|399|51.

Die Sonne ging über den Weinbergen auf und tauchte das Kloster in ein goldenes Licht. Schon in aller Herrgottsfrühe war Francesco wach und wartete ungeduldig, bis die Morgenandacht vorüber war. Mutter Elisa traf ihn im Kreuzgang an.

»Wir müssen alle Weinkeller der Umgebung absuchen«, meinte sie. »Ich gebe den Schwestern frei. Sie sollen immer zu zweit ausschwärmen, und sobald sie etwas Verdächtiges sehen, es bei mir melden. Sie dürfen sich auf keinen Fall in Gefahr begeben. Und auch Ihr nicht, Francesco.«

»Ich danke Euch, ehrwürdige Mutter Elisa. Das wird sicher einige Zeit in Anspruch nehmen.«

Mutter Elisa rief die Nonnen im Kapitelsaal zusammen und erklärte ihnen, worum es ging. Alle, die im Kloster entbehrlich waren, wollten an der Suche teilnehmen. Mutter Elisa gesellte sich zu Francesco. Sie ritten auf einem Pfad in die Weinberge, Mutter Elisa etwas wackelig, als sei sie das Reiten nicht gewöhnt.

»Berichtet mir doch, was seit Angelinas Weggang aus unserem Kloster geschehen ist«, bat sie.

»Sie kam an dem Tag, an dem Savonarola sein zweites ›Fegefeuer der Eitelkeiten‹ abhielt«, antwortete er. »Sie glaubte, dass ich das Bild an einen Florentiner Händler verkauft hätte.«

»Von dem Brief habe ich gehört«, meinte Mutter Elisa. »Damit wollte dieser Jemand sie nach Florenz locken. Wenn es nicht der Mörder gewesen ist!«

»Es war eine Lüge. Ich hatte es überhaupt nicht verkauft!«

»Was habt Ihr mit dem Bild gemacht?«

»Wir versteckten es schließlich bei einem Nachbarn von Rinaldo, dem Wirt.«

|400|»Wie ist sein Name?«

»Tomasio Venduti. Das ist ein Tuchhändler, ein Adliger, der wie Lorenzo de’ Medici kostbare Bilder und andere Kunstgegenstände sammelt.«

»Venduti.« Mutter Elisa blinzelte in die Sonne und legte ihre rosige Stirn in Falten. »Den Namen habe ich schon einmal gehört. Jetzt habe ich es. Er ist oder war als glühender Anhänger Savonarolas bekannt.«

»Was sagt Ihr, ehrwürdige Mutter?«, fragte Francesco aufgeregt und zügelte sein Pferd. »Er ist Anhänger Savonarolas? Dann hat er uns aber getäuscht. Er gab sich als dessen Feind aus.«

»Ihr solltet zu ihm gehen und Euer Bild herausverlangen, sobald wir Angelina gefunden haben. Wer weiß, was er sonst damit anstellt!«

»Vielleicht könnten wir einen Boten zu Rinaldo schicken und ihn bitten, das Bild zu holen. Die Erklärung dafür ist einfach: Jetzt, nachdem Savonarola tot ist und es keine Fanciulli mehr gibt, können wir das Bild an Angelinas Eltern geben, und sie können damit verfahren, wie es ihnen beliebt.«

Sie kamen zu einem Weinkeller, untersuchten ihn und fanden ihn leer.

So erging es ihnen auch mit den nächsten. Francesco konnte seine Ungeduld kaum noch zügeln.

»Wir müssen Angelina finden, bevor ihr etwas zustößt!«, rief er aus. »Ich glaube, dass sie in großer Gefahr ist!«

»Wollt Ihr nicht selbst nach Florenz reiten und das Bild holen? Möglicherweise kann Euch dieser Tomasio eine Auskunft geben. Wir werden die Suche hier fortsetzen.«

»Nein«, stieß Francesco hervor. »Ich würde es mir niemals verzeihen, wenn ich Angelina ihrem Schicksal überlassen würde.«

»Dann sucht weiter, mit Gott. Ich werde zum Kloster zurückreiten und einen Jungen aus dem Dorf in die Stadt schicken.«

Francesco biss sich auf die Unterlippe. Warum hatte er Angelina aus den Augen gelassen? Er war schuld, wenn ihr jetzt ein Leid geschehen würde.

|401|Den ganzen Tag schweifte er in den Weinbergen umher. Ab und zu begegneten ihm die Nonnen, die wie er fieberhaft auf der Suche waren.

