In dieser Nacht schlief Angelina besonders gut, obwohl ihr im Traum wieder Eleonore erschien. Gleich am Morgen beschloss sie, ihr Grab zu besuchen. In der Frühe wanderte sie durch die Gassen, in denen noch der Geruch des Brandes hing. Auf dem Friedhof waren alte Frauen damit beschäftigt, Blumen an die Plätze vor den mehr oder weniger prunkvollen Grabhäusern zu legen. In den Dachfirst von Eleonores Grab war neben ihrem Namen der von Matteo hineingemeißelt. So hatte man ihn also vom Lago Trasimeno hierher überführt. Angelina betrachtete die Engelsstatue. Eleonore war wie ein Engel davongeflogen. Aber sie hätte nicht so früh sterben dürfen, in der Blüte ihrer Jahre. Angelina dachte an die Zeit am See, sah Eleonore vor sich, wie sie im Kreis ihrer Freunde saß, spielte, lachte, erzählte, sah die Landschaft, roch den Geruch des Thymians, den nach Zitronen und gebratenen Fischen, und hörte die Grillen zirpen. Sieben Tode musst du erleiden, hatte Mutter Elisa gesagt. Drei der Menschen, die ihr nahestanden, waren schon gestorben. Wer würde der Nächste sein?
Ihre Eltern, ihre Geschwister, Francesco, sie selbst? Oder gar Mutter Elisa? Angelina kniete auf der kalten Erde nieder und sprach ein Gebet für Eleonore. Sie richtete sich auf. Heute noch würde sie zu ihren Eltern gehen, jetzt gleich, und sie würde sich nicht davon abhalten lassen.
Wieder stand sie vor dem Palazzo Girondo und betätigte den Klopfer. Eine Magd schaute zum Fenster heraus und fragte, was sie wolle.
»Ich bin Angelina Girondo und möchte zu meinen Eltern und Geschwistern«, sagte Angelina mit einem flauen Gefühl in der Magengrube. Eine Zeit verging, bis sie Schritte hinter der Tür hörte. |330|Ihre Mutter stand im Rahmen. Sie sah genauso aus wie bei ihrem Besuch im Kloster Santa Corona, nur wirkten ihr Gesicht und ihre Gestalt verhärmter.
»Angelina, du bist gekommen«, sagte Signora Girondo fassungslos. Sie knetete ihre Hände. Dann breitete sie die Arme aus und zog ihre Tochter an sich.
»Wir haben dich so sehr vermisst, jeden Abend haben wir an dich gedacht und für dich gebetet!«, sagte sie. »Komm herein, du wirst uns allen eine große Freude bereiten.«
Angelina stieg hinter ihrer Mutter die Treppe zum Primer Piano hinauf. Als sie oben angekommen waren, liefen ihr die Geschwister entgegen und umarmten sie stürmisch.
»Angelina, wir haben dich so vermisst!«, rief Rodolfo aufgeregt. Er musste jetzt zehn Jahre alt sein. Und Clementina elf. Beide waren gewachsen und hübsch herausgeputzt, wie es sich für Söhne und Töchter der Gesellschaft gehörte.
»Wir beachten Savonarolas Gebote nicht mehr so streng«, warf Signora Girondo wie entschuldigend ein. Signor Girondo, ihr Vater, kam Angelina entgegen.
»Angelina, ich heiße dich willkommen in unserem Haus«, rief er und schloss sie in die Arme. »Ich wollte gerade in mein Kontor gehen und Rechnungen prüfen, da hörte ich die gute Nachricht, dass du gekommen bist.«
Die Mägde und Knechte des Hauses waren ebenfalls versammelt und begrüßten Angelina ehrerbietig. Aus der Küche duftete es nach Stracotto. Bald saß Angelina im Kreise ihrer Familie am Tisch. Ihr Vater räusperte sich und legte seine Serviette neben den Teller.
»Es ist nun ein Sommer ins Land gegangen, die Pest hat in unserer Stadt gewütet, aber uns zum Glück verschont, der Herbst ist vorbei und der Winter eingezogen. Und jetzt ist unsere verlorene Tochter heimgekommen!«
In seinen Augenwinkeln glänzte es feucht.
