|136|16.

»Was meinst du, Francesco, wie lange die Seuche noch wüten wird?«, fragte Angelina auf dem Rückweg.

»Üblicherweise flaut sie erst ab, wenn die große Hitze des Sommers vorüber ist.«

Was für eine lange Zeit, dachte Angelina. Wie sollten sie sich die endlosen, heißen Tage, wie die warmen, trotz allen Elends duftenden Nächte hier vertreiben, die immer noch voller Geheimnisse waren und bleiben würden?

Francesco blickte sie von der Seite an, als hätte er ihre Gedanken erraten. Ihr wurde heiß.

»Wir könnten uns doch an den kommenden Abenden gegenseitig Geschichten erzählen, um uns die Zeit zu vertreiben«, sagte sie hastig.

»So, wie einst die jungen Menschen bei Boccaccio?«, fragte Francesco.

»Ja, an die hatte ich gedacht.«

 

Am Abend, nachdem die Diener das Geschirr abgeräumt hatten und die Kinder ins Bett gebracht waren, bat Eleonore ihre Gäste auf die Terrasse hinaus. Ein frisches Lüftchen kam vom See herüber. Der Mond warf eine zitternde Bahn auf das Wasser, und die Grillen zirpten, als gelte es, einen Wettbewerb zu gewinnen. Das blonde Haar der Gräfin schimmerte. Wie schön sie war! Nun erhob Eleonore ihre Stimme.

»Meine lieben Freunde, die ihr euch hier versammelt habt, ihr seid gekommen, um mit mir und meinem geliebten Mann dem sicheren Tod zu entfliehen. Und er hat ihn gefunden, durch eines ruchlosen Menschen Hand.« Eleonore hielt einen Herzschlag lang |137|inne und strich sich über die Stirn, wie, um ihre Trauer zu verbergen. »Doch von dort, wo er jetzt ist, schaut er freundlich auf uns herab und will uns sagen: Trauert nicht länger um mich, für mich ist es vollbracht. Wendet euch dem Leben zu, genießt seine Freuden, solange die Umstände es zulassen! Und so habe ich beschlossen, einen Vorschlag von Francesco und Angelina aufzunehmen, der da lautet: Erzählt euch gegenseitig Geschichten, um die langen, heißen Tage frohgemuter zu ertragen, esst und trinkt mit Maßen, tanzt und macht Musik und Verse!«

Sie begaben sich hinüber auf die Terrasse und ließen sich in zierlichen Korbsesseln nieder. Ein Diener brachte gekühlten Zitronensaft, eine Glaskaraffe mit Wein und hochstielige Noppengläser. Lucas streifte die Ärmel seines Hemdes zurück.

»Dann will ich einmal beginnen«, meinte er lächelnd. »Keiner von euch weiß es, aber ich werde diese Zeit nie vergessen. Vor langen Jahren warb ich um ein Mädchen namens Appollonia. Sie war süßer als der Honig der Bienen und frischer als eine Blüte im April. Wohin auch immer sie sich bewegte, die Herzen der Menschen waren ihr zugetan. Ihr, liebe Freunde, könnt euch vorstellen, wie es mich beglückte, als sie mich erhörte. Ein rauschendes Hochzeitsfest wurde gefeiert, meine Familie sparte an nichts, um uns beide zu erfreuen. Aber nicht lange währte die junge Liebe. Im Kindbett wurde meine Frau von mir gerissen.«