Am Abend musste er ohne Ergebnis ins Kloster zurückkehren. Der Bote war inzwischen zurückgekommen. Rinaldo habe seinen Nachbarn nicht angetroffen, berichtete Mutter Elisa. Er sei verreist, hätte der Diener gesagt, und er hätte das Bild mitgenommen.

 

Domenian hatte Angelina allein gelassen. Da es immer gleich dunkel und feucht war, wusste sie nicht, ob es noch Tag oder schon Abend war. Sie saß mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Wenigstens eine Decke hatte Domenian ihr dagelassen. Und ein Brot und eine Kanne mit heißem Würzwein. Sie hatte gegessen und getrunken, das warme Getränk hatte ihre Lebensgeister wieder geweckt. Sie glaubte nicht daran, dass Domenian sie vergiften würde. Er hatte etwas ganz anderes mit ihr vor. Bei der Vorstellung überlief sie ein Schauer. Und sie glaubte auch nicht daran, dass Francesco tot war. Vielleicht war er schon auf dem Weg hierher. Hatte sie ihm erzählt, dass sie einmal fortgelaufen war und die Nacht in solch einem Keller verbracht hatte?

Angelina riss ein weiteres Stück von dem Brot und schob es in den Mund. Frisch war es nicht mehr, es schmeckte sehr trocken. Sie nahm einen Schluck Wein. Ihr Mund und ihre Kehle waren wie ausgetrocknet. Nein, sie hatte nur mit Mutter Elisa darüber gesprochen und früher mit Tante Bergitta. Ob Francesco darauf kam, mit Mutter Elisa zu sprechen? Die Öllampe brannte ruhig in einer Ecke des Raumes. Angelina wurde müde, die Augen fielen ihr langsam zu. Doch dann begann ihr Herz einen Schlag auszusetzen, um dann weiterzurasen. Was hatte sie, war sie krank geworden?

Sie riss die Augen auf. Die Öllampe stand schief und neigte sich dem Boden zu. Sie wollte aufspringen, wurde aber von ihren Fesseln daran gehindert. Das Herzrasen wollte nicht aufhören. Angelina sank an die Wand zurück. Die Decke des Kellers, schwach erleuchtet von der Lampe, drohte auf sie herunterzufallen. Sie wollte |402|um Hilfe schreien, brachte aber nur ein Krächzen heraus. War das ihre Stimme gewesen? Ihr Kopf war vernebelt, sie fiel in ein Loch. Oben sah sie Licht hereinfallen. Sie erhob sich vom Boden und flog diesem Licht entgegen. Schon war sie draußen in der Nacht und flog über die Wipfel der Bäume hinweg. Das hatte sie doch schon einmal, mehrmals erlebt! Der Mond stand als rote Scheibe über ihr, unter ihr glitten die Weinberge und Felder dahin. Mit ihr flogen weitere Gestalten, junge Frauen wie sie, alte Männer und Kinder, alle dem gleichen Ziel entgegen. Glitzernde Meere, Städte, die im Mondschein schimmerten, große Gebirge, auf deren Gipfeln Schnee lag, glitten unter ihr vorbei. Es war ein Summen und Sausen in der Luft. Die Gestalten sangen und riefen Scherzworte zu ihr herüber. Gewundene Bänder von Flüssen nahmen ihren Weg zum Meer, sanfte, bewaldete Kuppen wiesen ihnen den Weg zum Berg aller Berge, der schließlich in der Ferne auftauchte. Große Feuer waren zu ihrer Begrüßung entzündet worden. Jeder der Fliegenden nahm an Fahrt auf, um als Erster dort zu sein. Angelina ließ sich treiben, vom Wind, wie sie meinte, aber schließlich landete auch sie neben den anderen auf einer Wiese. Um die Feuer herum waren Tische und Bänke aufgebaut. Vor den Feuern standen junge Frauen mit halb entblößten Brüsten und kochten Suppe in großen Töpfen. Auf den Bänken scharten sich weitere Männer, Frauen und Kinder zusammen mit Teufeln, an denen sie sich rieben und mit denen sie aßen und tranken. In Tonkrügen schäumte schwarzes Bier.