»Wo bist du gewesen?«, fragte Clementina mit vollen Backen.
»Man spricht nicht mit vollem Mund«, wies ihre Mutter sie zurecht.
|331|»Oh ja, erzähle«, rief Rodolfo zwischen zwei Bissen.
Angelina schluckte.
»Ich war bei der Familie Scroffa auf dem Land«, sagte sie. »Wir sind vor der Pest an den Lago Trasimeno geflohen. Dort kam Matteo Scroffa durch Gift ums Leben.«
»Wer hat das getan?«, fragte ihr Vater.
»Ich weiß es nicht«, entgegnete Angelina. Die Geschwister lauschten mit offenem Mund.
»Wir waren bei der Beerdigung von Gräfin Scroffa«, sagte ihre Mutter. »Und wir sahen, dass auch ihr Mann dort begraben liegt.«
»Uns wurde allerdings erzählt, er sei bei einem Bootsunglück ums Leben gekommen«, schaltete sich ihr Vater ein.
»Es wurde nie geklärt«, antwortete Angelina.
»Und was war dann?«, wollte Clementina wissen. »War Francesco auch dabei?«
Angelina sah, dass ihre Mutter zusammenzuckte.
»Ja, er war dabei«, sagte sie. »Aber ich bin dann allein zu Tante Bergitta nach Arezzo gegangen.«
»Die mit dem Weinberg und dem guten Essen?«, strahlte Rodolfo.
»Ja, die. Sie hat mir sehr geholfen. Als ich nach Florenz zurückkam, wurde mir von Euch die Tür gewiesen.«
Eine Stille entstand. Signora und Signor Girondo schauten verlegen vor sich hin. Eine Magd kam, um das Geschirr abzuräumen. Kurz darauf brachte sie den Nachtisch, eine Nusscreme. Angelina nahm all ihren Mut zusammen. Sie würde nicht von hier fortgehen, ohne sich mit ihren Eltern ausgesprochen zu haben.
»Warum habt Ihr mich verstoßen, Herr Vater und Frau Mutter?«
Ihr Vater war rot geworden. Er rührte mit seinem Löffel in der Nusscreme.
»Du bist damals von zu Hause fortgelaufen, zu einem Maler, den du kaum kanntest. Aber wir hätten dich jederzeit wieder aufgenommen, schließlich bist du unsere Tochter, und wir lieben dich.«
»Aber Signor Venduti sagte uns, du wollest um keinen Preis der Welt nach Hause zurückkehren«, warf Signora Girondo ein.
|332|»Das stimmt nicht!«, fuhr Angelina auf. »Er hat mir gesagt, ihr hättet mich verstoßen, ich sei nicht mehr Eure Tochter!«
»Was sagst du da?«, fragte ihre Mutter. »Das hat er behauptet?«
»Ja, und dann habe ich Euch Briefe geschrieben, die Ihr nie beantwortet habt.«
»Solche Briefe haben wir nie erhalten!«, rief Signora Girondo. »Und du seiest noch einmal abgewiesen worden von unserem Haus?«
»Ja, die Magd wies mir die Tür.«
»Da hat sie wohl eigenmächtig gehandelt«, meinte Signor Girondo. »Wir waren zu dem Zeitpunkt gar nicht zu Hause!«
»Irgendwann hat sie es mir aber erzählt, das dumme Ding«, mischte sich ihre Mutter ein, »und ich habe schließlich herausgefunden, wo du dich aufhieltest, Angelina. So bin ich ins Kloster Corona gekommen.«
»Dort habt Ihr mir aber andere Gründe gesagt, aus denen heraus Ihr mich nicht besuchen wolltet.«
»Daran erinnere ich mich nicht.« Die Augen ihrer Mutter blickten Angelina fast flehend an.
»Nun gut, ich sehe, dass wir hätten miteinander sprechen sollen«, sagte Angelina und atmete tief durch. »Aber eins möchte ich noch wissen: Was geschah damals wirklich, als ich etwa neun Jahre alt war?«
Die Magd kam und räumte das Geschirr ab. Angelinas Vater wiegte den Kopf.
