In derselben Nacht stieg Francescos Fieber. Er warf sich unruhig hin und her, stöhnte und phantasierte offensichtlich. Im Haus war es unerträglich schwül. Angelina saß an seinem Bett, flößte ihm immer wieder mit Wasser verdünnten Wein ein oder legte ein nasses Tuch auf seine Stirn. Sie wagte nicht, das Fenster zu öffnen, vielleicht würde die Pest dann durch die Luft hereinkommen. Zwischendurch fiel Francesco in einen tiefen Schlaf, und sein Atem wurde gleichmäßiger.
Die Öllampe auf dem Tisch war fast heruntergebrannt. Angelina goss aus einem Krug Olivenöl nach und legte einen neuen Wollfaden als Docht in die Schnauze. Sie hatte sich noch nie so elend gefühlt, aber gleichzeitig auch noch nie Francesco so nah. Leise sprach sie ein Gebet: Herr, errette uns aus dieser Lage! Heilige Jungfrau Maria, mach, dass er wieder gesund wird!
Sie nahm das nasse Tuch von Francescos Stirn und ging hinunter in die Küche, um es in einen Zuber mit Wasser zu tauchen. Morgen würde der Bader wiederkommen, um die Verbände zu erneuern. Angelina goss etwas Wasser in eine Schüssel, trug sie nach oben. Francescos Körper war schweißbedeckt, Fliegen umsurrten ihn. In einer Truhe fand sie weitere saubere Tücher, feuchtete sie an und umwickelte Francescos Beine damit. Das hatte ihre Mutter bei ihr gemacht, als sie klein war und hohes Fieber hatte. Was für einen kräftigen, schlanken Körper Francesco hatte!
Die Augen fielen ihr fast zu, alle Glieder schmerzten. Sie löschte die Lampe, sank auf einen Teppich neben Francescos Bett und schlief auf der Stelle ein. Am Morgen erhob sie sich mit steifen Gelenken. Sie hatte geträumt, der Pestarzt sei gekommen, um Francesco zu holen. Angelina betrachtete den Kranken. Ein Geruch |84|nach Eiter stieg ihr in die Nase. Francescos Wunden mussten sich entzündet haben. Sie verscheuchte die Fliegen, aber sie kamen immer wieder zurück und setzten sich auf die Verbände, die mit Blut verkrustet waren. Francesco schlug die Augen auf.
»Heute Nacht habe ich geträumt, ein Engel stehe an meinem Bett«, sagte er mit schwacher Stimme. »Und als ich wach wurde, sah ich, dass es kein Traum war.«
Sie nahm seine Hand, die sich heiß und trocken anfühlte. Die Glocken von Santa Maria Novella schlugen acht Mal, andere Glocken antworteten ihnen.
»Ich habe nicht von einem Engel geträumt, Francesco«, sagte Angelina und schaute ihm in die Augen. »Aber ich möchte, dass Ihr wieder gesund werdet. Bald wird der Bader kommen, er hat es versprochen.«
Francesco verzog unwillig den Mund.
»Er wird mich sicher wieder schröpfen und zur Ader lassen«, meinte er heiser. »Aber davon ist das Fieber nicht weniger geworden.«
Angelina sah, dass seine Haut in der Hitze, die schon am frühen Morgen wieder im Raum stand, förmlich glühte. Sie drückte seine Hand noch einmal und ließ sie dann los.
»Ich werde frische Tücher bringen«, sagte sie, »und schauen, was an Essen im Hause ist.«
In der Küche entdeckte sie eine Art Nische, die mit einem Vorhang aus Nesselstoff abgedeckt war. Viele Vorräte waren es nicht, die auf den Regalbrettern standen. Ein kleiner Sack Mehl, ein Korb mit Eiern, je ein Krug Lein- und Olivenöl und ein großes Stück Speck. Mit Zunder und Feuerstein fachte Angelina ein Feuer im Herd an, nahm eine Eisenpfanne vom Haken, goss Olivenöl hinein und stellte sie auf das Feuer. Auf einem Brett schnitt sie Scheiben vom Speck und gab sie in die Pfanne. Sofort verbreitete sich ein köstlicher Duft. Zwei Eier kochte sie in einem Topf Wasser weich, vielleicht hatte Francesco ja keinen Appetit auf Fettes.