Sonia entfuhr ein Laut der Bestürzung. »Ich war lange wie innerlich erstarrt«, fuhr Lucas fort, »Abend für Abend saß ich traurig unter meiner Öllampe und überließ mich meinen trüben Gedanken. Eines Tages nun trat ein neuer Mensch in mein Leben: Sonia. Sie brachte es fertig, mich wieder ins Leben zu rufen. Die Sonne strahlte jeden Tag ein wenig heller, die Vögel sangen ein wenig melodischer und die Blumen blühten noch einmal so schön. Nacht für Nacht erschien mir Appollonia im Traum, und ich verging fast vor Scham, ihr meine neue Neigung zu gestehen. Sie aber sagte: Lucas, die Toten machst du nicht wieder lebendig, lass sie ruhen. Dein Leben ist dir nur einmal geschenkt, warum sollst du es in |138|Trauer um etwas Verlorenes verbringen? Ich nahm das in meinem Herzen auf und warb weiter um Sonia. Eines Tages bekam ich Besuch von einem dieser Fanciulli. Savonarola habe ihn geschickt, sagte er und machte eine Drohgebärde. Lucas versündige sich schwer an seiner Gattin und vor Gott. Was er einmal sich gegenseitig anvertraut, das soll der Mensch nicht scheiden. Ich würde mit einer Magd in Sünde leben, ohne das der Bund von Gott geheiligt sei. Wenn ich dieses Verhältnis nicht beende, werde etwas Schlimmes geschehen. Ich sprach mit meiner Sonia darüber. Sie sagte mir, es sei meine freie Entscheidung, ob ich an ihr festhalten wolle. Aber da kam die Pest, und es gab nichts mehr zu entscheiden. Wir sind mit euch, liebe Freunde, fortgegangen und haben es keinen Augenblick lang bereut. Gott schütze uns alle!«

Wie zur Bestätigung legte Sonia ihren Arm um seine Schultern und küsste ihn auf die Wange.

»Was für eine hübsche Geschichte!«, rief Eleonore aus. Alle klatschten in die Hände.

»Es ist ein Beispiel für die Grenzenlosigkeit der Liebe«, warf Francesco ein. »Mein Meister Botticelli hat Ähnliches erlebt. Nur, wie weit die Liebe bei ihm ging, konnte ich nie herausbekommen.«

»Auch mich hat diese Geschichte sehr berührt«, warf Angelina ein. »Nun würde ich gern deine hören, Sonia.«

Sonia wurde ein wenig rot und knetete ihre Hände im Schoß.

»Was gibt es über mich, eine Magd geringen Standes, schon zu erzählen?«, sagte sie mit leiser Stimme.

»Vor Gott ist keiner geringer als der andere«, entgegnete Angelina. »Und auch in unseren Augen nicht.«

»Also gut.« Sonia straffte ihren Oberkörper, ihre Augen blitzten, die Grübchen in ihren Wangen vertieften sich. »Ich wurde vor neunzehn Jahren auf einem Bauernhof im Mugello geboren. Das Leben hat mir nie etwas geschenkt. Von morgens früh bis Sonnenuntergang musste ich arbeiten. Während die feinen Herrschaften stolz in ihren geschmückten Wagen an mir vorbeifuhren, Feste in ihren Palästen feierten, von goldgerandeten Schüsseln aßen, an den |139|Springbrunnen saßen und plauderten oder auf der Laute spielten, lag ich abends auf meiner Strohmatratze und konnte nicht schlafen, so schmerzte mich der Rücken vom Steinesammeln, Rübenziehen, Melken und Käsemachen. Eines Tages erschien ein fein gekleideter Herr auf der Weide, wo ich meine Ziegen hütete. Er sagte mir, dass ich hübsch und zu etwas Besserem geboren sei als zu einem solchen Leben. Er kam jeden Tag, und jeden Tag wurde ich ein wenig weicher.« Sonia lachte verlegen, und ihre Augen suchten die von Lucas. »Schließlich ließ ich mich von ihm küssen, schließlich gab ich mich ihm hin im hohen, harten Gras am Waldrand. Dann kam er nicht mehr. Ich weinte mir die Augen aus, flehte Gott und die Welt an, dass er zurückkehren möge, jedoch verging Woche um Woche, ohne dass sich irgendetwas rührte. Mein Bauch begann sich zu runden. Die Eltern, die immer sehr auf meine Tugend geachtet hatten, waren außer sich. Mein Vater lief dunkelrot an. Wenn ich ihm den Namen nicht preisgeben würde, schlüge er mich windelweich! Ich sagte nichts. Er fand es aber doch heraus, denn das Ereignis war den Dorfbewohnern nicht verborgen geblieben. Und so ging er hin und erdolchte den Edelmann, als er während einer Jagd im Walde abgestiegen war und sein Pferd tränken wollte. Mein Vater wurde bald darauf enthauptet. Meine Mutter ertrug die Schande nicht, sie starb an gebrochenem Herzen.« Sonia sprach jetzt leiser, Angelina hatte Mühe, sie zu verstehen. »Ich aber ging in die Stadt, brachte mit Hilfe einer alten Vettel mein Kind auf die Welt und verkaufte Kleinigkeiten auf dem Markt. Meine kleine Perpita hatte ich meist bei mir. Eines Tages kam eine üppige, vornehme Dame auf mich zu, deren Schönheit noch lang nicht verblüht war. Sie schaute mir aufmerksam ins Gesicht.