»Das haben wir niemals herausgefunden. Eines Tages warst du verschwunden, tagelang. Wir suchten überall, konnten dich aber nicht finden. Dann hörte ein Hirtenjunge ein Weinen aus einem Keller nicht weit von Fiesole. Seine Eltern brachen die Tür auf und fanden dich sehr verängstigt, aber bei guter Gesundheit. Du hast nie ein einziges Wort darüber gesprochen, wie du dort hingekommen bist und was dort geschehen ist. So deckten wir den Mantel des Schweigens darüber.«
»Ich träume oft davon.«
|333|»Es wird wirklich allerhöchste Zeit, dass du heiratest und diese alten Geschichten vergisst, Angelina«, sagte ihre Mutter.
»Ich habe unmissverständlich abgelehnt, Frau Mutter.«
»Es muss ja nicht Signor Tomasio sein, besonders nachdem er …«
»… gelogen hat?«, vollendete Angelina. »Er hat auch sonst gelogen: Er behauptet, zum Stadtadel zu gehören, stammt aber vom Lande. Wusstet Ihr das?«
Ihr Vater kratzte sich verwirrt am Kopf. »Das höre ich zum ersten Mal!«
»Ich hatte keinen Grund, seinen Worten zu misstrauen«, meinte ihre Mutter und stellte ihr Glas ab.
Angelina stand auf.
»Danke für das Essen. Ich werde jetzt gehen, aber macht Euch keine Sorgen, ich werde öfter zu Besuch kommen.« Sie wandte sich zur Tür.
»Aber wo willst du denn hin«, rief ihre Mutter. »Bleib doch, Angelina, hier ist dein Zuhause.«
»Mein Zuhause ist inzwischen anderswo«, entgegnete Angelina, küsste Vater, Mutter und Geschwister und schritt zur Tür. Rodolfo und Clementina liefen ihr nach.
»Kommst du auch ganz bestimmt wieder?«, fragte Rodolfo.
»Ich komme wieder«, war Angelinas Antwort.
»Hier, das hat unser Herr Vater mir zugesteckt, für dich«, raunte Rodolfo ihr zu und drückte ihr einen Lederbeutel in die Hand. Darin hörte Angelina etwas wie Golddukaten klimpern.
Während sie die Straßen und Gassen zu Rinaldos Turm durchquerte, dachte Angelina über ihre Eltern nach. Nein, sie traf keine Schuld, sie machten nur den einen Fehler, zu sehr auf ihren Platz in der Florentiner Gesellschaft zu achten. Aus diesem Grund hatte ihre Mutter wohl auch dem Vater ihren Fehltritt verschwiegen. Aber das war jetzt alles nicht mehr schlimm, sie hatte ihnen verziehen und in der Beichte ihr Gewissen erleichtert. Doch Angelina |334|sollte nicht zur Ruhe kommen. Nur wenige Tage später klopfte es abends trommelnd an die Tür des Turmes. Pallina führte eine Magd herein, die Angelina als die ihrer Eltern erkannte. Ihre Augen waren rot verweint, und sie rang unentwegt ihre Hände.
»Signor und Signora Girondo …«, stammelte sie.
»Was ist mit ihnen, um Himmels willen?«, rief Angelina. Die Magd schwieg und senkte den Blick zu Boden. Angelina lief auf sie zu, fasste sie an den Schultern und rüttelte sie.
»Sag, was ist geschehen?«, schrie sie.
»Sie müssen etwas Falsches gegessen haben«, brachte die Magd heraus. »Aber es war nicht von mir zubereitet, ich schwöre es!«
»Sind sie am Leben?«
»Der Arzt kam und hat ihnen ein Brechmittel gegeben.«
»Wo sind sie jetzt?«
»Im städtischen Spital. Sie werden überleben, denke ich …«
Angelina warf sich ihren Mantel über und verließ das Haus. Erst unterwegs merkte sie, dass Francesco ihr folgte. Die Eltern lagen nebeneinander in ihren Betten, inmitten eines Saales voller Kranker. Warum hatten sie sich nicht zu Hause pflegen lassen?
»Es war gewiss der Arzt, der sie eingewiesen hat«, sagte Francesco, als hätte er ihre Gedanken erraten.
»Warum?«
»Ich befürchte Schlimmes«, meinte Francesco nur.