»Das riecht aber verlockend«, sagte er, als sie die Schüssel mit |85|Speck und geschälten Eiern vor ihn hinstellte. »Aber ich werde nur ein Ei nehmen.«
Angelina half ihm, sich im Bett aufzurichten. Er löffelte vorsichtig ein Ei, während Angelina an einer Speckscheibe knabberte. Ein Geräusch von der Tür her ließ sie zusammenfahren. Eine Gestalt schob sich ins Zimmer hinein. Angelina glaubte ihren Augen nicht zu trauen. Der Mann trug eine Pestarztmaske!
»Das ist gut, dass Ihr ein Frühmahl zu Euch nehmt«, sagte der Mann, und seine Stimme entpuppte sich als die des Baders. »Dann geht es Euch wohl besser, Signor Rosso?«
»Ja, es geht mir etwas besser«, antwortete Francesco. Der Bader nahm die Maske ab.
»War heute Nacht bei den Pestkranken«, knurrte er. »Konnte nicht helfen. Die gelehrten Doktoren drücken sich um diese Aufgabe, die bleibt uns Badern, Wundärzten und Barbieren überlassen. Ihr scheint bisher verschont geblieben zu sein.«
In seinen Zügen lag ein hungriger Ausdruck. Angelina schob ihm den Teller mit dem Speck und dem Ei hin. Ehe sie es sich versah, hatte der Bader alles aufgegessen. Sein eisengrauer Bart war mit Eigelb verklebt.
»Das kommt mir recht für meine Arbeit«, sagte der Bader und stellte die Schüssel auf den Tisch. »Und es wäre mir auch recht, wenn Ihr mir das Verbandszeug, die Salbe, das Schröpfen und Aderlassen zahlen würdet.«
Francesco gab Angelina einen Wink mit den Augen.
»In der Truhe ist ein Lederbeutel mit Gold- und Silberflorins«, wisperte er. Angelina holte den Beutel und gab dem Bader einen der Golddukaten.
»Dann werde ich jetzt die Verbände wechseln«, meinte er und machte sich ans Werk. Ein intensiver Geruch nach Schweiß und Eiter schlug Angelina entgegen, als der Bader die verschmutzten Verbände von Armen, Beinen, Kopf und Brust wickelte.
»Ihr müsst schauen, dass Ihr die Fliegen von ihm fernhaltet«, wies er sie an. Er säuberte die Wunden, rieb sie vorsichtig mit Salbe |86|ein und verband Francesco erneut, wobei ihm Angelina zur Hand ging. Dann rieb der Bader seine Hände mit Essig ab und empfahl Angelina, das Gleiche zu tun.
»Überhaupt solltet Ihr überall Tücher mit Essig aufhängen«, sprach er weiter. »Und eines vor Nase und Mund binden, falls Ihr hinausgeht. Aber davon würde ich Euch gänzlich abraten.«
Nachdem er versprochen hatte, am folgenden Tag wiederzukommen und gegangen war, schlief Francesco schon wieder. Angelina suchte im ganzen Haus nach Essig und wurde schließlich im Keller fündig. Dort stand ein Krug, zusammen mit einem Fass Wein. Da das Wasser in der Küche bald nicht mehr zu genießen war, hatten sie wenigstens etwas zum Trinken.