Angelina trat näher an einen der Tische heran. Intensive Düfte stiegen davon auf. Angelina sah eine Schüssel Birnenkompott, mit Anis gewürzt, daneben Erdbeeren mit Honig und Sahne. Ein knuspriger Wildschweinbraten lag auf einer riesigen Platte. Von ihm ging der Geruch nach Fenchel aus. Garnelen, Krabben und Austern wurden in einer sämigen Soße serviert, umgeben von Granatapfelmus und Selleriesalat, gespickt mit Nelken und mit Muskatnuss bestreut. Angelina begann zu kichern. Hatte ihr ihre Amme nicht einmal erzählt, diese Speisen und Gewürze würden die Menschen zur Liebe bereit machen? So hielten sich auch diejenigen, die |403|mit dem Essen fertig waren, an den Händen, schauten sich gegenseitig in die Augen, küssten und betasteten sich. Manche verschwanden hinter Bäumen oder Büschen; von dort hörte Angelina keuchende Laute und hohe Schreie. Es erregte sie.

Ein Teufel mit einem Höcker auf der Stirn bat sie mit einer Handbewegung neben sich. Ein Geruch nach Feuer und Schwefel ging von ihm aus. Angelina aß von allen Speisen, ließ sich dann von dem Teufel hinter einen Busch führen und entkleiden. In diesem Augenblick ertönte ein Hornsignal. Alle Anwesenden liefen auf der Stelle zusammen, als hätten die Posaunen von Jericho geblasen. Auf der höchsten Stelle des Berges stand ein Wesen, wie es Angelina noch nie gesehen hatte. Es war ein Mann mit Hörnern, wie bei einem Widder gebogen. Aus seinem Rücken wuchsen Flügel, die aus blauem Seidentuch gemacht schienen. Um die Lenden hatte er ein Wolfsfell geschlungen, das seine Blöße kaum bedeckte.

»Wer ist das?«, fragte Angelina einen ihr nahe stehenden Mann.

»Er ist der Oberste, und wir müssen ihm huldigen«, war die Antwort des Mannes. Alle stellten sich in einer Reihe auf. Jeder, der dem Obersten am nächsten kam, küsste sein entblößtes Hinterteil. Jetzt war Angelina an der Reihe. Sie roch den glühenden Atem des Wesens. Als es sich herumdrehte, sah sie ein Stück Fleisch ohne Haut.

»Nein!«, schrie sie in hellem Entsetzen. Mit einem wütenden Ausdruck wandte sich der Oberste um.

»Nein«, rief Angelina noch einmal und wandte sich zum Gehen. Die anderen blickten sie drohend an, kamen näher. Sie lief, wollte sich in die Lüfte erheben, wie vorher. Doch sie klebte am Boden fest. Endlich gelang es ihr, die Füße von der Erde zu lösen und in die Nachtluft hinaufzuschweben. Geschafft! Sie würde den ganzen Weg zurückfliegen und zu Francesco gehen. Doch ihr Flug wurde immer langsamer, ihr Körper kehrte nach unten zurück. Unten warteten die Teufel und Hexen auf sie. Mit einem Schrei schlug sie auf dem Boden auf.

Angelina blinzelte verwirrt ins Licht. Sie befand sich in dem Keller, die Öllampe brannte ruhig in der Ecke. Sie hatte Kopfschmerzen. |404|Nach einer Weile fiel sie in einen tiefen, unruhigen Schlaf. Jäh wurde sie daraus hervorgerissen, als die Tür in ihren Angeln quietschte. Domenian stellte sich zwischen Angelina und das Licht, so dass er wirkte wie ein riesiger Schatten.

»Wann hast du den Teufel zum ersten Mal gesehen?«, sagte er drohend. »Ich frage dich zum letzten Mal.«

»Gerade eben … im Traum.«

»Das war kein Traum, Angelina. In welcher Gestalt hat er sich gezeigt?«

Angelina überlegte fieberhaft. Wenn sie den Teufel beschrieb, würde ihr Schicksal als Hexe für ihn besiegelt sein. Leugnete sie aber …

»Er hatte Hörner und Flügel und …«

»Wann hat er dich zu seiner Buhlin gemacht? Und wie?«

»Ich bin vorher aufgewacht«, murmelte sie.

»Wie sah sein Glied aus?«

»Etwas Derartiges habe ich nicht gesehen.«

»Hat er gestunken, als er zu dir kam? Nach was hat er gerochen?«

»Nach Bier … und Schwefel.«

»Hast du seinen nackten Hintern geküsst?«, fragte Domenian drängend.

