Feuer. Nach einem schnellen Blick auf Angelina folgte Francesco ihm. Während die Männer rangen, kroch Angelina zum Feuer und hielt ihre Hände über ein glühendes Stück Holz, um den Strick zu verbrennen. Ihre Haut wurde dabei gerötet und warf Blasen, doch schließlich hatte sie Erfolg. Sie richtete sich auf. Domenian kämpfte mit dem Rücken zu ihr. Francesco schaute Angelina einen Augenblick lang an, gab jedoch nicht zu erkennen, was er gesehen hatte. Angelina schlich sich hinter Domenian. Sie hörte das Ächzen und Keuchen der Männer. Francesco wehrte Domenian mit einer Hand ab, mit der anderen zog er etwas aus seiner Brusttasche. Es war die Kette mit dem Benediktuspfennig. Francesco hielt sie Domenian vors Gesicht und rief: »Vade retro, Satanas!«
Domenian hielt einen Herzschlag lang inne und strauchelte. Da warf sich Angelina mit aller Kraft auf Domenians Beine und brachte ihn zu Fall. Mit einem Aufschrei stürzte er nieder, geriet dabei halb in die Flammen, und sein Gewand fing sofort Feuer. Francesco griff |435|eilig nach dem Bild, half Angelina auf die Beine und riss sie mit sich fort zu seinem Pferd. Domenian brüllte ihnen Verwünschungen nach. Er rappelte sich auf, wollte seine brennende Kutte abreißen, wollte ihnen folgen, doch Francesco hatte Angelina schon vor sich aufs Pferd gehoben, gab ihm die Sporen, und sie preschten davon.
»Dreh dich nicht um!«, rief Francesco, als sie von dem Hügel herabgaloppierten. Zweige schlugen Angelina ins Gesicht. Der Duft der Lindenblüten begleitete sie. Angelina stellte sich vor, wie Domenian in den brennenden Holzstoß stieg, sich weiter und weiter hinaufarbeitete und schließlich auf der Spitze stand, endgültig verglühend in sich zusammensank. Ob er die Hand noch einmal zum Segen erhoben hatte? Am Weg standen einige Winzer, die mit offenen Mündern zu ihnen herüberschauten. Als Francesco und Angelina herankamen, bekreuzigten sie sich und rannten in alle Richtungen davon. Francesco raunte Angelina ins Ohr:
»Die Menschen werden sich niemals ändern!«
»Und es wird niemals mehr so sein, wie es einmal war«, gab sie zurück.
Sie erreichten den Dorfrand von Fiesole. Francesco zog die Zügel an; das Pferd fiel schnaubend in den Schritt. Sie wandten sich zum Weg, der nach Florenz hinabführte. Die ungeheure Beklemmung, die Angelina ergriffen hatte, fiel langsam von ihr ab. Sie fühlte sich schon ein wenig freier.
»Ob Domenian in die Hölle kommt?«, fragte sie. Einen Augenblick lang waren nur das Klappern der Hufe und das Zirpen der Grillen zu hören.
»Ich weiß es nicht. Wer weiß das schon, wohin wir dereinst kommen?«
»Das kommt darauf an«, sagte Angelina, und Francesco zügelte das Pferd und sagte: »Schau.« Er zeigte ihr das weite Panorama von Florenz zu ihren Füßen.
»Wohin möchtest du reiten?«, fragte Francesco.
Angelina drehte den Kopf zu ihm hin. Sie küsste ihn zart auf den Mund.
|436|»Zu Rinaldo. Ich koche für uns ein Stracotto, und wir laden meine Eltern, Sonia und Lucas ein.«
»Dein Vater wird froh sein, dass alles vorüber ist. Dann kann er wieder in Ruhe seinen Geschäften nachgehen.«
»Was wird wohl aus Botticelli werden?«
»Er wird sich kaum mehr erholen«, meinte Francesco traurig. »Aber er wird wieder malen.«
»Rinaldo wird seine Wirtschaft ausbauen«, führte Angelina die Mutmaßungen weiter.
»Sonia und Lucas werden eine Familie gründen. Und was wird aus dir?«
»Ich werde weder eine Mutter Elisa noch eine Signora Girondo«, erwiderte Angelina.
»Sondern?«
»Ich. Dein anderes Ich.«
»Wenn sie von deinen Abenteuern erfährt, wird sich deine Mutter sorgen, dass du ein Teufelskind bekommst!« Angelina merkte an seiner Stimme, dass er bei diesen Worten grinste.
»Das wird nicht möglich sein«, antwortete sie. »Er war nicht in der Lage, die Sünde zu begehen, die er so sehr bekämpfte.«
»Aber wir sind dazu in der Lage, umso mehr«, gab Francesco zurück. »Wir brauchen uns nur ein Plätzchen zu suchen.«
Francesco gab dem Pferd noch einmal die Sporen. Sie galoppierten dahin, bis der Pfad hinab nach Florenz mit seinen Kuppeln, Türmen und Kirchen führte. Mitten in den Hügeln, zwischen Ginsterbüschen und Zistrosen, hielten sie an. Das Bild lehnte Francesco an einen Olivenbaum. Es war an einigen Stellen verkohlt, aber das würde zu beheben sein. Angelina auf dem Bild lächelte die beiden an. Über der Stadt hatte sich eine dunkle Wolkenwand aufgebaut. Einzelne Blitze zuckten über den Himmel, ein lauter Donnerschlag folgte. Doch schon bald verzog sich diese Wand und machte einem durchsichtig blauen Himmel Platz.