Angelina traute sich nicht mehr aus dem Haus, nach dem, was der Bader gesagt hatte. Heiß und dumpf verging der Tag. Francescos Zustand hatte sich wieder verschlechtert. Beim Versorgen seiner Wunden bemerkte sie, dass sein Lendenschurz verrutscht war, und zuckte zusammen, als sie sein gerötetes, geschwollenes Glied sah. Wie gern hätte sie mit ihren Fingern darübergestrichen, wenn es ihm nur Linderung gebracht hätte! Aber sie wagte es nicht. Wenn Gott und die Heilige Jungfrau nur ihre Gebete erhörten! Francesco schien bewusstlos zu sein, seine Brust hob und senkte sich kaum merklich.
Angelina fühlte sich grenzenlos allein. Wenn er nun sterben würde? Hatte nicht Lucas gesagt, Francescos Base Eleonore habe einen Boten hinter Botticelli hergeschickt? Wie lange konnte es dauern, bis er ihn erreichte? Um sich zu beschäftigen, buk sie aus Wein und Mehl Fladenbrote, damit sie weiterhin zu essen hatten. Eine weitere unruhige Nacht verging. Am nächsten Vormittag tauchte der Bader nicht auf, auch am folgenden nicht. Angelinas Verzweiflung wuchs. In den wenigen wachen Augenblicken flößte sie Francesco Wein ein, fütterte ihn mit weich gekochtem Ei.
In der fünften Nacht schreckte sie abermals empor. Sie hatte das Gefühl, dass jemand ins Haus gekommen wäre. Eine Tür klappte, Angelina meinte, schlurfende Schritte zu hören. Sie richtete sich auf |87|und schlich die Treppe hinunter. Aus der Küche kamen ihr zwei schemenhafte Gestalten entgegen, drängten sie zur Seite und rannten zur Tür. Im Dunkeln suchte sie nach einer Lampe, holte schließlich die von oben und sah, was die Unbekannten angerichtet hatten. Sämtliche Vorräte aus der Küche waren gestohlen. Wahrscheinlich hatten sie auch noch die Pest im Leib gehabt!
Vor Erschöpfung begann sie zu zittern. Langsam schleppte sie sich die Treppe zu Francescos Zimmer hinauf. Der Bader würde nie mehr kommen, die Pest hatte ihn dahingerafft. Niemand auf der Welt würde ihnen helfen. Sie würden beide sterben, wenn nicht an der Seuche, dann am Hunger. Aber sie, Angelina, würde diesen Weg zusammen mit Francesco gehen.
Als sie ihm, in einer wachen Stunde, wieder ein wenig Wein einflößte, hob er einen Arm, um nach ihrer Hand zu greifen. Sie stellte den Weinkrug auf den Boden, nahm seine Hand und schmiegte sie an ihre Wange. Doch sie hatte etwas gesehen, was sie sehr erschreckte. Unter dem Arm, vom Verband nur notdürftig verdeckt, hatte sich eine Beule gebildet. Angelina wusste, was das bedeutete.
Sie war verzweifelt über Francescos Zustand. Seine Lippen waren aufgesprungen und verschorft. Wie gern hätte sie ihn einmal geküsst, nur ein wenig! Doch sie ließ sich nichts anmerken. Hier, ganz allein mit ihm in einem leeren Haus, erwarteten sie den Tod.
Als Angelina noch einmal seine Verbände erneuerte, sah sie, dass sie sich getäuscht hatte. Es waren keine Beulen, sondern Eiterblasen, die von den Verletzungen herrührten, die er davongetragen hatte. Sie war so erleichtert, dass sie zu weinen anfing. Er würde leben! Sie durfte nicht aufgeben, sie musste ihn gesundpflegen. Woher in aller Welt sollte sie Nahrung herbeischaffen?
Es war mitten in der Nacht, es würde gewiss kein Laden offen haben, selbst wenn sie das Wagnis einging, nach draußen zu gehen. Da fiel ihr etwas ein, es war so naheliegend, dass sie sich an den Kopf schlug, weil sie nicht früher darauf gekommen war. Lucas Bandocci hatte beim Abschied gesagt, er wolle noch ein paar Sachen holen. Ob er den Laden fest verschlossen hatte? Möglicherweise war sein |88|Gemüselager nicht geplündert worden. Sie würde sich doch kaum einer Gefahr aussetzen, wenn sie rasch hinüberging und versuchte, in das Haus hineinzukommen. Lucas würde ihr das schon verzeihen.