›Du gefällst mir, meine Kleine‹, sagte sie. Ihr habt es schon richtig erraten: Es war Lukrezia Girondo, deine Mutter, Angelina. ›Ich brauche ein Dienstmädchen‹, fuhr die Frau fort. ›Willst du mir und meiner Familie dienen?‹ ›Aber was ist mit meinem Kind?‹, wollte ich wissen. ›Sie wird bei einer Schwester von mir untergebracht, die sich sehnlichst ein eigenes Kind wünscht. Es soll ihr an nichts |140|fehlen!‹ ›Warum tut Ihr das für uns?‹, fragte ich, innerlich zitternd, die Dame könnte es sich noch anders überlegen. ›Es ist so viel Unrecht geschehen in der letzten Zeit‹, gab Lukrezia zur Antwort, ›dass ein wenig Großmut nicht ausreichen wird, die Schuld zu tilgen, die andere auf sich geladen haben.‹ So kam ich in die Dienste dieser Familie.« Sie warf einen dankbaren Blick zu Angelina. »Aber auch ich erhielt Besuch von einem Fanciullo. Er fing mich in einem der Torbögen ab, da, wo der Schatten am tiefsten ist. ›Perpita ist ein Kind der Sünde!‹, zischte er mir zu. ›Sie wird nicht alt werden in dieser Welt der Verdammnis.‹ Ich aber verschloss meine Ohren vor diesen Drohungen, hatte von nun an ein Auge auf Perpita und beschwor Lukrezias Schwester, sie nicht aus den Augen zu lassen. Vollkommen wurde mein Glück, als ich Lucas im Gemüseladen begegnete, damals, als du, Angelina, zu Francesco gegangen bist, um dich malen zu lassen. Und nun sind wir hier und danken Gott für alle wundersamen Fügungen.«

Die anderen klatschten wieder in die Hände. Eleonore fragte, wo denn Perpita geblieben sei, ob sie die Kleine in Florenz zurückgelassen habe.

»Sie ist mit der Schwester in den Mugello gegangen«, antwortete Sonia. »Dort ist sie weit sicherer als bei mir. Niemand kennt ihren Aufenthaltsort.«

»Auch unseren Aufenthaltsort kannte niemand«, sagte Eleonore und wischte sich eine Träne aus dem Auge. »Und doch hat man uns aufgespürt und Matteo, meinen geliebten Gatten, von mir genommen.«

Sie weinte. Die anderen richteten teilnahmsvolle Worte an sie. »Es ist schon wieder gut«, meinte Eleonore. »Wir haben heute zwei sehr bewegende Geschichten gehört. Aber es ist spät geworden, meine Freunde.« Sie blickte zum Himmel, an dem Tausende von Sternen funkelten. Die Grillen hatten ihr Konzert eingestellt. Im nahen See konnte man die Fische springen hören, mit einem Platschen verschwanden sie im Wasser. Die kleine Gesellschaft erhob sich und begab sich zu Bett.