»Nein. Und ich würde mich auch weigern, es zu tun!«

»Wie oft bist du nachts ausgefahren?«, kam seine Stimme lauernd herüber.

»Es war das erste Mal«, log Angelina.

»Mit welcher Salbe hast du dich fliegend gemacht?«

»Ich habe keine Salbe verwendet. Aber ich glaube, Ihr habt mir etwas in den Wein geschüttet!«

»Du bist von Kindheit an verderbt und verloren gewesen, Angelina. Deine Mutter war eine Hure, und auch du bist eine Hure! Um deine Seele zu retten, werde ich dir den Teufel noch austreiben. Immerhin hast du gestanden, zum Hexensabbat geflogen zu sein. Ich werde dich jetzt eine Weile dir selber überlassen, damit du in dich gehen und deine Sünden bereuen kannst.«

|405|Domenian stellte ihr einen neuen Laib Brot, ein Stück Schinken und eine Kanne Bier hin. Die Reste der anderen Mahlzeit verstaute er in seinem Beutel. Er goss Öl in das Lämpchen. Der Schatten bewegte sich zur Tür hin, sie quietschte in den Angeln, dann war es wieder still. Angelina beschloss, das Essen nicht anzurühren. Wenn sie doch wüsste, ob Francesco nach ihr suchte! Vielleicht war er schon ganz in der Nähe. Sie sehnte sich nach ihm und hoffte gleichzeitig, er würde Domenian nicht in die Arme laufen. Sie war ein Mensch, der anderen gefährlich werden konnte. Hatte sie nicht Fredi in Gefahr gebracht und seinen Tod verschuldet ebenso wie den von Matteo und Eleonore? War etwa sie selbst, sie ganz allein schuld an allem? War sie wirklich eine Hexe, war sie eine Hure?

Domenian hatte recht. Sie war schon als Kind anders als die anderen gewesen. Diesen jungen Mann auf der Festa Sagra hatte sie mit einem Blick ihrer Augen betört und damit sein Todesurteil gesprochen. Er war hingerichtet worden, und sie hatte dabei geholfen, ihn zum Tode zu befördern! Sie weinte still in sich hinein. Hatte sie nicht einmal sagen hören, dass Hexen keine Tränen hätten? Dass Francesco damals fast zu Tode geprügelt worden wäre, war ebenfalls ihre Schuld. Denn sie, Angelina, hatte ihn dazu verführt, das Bild mit dem sündigen Gewand zu malen. Der Teufel in ihr hatte ihn dazu angestiftet. Und in ihren Augen, in den ganzen Zügen dieses Bildes lag ein dämonischer Ausdruck, das war doch der Beweis! Später hatte sie Matteo dazu verführt, sich ihr unsittlich zu nähern. Sie würde ihre Schuld, die sie in die Hölle bringen würde, nur büßen können, wenn sie Domenian alles gestand. Nein, sie würde das Essen und das Getränk nicht anrühren, sie wollte nicht mehr zum Hexensabbat fliegen. Stattdessen würde sie ihre gerechte Strafe bekommen. Es war einerlei, ob jemand nach ihr suchte. Es war eins, ob sie gefunden und gerettet wurde. Jetzt konnte nur noch Domenian sie retten. Sie kroch zu der Kanne hinüber und spähte im Schein der Lampe hinein. In dem Krug war schwarzes, schäumendes Bier. Die Bilder stürzten auf sie herab. Der Flug zu dem Berg, die Teufel, die Männer, Frauen und Kinder, das Essen, |406|der Oberste auf dem Gipfel. Angelina erinnerte sich. Mit einer Salbe hatte der Mann sie damals eingestrichen und sie später gefragt, was sie mit dem Teufel getrieben hätte. Der Junge neben ihr hatte mit großen Augen zugeschaut, wenn Domenian Angelina verhörte, sie und sich selbst dabei anfasste und stöhnte. Schließlich hatte Domenian ihr befohlen, seinem Bruder mit einer Nadel ins Herz zu stechen, dadurch würde er vom Teufel befreit. Dabei stieß er unentwegt Gebete aus und sang Kirchenlieder. Und sie hatte es getan! Sie zuckte zusammen bei der Erinnerung. Durch diese Tat war sie, Angelina, verdammt in alle Ewigkeit und würde in der tiefsten Hölle schmoren. Es gab keinen Weg zurück.