Sie warf einen letzten Blick auf Francesco, der weiterhin ruhig schlief, nahm die Öllampe und stieg die Treppe hinunter. Die Tür zog sie vorsichtig hinter sich zu. Vom Arno her kam ein kühles Lüftchen. Tief sog sie die Nachtluft ein. In der Gasse war alles still. Der Mond beschien die Fassaden der Häuser, und es wirkte so, als sei nie etwas geschehen. Sie schaute sich nach allen Seiten um und huschte über die Straße. Die Tür zu Bandoccis Laden war mit Brettern vernagelt gewesen, die jetzt herabgerissen waren. Vorsichtig stieg Angelina über den Holzhaufen. Der Laden bot ein Bild der Verwüstung: Körbe, Regale und Säcke lagen auf dem Boden verstreut. Wohin Angelina auch leuchtete, sie fand nichts Essbares mehr. Von draußen hörte sie den Gesang der Fanciulli, der schnell näher kam. Sie löschte das Licht und kauerte sich in eine Ecke des Raumes. Genau vor dem Laden machten die Fanciulli Halt, der Gesang verstummte. Ein Junge mit einer Fackel in der Hand erschien und leuchtete in den Laden hinein. Angelina schwitzte vor Angst, entdeckt zu werden. Wahrscheinlich würde sie dann Francesco nie wiedersehen.
»Hier gibt’s nichts mehr zu holen«, sagte der Junge und zog sich zurück. Die Fanciulli stimmten ihren Gesang wieder an und zogen weiter. Angelina hätte vor Erleichterung fast gelacht und sich damit möglicherweise verraten. Sie erinnerte sich an das Hinterstübchen, in das Lucas schon einmal verschwunden war. Im Dunkeln tastete sie sich voran, ereichte die Tür und öffnete sie. Es war ein kleiner Raum mit Tisch und Bett, so viel konnte sie im hereinfallenden Mondlicht erkennen. Sie ging auf die Knie und schaute unter das Bett. Da lag tatsächlich etwas, in Sackleinen eingeschlagen. Sie zog es hervor. Und hätte vor Freude jubeln können: Es war eine Art Notvorrat, getrocknete Saubohnen, Knoblauchzwiebeln, Nüsse, gelbe Bohnen und eine ganze geräucherte Wurst. Sie nahm das Bündel an sich und schlich wieder in Botticellis Haus zurück. Angelina |89|legte das Gefundene in der Küche ab und lief nach oben, um nach Francesco zu sehen. Er saß aufrecht im Bett.
»Ich bin schon länger wach«, sagte er. »Und Ihr wart nicht da. Ich habe mir Sorgen gemacht!«
Angelina lief auf ihn zu und küsste ihn auf die Stirn.
»Ich habe etwas zu essen besorgt«, sagte sie stolz.
»Ihr wisst gar nicht, was für einen Hunger ich habe«, versetzte Francesco. »Mein Magen knurrt wie ein Bär, der eine Honigwabe entdeckt hat!«
Angelina beeilte sich, in die Küche zu gelangen, wo sie einen Topf mit Wein, Bohnen, Knoblauch und Stücken von der Wurst aufsetzte. Der Duft, der sich im Haus ausbreitete, entzückte Angelina, und sie wusste, dass es der Beginn eines neuen Lebens war. Sie brachte den dampfenden Topf mitsamt einer Schüssel und zwei Silberlöffeln nach oben. Als sie Francescos Zimmer betrat, saß er auf dem Bettrand und lachte ihr entgegen.
Als Nachtisch aßen sie die Nüsse. Nach einem kurzen, erquickenden Schlaf zog der Tag herauf. Im Laufe dieses Tages erholte sich Francesco immer mehr, wenn ihm auch die überstandenen Qualen deutlich anzusehen waren.