 

|141|Wieder stieg die Sonne als glühendrote Scheibe über den Horizont. Der See dampfte, das Schreien der Möwen und das Quarren der Haubentaucher klang herüber. Angelina verbrachte den Vormittag im Schatten der Bäume. Sie war erst spät eingeschlafen, weil die Erzählungen von Lucas und Sonia in ihr nachwirkten. Dass beide solche Erfahrungen machen mussten, hatte Angelina nicht gewusst. Der Giftmord an Matteo fiel ihr ein. Waren vielleicht auch Lucas und Sonia in Gefahr? Hatte Savonarola seine dürren Arme bis hierher ausgestreckt, um einen seiner Gegner zu beseitigen? Musste jeder sterben, der sich in irgendeiner Art versündigt hatte? Als wären sie ihren Gedanken entsprungen, kamen die beiden auf sie zu und setzten sich auf eine steinerne Bank ihr gegenüber.

»Eure Geschichten fand ich wunderschön«, sagte Angelina. »Doch macht ihr euch keine Sorgen, für eure vermeintlichen Sünden bestraft zu werden?«

Sonia runzelte die Stirn. Lucas Bandocci musterte sie ernst. Er strich sich über den kleinen, gepflegten Bart.

»Doch, ich mache mir Sorgen um meine Sonia, um uns alle, um mich selbst. Wir sind ja nicht einmal hier sicher, auch wenn wir uns weit von der Stadt Florenz befinden!«

»Lucas und ich haben uns geschworen, uns nie mehr als wenige Schritte voneinander zu entfernen«, setzte Sonia hinzu.

Angelina überlegte einen Augenblick lang.

»Wenn Savonarola uns seine Kinderbanden auf den Hals schickt, um uns für unsere Sünden zu bestrafen, dann müssen wir uns bewaffnen«, meinte sie. Bei dem Gedanken wurde ihr kalt. Eleonore kam durch den Garten auf sie zu. Sie hatte die letzten Worte Angelinas gehört.

»Ihr könnt euch jeder einen Dolch aus der Sammlung meines Mannes aussuchen«, sagte sie in belegtem Ton. »Er hat so ein Messer immer mit sich geführt, und die Sammlung war sein ganzer Stolz.« Eleonore wandte sich ab.

»Das wird das Beste sein«, erwiderte Lucas. »Wir werden heute |142|hinausgehen ins Dorf, um bei den Bewohnern nachzufragen, ob sich fremde Gestalten hier herumtreiben.«

»Ich werde euch begleiten«, erklärte Angelina. »Vielleicht hätte Francesco ebenfalls Lust auf einen Spaziergang?«

»Tut mir leid, ich habe Eleonore versprochen, ihr bei der Vorbereitung des Mittagessens zu helfen«, sagte Francesco.

So begaben sie sich ohne ihn hinaus auf den Weg ins Dorf. Die Hitze brütete über den Wiesen. Auf dem Dorfplatz saßen ein paar alte Männer im Schatten einer Kastanie. Lucas fragte: »Habt Ihr in der letzten Zeit fremde junge Männer oder Kinder hier gesehen? Sind vielleicht Bettelknaben durchgezogen?«

»Es kommen alleweil junge Menschen durch unser Dorf«, war die Antwort eines der Alten. »Die Zeiten sind schlecht. In vielen Städten herrscht die Pest. Wir haben nichts zu verlieren, aber Ihr solltet Euch hüten, zu weit von Eurem Haus fortzugehen. Der Tod lauert überall!«

»Habt Ihr jemanden gesehen, der sich in der Nähe unseres Hauses herumtrieb?«, wollte Angelina wissen.

»Ja, ich habe jemanden gesehen«, meldete sich ein anderer zu Wort. »An dem Abend, an dem Signor Matteo starb, schlich sich eine Gestalt von Eurem Haus weg. Ich habe es genau gesehen, weil meine Hütte so nah bei Euch liegt, dass ich immer sehen kann, wer ein- und ausgeht.«

Der Dorfbevölkerung blieb also nichts von dem verborgen, was sich bei ihnen zutrug. Angelina fand das einerseits tröstlich, andererseits beunruhigend. Und es stimmte mit dem überein, was sie von dem Fischer erfahren hatte.