Signor und Signora Girondo waren wach. Sie blickten den beiden etwas ängstlich entgegen.
»Ich weiß auch nicht, was uns den Magen verdorben hat«, sagte Signora Girondo, nachdem sich alle etwas steif begrüßt hatten. Angelina begann die Wahrheit zu ahnen. Es fuhr ihr wie ein Messerstich durch den Körper.
»Seid Ihr zur Beichte gegangen, Herr Vater und Frau Mutter?«, fragte sie.
»Ja, wir waren gestern Abend im Dom«, antwortete Signor Girondo. »Nachdem wir lange gezögert hatten, diesen Schritt zu gehen. Ein Priester hat uns die Beichte abgenommen. Wir haben über |335|das gesprochen, was schon lange zwischen uns stand. Dieser Priester war unser Zeuge.«
»Und wir haben Vergebung erlangt, haben uns ausgesöhnt«, ergänzte Signora Girondo und lächelte schwach.
»Und dann?«, fragte Angelina atemlos.
»Dann haben wir das heilige Abendmahl eingenommen«, entgegnete ihre Mutter.
»Habt Ihr Messwein getrunken?«
»Ja, das ist doch selbstverständlich«, gab Signora Girondo zur Antwort.
»Ich möchte Euch bitten, vorübergehend auf unser Landgut zu gehen«, sagte Angelina in bestimmtem Ton.
»Warum sollten wir das tun?«, wollte Signor Girondo wissen.
»Oder besser noch ins Kloster Corona, da sind sie sicherer«, meinte Francesco leise.
»Nehmt die Kinder mit«, ordnete Angelina an. »Warum? Weil Ihr beinahe einem Giftanschlag zum Opfer gefallen seid!«
»Um Gottes willen, wie furchtbar!«, rief ihre Mutter.
»Aber wer sollte denn Grund dazu haben?«, fragte ihr Vater erstaunt.
Angelina schüttelte den Kopf. »Ich weiß es doch auch nicht, ich weiß nur, dass ihr in Florenz in Gefahr seid! Glaubt mir, ihr müsst fort aus der Stadt!«
»Ich verstehe es nicht, Angelina«, sagte ihr Vater, »aber wir werden tun, was du uns rätst.«
Auf dem Weg zurück zum Turm teilte Francesco Angelina seine Befürchtungen mit.
»Das sind jetzt fünf Mordanschläge, den, der mir galt, nicht mitgerechnet«, sagte er. »Der Mörder hat sich uns beide bis zuletzt aufgespart, um die Zahl sieben voll zu machen.« Sein Gesicht war bleich.
»Aber warum, Francesco?«
»Er muss von den Seitensprüngen erfahren haben.«
|336|»Ich dachte schon, ich hätte es ihm gebeichtet«, entgegnete Angelina.
»Das kann nicht ausschlaggebend gewesen sein«, folgerte Francesco. »Warum wäre Eleonore sonst vorher gestorben?«
»Du hast recht«, meinte Angelina. »Meine Mutter hat es dem Priester ja selbst noch einmal gestanden. Er könnte der Mann sein, den wir suchen!«
Angelinas Familie war in Sicherheit, sie selbst aber zermarterte sich den Kopf, wie sie dem Priester sein Tun nachweisen sollte. Die Kirche war noch immer so sehr von Savonarola beherrscht, dass es sinnlos gewesen wäre, den Priester einfach anzuklagen. Und dass er ein Gefolgsmann von Savonarola war, dessen war sich Angelina gewiss. Eines Tages, es war Mitte März, ging es wie ein Lauffeuer durch die Stadt, dass ein Gottesurteil stattfinden würde. Auf der Piazza della Signoria sollten Savonarola und ein Franziskaner mit bloßen Füßen durchs Feuer gehen. Wer dabei unversehrt blieb, hatte vor Gott und der Welt recht.
Angelinas Herz klopfte schneller, als sie davon hörte. Das könnte zum Tag der Entscheidung werden. Vielleicht war das Ende des verrückten Mönches und seiner Gefolgsmänner näher, als sie glaubte? Und vielleicht würde damit auch die ständige Bedrohung aufhören, die über ihrem Leben und dem ihrer Lieben schwebte.