»Wie sah sie aus?«, fragte sie aufgeregt.

Der Mann zuckte die Achseln. »Eine Frau war es jedenfalls nicht.«

»Wisst Ihr, wohin dieser Mann gegangen ist?«, fragte Lucas.

»Es war dunkel, ich wollte nur noch einmal nach den Hasen sehen. Weiß nicht genau, wohin, er ist auch nicht gegangen, sondern gerannt und dann eilig weggeritten. Möglicherweise nach Nordwesten, nach Siena hin.«

|143|»Hab ein Stück von hier auch ein fremdes Pferd gesehen, das war an einen Baum gebunden«, nickte ein dritter.

»Ich danke Euch für diese Auskunft«, entgegnete Lucas. »Wir werden künftig öfter zu Euch ins Dorf kommen, um bei Euch einzukaufen.«

Zuhause erwarteten sie Eleonore und Francesco mit dem Mittagessen. Später am Nachmittag trafen sie sich wieder im Garten, um die nächsten Geschichten anzuhören. Heute war Angelina an der Reihe. Sie schaute schnell zu Francesco hinüber. Er erwiderte aufmunternd ihren Blick.

»Ich weiß nicht so recht, wie ich beginnen soll«, hob Angelina an. »Mein Leben verlief immer in geordneten Bahnen. Geboren wurde ich auf dem Landgut, auf dem meine Eltern und Geschwister jetzt weilen.« Sie schluckte. »Alles Ungemach der Welt wurde stets von uns ferngehalten. Nie hat es uns an etwas gefehlt. Meine Geschwister und ich bekamen die kostbarsten Kleider, denn mein Vater war in Florenz mit dem Tuchhandel reich geworden. Er ließ Perlen aus Indien kommen, um uns damit zu schmücken, Datteln und Gewürze aus dem Orient, damit sich unsere Gaumen daran erfreuten. Meiner Mutter erfüllte er jeden Wunsch. Nur mit der Treue nahm er es nicht so genau.«

Angelina schluckte abermals. »Eines Abends ist irgendetwas geschehen, ich erinnere mich nicht mehr daran, aber von nun an war alles anders für mich. Ich weiß nicht genau, wann, ich war noch recht jung. Ich musste mich gegen Gott versündigt haben, denn ich wurde meines Lebens nicht mehr froh. Seitdem lag eine Last auf mir, eine Schuld, deren Ursprung ich mir nicht erklären kann. Was nützten all die schönen Speisen, die Kleider, das Gold und das Silber! Ich stand oft am Fenster, schaute den anderen Mädchen bei ihren Spielen zu. Oder ich ging traumverloren durch die Kastanienwälder, in denen der Kuckuck rief und der Waldmeister duftete. Nirgends fand ich Frieden, bis … bis eines Tages mein Vater einen Maler damit beauftrage, ein Porträt von mir anzufertigen. Schon in der ersten Stunde, die ich ihm Modell saß, merkte ich, dass |144|ich mich veränderte. Mein flatternder Sinn beruhigte sich, ich fühlte mich wieder mit der Erde verbunden, was zahlreiche Beichten bei den Priestern nicht erreicht hatten. Aber es sollte nicht lange währen.« Sie brach ab. »Weiter kann ich es nicht erzählen«, stieß sie hervor. »Vielleicht kannst du, Francesco, die Geschichte zu Ende bringen.«

Eleonore nickte, als hätte sie verstanden, was Angelina sagen wollte.

»Es ist eine hübsche, kleine, etwas traurige Geschichte, Angelina«, meinte sie. »Ich wünsche dir, dass du deinen Frieden findest. Vielleicht entdeckst du ja eines Tages, was damals vorgefallen ist.«

Die anderen nickten zustimmend und teilnahmsvoll.

»Und ich bin gespannt«, fuhr Eleonore fort, »ich glaube, wir sind alle gespannt zu hören, was Francesco zu erzählen hat.«

Eine Dienerin kam und brachte frisch gepresste Säfte in Kristallgläsern. Francesco lächelte, räusperte sich und begann zu erzählen.

»Wie ihr sicher alle wisst, wurde ich in Ognissanti, dem Lohgerberviertel von Florenz, geboren. Als Kind armer Leute war ich von früh an den Geruch und den Umgang mit Farben gewohnt. Aber ich wollte nicht so ein Leben führen wie meine Eltern und Geschwister! Sie waren früh verbraucht von der Arbeit. In unserer Nachbarschaft, in der Via Nuova, wohnte Amerigo Vespucci, der Navigator. Er war sehr nett zu mir und hat mir immer seine alten Papiere zum Zeichnen überlassen. Lorenzo de’ Medici schickte ihn später als Schiffsausrüster nach Spanien, wo er Kolumbus half, die Schiffe für seine Reisen auszurüsten, um den Seeweg nach Indien zu finden. Er hat mir etwas ins Herz gepflanzt, das mein ganzes weiteres Leben bestimmen sollte: Wir müssen weitergehen in unserem Leben, nicht verharren an der Stelle, an die uns Gott gestellt hat. Der Auftrag des Menschen ist, das zu entwickeln, was er als Samen in uns angelegt hat.

So fügte es das Schicksal, dass Sandro Botticelli die Werkstatt in der Via Nuova im Haus seines verstorbenen Vaters bezog und schon bald zum Hofmaler der Medici aufstieg. Ich zeigte ihm die |145|Skizzen, die ich heimlich nachts angefertigt hatte. Und er nahm mich in die Lehre! Anfangs durfte ich ihm die Leinwand grundieren, die Farben anrühren und weniger schwierige Handreichungen machen. Er hat mir gezeigt, wo man die besten Pigmente bekommt. Später ließ er mich eigenständig Porträts von Bürgern und Bürgerinnen der Stadt anfertigen.«

Wie bei mir, dachte Angelina. Das war für ihn eine alltägliche Arbeit.

»Ich hatte Gelegenheit«, fuhr Francesco fort, »die ganze illustre Gesellschaft kennenzulernen. Aber das war vorbei, als Savonarola als Prior von San Marco eingesetzt wurde. Botticelli wurde stark von ihm beeinflusst. Er malte nur noch religiöse Themen. Und auch ich konnte mich dem Einfluss dieses stimmgewaltigen Mönches nicht entziehen. Hat er nicht recht mit vielen Dingen? Immerhin zählt er zu den unbestechlichsten, wahrhaftigsten und bedingungslosesten Menschen, die Florenz jemals erlebt hat. Keiner hat wie er für die Armen der Stadt gesorgt! Als jedoch Savonarola in seinen Reden immer gewalttätiger wurde, als er sich immer mehr dem Papst entgegenstellte, bekam ich Bedenken. Botticelli und ich sprachen häufig über diese Angelegenheit. Ich warf ihm vor, dass er seine Kunst, die ich immer noch anbete und die jedermann in Entzücken versetzt, in den Dienst dieses Klerikalen stelle und damit sich selbst und sein wahres Wesen verleugne. Er gab zurück, dass der Gottesstaat das einzige sei, für das zu malen er berufen sei. So gab oft ein Wort das andere. Bis eine Frau in mein Leben trat.«

Angelina hielt den Atem an. Francescos Blick wandte sich zu den Bergen, die im fernen Mittagsglast verschwammen. Angelina schaute zu Eleonore hinüber. Sie starrte Francesco mit einem Ausdruck in den Augen an, den Angelina nicht zu deuten wusste. Es krampfte ihr schmerzhaft die Brust zusammen. Liebte sie diesen Maler? War es die Begegnung mit der Gräfin Eleonore Scroffa gewesen, seiner Cousine, die sein Leben ein zweites Mal verändert hatte? Angelina saß, unfähig, sich zu rühren, und hörte der Fortsetzung von Francescos Lebensgeschichte zu.

|146|»Diese Frau«, seine Augen streiften Angelina mit einem Seitenblick, in dem viel Wärme lag, »änderte mein Leben ein zweites Mal von Grund auf. Nie habe ich so viel Nähe und Verwandtschaft zu einem Menschen verspürt, schon gar nicht zu einer Frau. Ich will es euch nicht verschweigen, liebe Freunde und Freundinnen, dass ich einige Liebschaften hatte, sowohl mit Damen des Hofes als auch mit Mädchen von der Straße. Aber das bedeutete mir nichts. Meine Kunst soll von jetzt an nur noch der Liebe dienen, der Liebe zwischen Mann und Frau und der zwischen den Menschen.« Angelina fühlte sich wie erlöst. Endlich hatte er sich offenbart, und wie zärtlich er das getan hatte!

»Nur einmal habe ich eine schwere Sünde auf mich geladen«, fügte Francesco an. Er fuhr mit den Fingern durch sein sandfarbenes Haar. Angelina hielt den Atem an. Francesco lächelte.

»Ich liebte eine verheiratete Frau.«

Angelina ballte die Fäuste, um nicht aufzustöhnen.

Eleonore trat mit ausgebreiteten Armen auf Francesco zu und zog ihn an sich. »So etwas kommt vor«, sagte sie verschwörerisch. Angelina hätte im Boden versinken mögen vor Scham und Wut. Eine Windböe strich durch den Garten, ließ die Blätter der Linde erzittern, kühlte ihre Stirn. Sie schloss die Augen. Nur keine Gefühle zeigen. Nicht jetzt. Nie mehr.

Eleonore löste sich von Francesco und stellte sich in die Mitte des Kreises, den sie gebildet hatten, strich sich das blonde Haar aus der bleichen Stirn und begann mit ihrer Erzählung.

»Ich wurde im Jahre 1472 auf einem Gut des Mugello geboren«, sagte sie. »Mein Vater war ein wohlhabender Landbesitzer, der vom Handel mit Wein und ländlichen Gütern lebte. Wir hatten ein sorgenfreies Leben. Wie meine beiden Schwestern erlernte ich das Lautenspiel, las lateinische und griechische Gedichte und gab mich die meiste Zeit meines Daseins dem süßen Nichtstun hin. Wie hätte ich es auch anders wissen sollen? Ich kannte nur diese eine Welt, und das war die des Reichtums und der Schönheit. Als ich heranwuchs, kamen viele Freier zu meinen Eltern, die um meine Hand |147|anhielten, aber keiner war ihnen gut genug. Mir selbst hätte der eine oder andere schon gefallen, aber ich hatte gelernt, den Eltern zu gehorchen.«

Das ist nicht immer das Beste, was man tun kann, dachte Angelina immer noch aufgewühlt, doch sie schwieg still und zwang sich, weiter zuzuhören.

»Eines Tages kam der Graf Scroffa aus Grassina zu Besuch. Er war ein stattlicher Mann, mit wertvollen Kleidern angetan. Es wurde alles herbeigebracht, was Küche und Keller boten, es wurde gekocht, gebraten, gebacken und gesotten. Damals herrschten noch die Medici in Florenz, man musste sich nicht so vorsehen, seinen Reichtum zur Schau zu tragen, wie später unter Savonarola. Da gab es gebratene Milchzicklein, Brotsuppe mit Zwiebeln, Kalbsleber, Trippa und Lampredotto, Kutteln mit grüner Kräutersauce, gefüllte Pilze, geröstete Goldbrassen, Birnen in Barolosauce – ach, ich will euch nicht langweilen mit der Aufzählung all dessen, was mein Vater für den seltenen Gast bereitstellte. Den Grund dafür erfuhr ich noch am selben Abend: Graf Scroffa war als künftiger Gemahl für mich ausersehen worden. Und ich wäre töricht gewesen, hätte ich das Angebot ausgeschlagen. Er war nur zehn Jahre älter als ich und im vollen Besitz seiner Manneskräfte. Seine Sitten waren ausgezeichnet, er hatte eine humanistische Ausbildung an der Universität von Padua genossen. Und so, im Vertrauen auf das Urteil meiner Eltern, willigte ich in die Verlobung ein, die noch am selben Abend stattfand. Kurz darauf wurde die Hochzeit gefeiert, mit allem Prunk, der sich für so eine Gelegenheit ziemt. Und ich habe diesen Entschluss nie bereut.«

Eleonore seufzte, schwankte einen Augenblick lang, fing sich aber wieder und fuhr mit ihrer Erzählung fort.

»Wir zogen in den Stadtpalast des Grafen, wo ich dem Haus mit einer ansehnlichen Dienerschaft vorstand. Die Nächte waren erfüllt von unserer Liebe; an den Tagen hatte ich alle Hände voll zu tun, um dieses gastliche Heim am Leben und Blühen zu halten. Innerhalb der nächsten beiden Jahre wurden uns zwei Kinder |148|geboren, Lisetta und Giacomo, die ihr alle kennt und die hier bei uns sind.«

Wieder strich eine Windböe durch den Garten. Angelina sah, dass sich der Horizont über den Seebergen schwefelgelb verfärbt hatte.

»Mit der Zeit stellte ich fest, dass die Menschen, die bei uns verkehrten, eine seltsame Mission zu verfolgen schienen. Immer häufiger fanden Treffen in einem Hinterstübchen des Palastes statt. Wenn ich an der offenen Tür vorüberging, während die Bediensteten Wein und Speisen brachten, hörte ich Wortfetzen wie ›Savonarolas Stern ist am Untergehen‹ oder ›Wir werden dafür sorgen, dass …‹ Eines Tages stellte ich meinen Mann zur Rede. ›Bist du an Machenschaften zum Sturz dieses Mönches beteiligt?‹, fragte ich ihn geradeheraus. Und er gab es unumwunden zu.

Das Feuer im Februar dieses Jahres, dieses Fegefeuer der Eitelkeiten, das der verrückte Mönch veranstaltet hat, in dem auch viele wertvolle Dinge von uns verbrannt worden waren, habe ihn dazu verleitet, sich mit anderen, ähnlich Denkenden zusammenzuschließen. ›Aber das ist doch sehr gefährlich‹, meinte ich. ›Denkst du nicht an mich und die Kinder?‹ ›Gerade, weil ich euch so sehr liebe und an euch denke, muss ich so handeln!‹, war seine Antwort. In der nächsten Zeit war er immer seltener zu Hause. Ich glaube, sie haben sich in einer Wirtschaft getroffen, um weniger aufzufallen, vielleicht als Bauern oder Handwerker verkleidet. Auf jeden Fall fühlte ich mich sehr einsam. Wenn mein Mann spätabends heimkehrte und leise zu mir ins Bett stieg, roch er nach Wein und manchmal auch nach einem Parfüm. Ich hatte das Gefühl, allmählich zu vertrocknen.«

Eleonore holte tief Luft.

»So geschah es, dass ich mich von der Werbung eines Mannes einwickeln ließ und mich in ihn verliebte.«

Ich habe es gewusst, dachte Angelina, ich habe es die ganze Zeit gewusst!

Wie dumm war sie gewesen. Der Garten, die Wälder, die Reben, |149|der See, alles verdunkelte sich in diesem Augenblick. Und wirklich waren schwarze Wolken über das Wasser gezogen und bedeckten den Himmel fast ganz. Wie traumverloren stand Angelina auf, schritt durch den Garten, der Rufe nicht achtend, die sie zurückhalten wollten, auf den Weg, der zum See führte. An diesem Abend, im Mittsommer des Jahres 1497, war ihr Leben zu Ende gegangen, war zersprungen wie eine irdene Schüssel, die ein achtloses Dienstmädchen fallen ließ.