Am Abend hörte Angelina jemanden unten an die Tür klopfen, und dann ertönte eine wohlbekannte Stimme:
»Ist jemand zu Hause oder hat Euch alle die Pest geholt?«
»Botticelli!«
Erleichtert eilte sie die Stufen hinunter. Umso größer war ihre Freude, als sie hinter Botticelli auch Lucas das Haus betreten sah. Die beiden waren noch vor der Stadt aufeinandergetroffen.
»Kommt herein, Signor Bandocci!«
Die Männer folgten ihr die Treppe herauf zu Francescos Lager.
»Francesco!« Botticelli war ehrlich entsetzt, seinen Schüler so zu sehen. Er drückte seine Hände. »Ich wünschte, Eure Nachricht hätte mich eher erreicht!«
»Du siehst schon viel besser aus«, meinte Lucas. »Hat man die Übeltäter schon gefasst?«
|90|»Nein«, erwiderte Francesco und verzog seinen Mund zu einer schmerzlichen Grimasse. »Und ich glaube auch nicht, dass sie jemals gefasst werden. Sie tun es im Namen Gottes und sind daher im Recht.«
»Das sind sie nicht!«, fuhr Angelina auf. »Nichts rechtfertigt ein solches Handeln!«
»Manchmal schlagen sie über die Stränge«, unterbrach Botticelli sie. »Aber im Grunde sind sie im Recht, nämlich auf der Seite Gottes. Nichts rechtfertigt die sündige Lebensweise von so vielen Bürgern in dieser Stadt!«
»Das haben mir meine Peiniger auch gesagt«, warf Francesco bitter ein. »Bei jedem Schlag, den sie mir verpassten, riefen sie: ›Das ist für deine sündigen Gedanken‹, und ›das für deine sündigen Taten‹ und ›das für deine Malerei‹.«
»Ich hatte das Bild in einen Nebenraum gebracht, bevor ich fuhr«, sagte Botticelli. »Und es mit dicken Tüchern verhängt. Niemand soll ein solches Bild in meiner Werkstatt finden!«
»Warum hast du es dann nicht gleich vernichtet?«, gab Francesco zurück.
»Das verbietet mir mein Künstlerherz. Und außerdem bist du mein Freund«, war die Antwort des Malers.
»Wir müssen noch heute von hier verschwinden«, gab Lucas Bandocci zu bedenken. »Wisst ihr, wie die Stadt aussieht? Sie ist leergefegt! Alle sind geflohen oder tot. Nur Savonarolas Leute treiben sich hier noch herum. Niemand darf das Bild von Francesco finden.«
»Also müssen wir es mitnehmen«, folgerte Angelina. Sie dachte an die Fanciulli, die sie um ein Haar entdeckt hätten.
»Ja, meinetwegen«, gab Lucas zurück. »Ich habe den Wagen mit den zwei Pferden angeschirrt und habe auch einen Lastesel dabei. Meine Waren werde ich hier nicht verfaulen lassen, sondern sie ebenfalls mitnehmen, wohin, sage ich lieber nicht, da die Wände hier Ohren zu haben scheinen.«
»Signor Bandocci …«, begann Angelina.
»Es tut mir leid, Euch sagen zu müssen, das Eure Waren sämtlich geplündert sind. Auch wir wurden bestohlen.«
»Jesus, Maria«, entfuhr es Bandocci. »Wovon habt Ihr dann gelebt?«
»Ich habe im Nebenraum Eures Ladens getrocknetes Gemüse, Nüsse und Wurst entdeckt«, sagte sie mit etwas belegter Stimme. Mit dem, was sonst noch geschehen war, wollte sie die beiden Männer gar nicht behelligen. »Aber wir werden es selbstredend bezahlen.«
»Das kommt gar nicht in Frage«, entgegnete Bandocci. »Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich nicht zurück auf das Landgut gefahren! Gott sei Dank habt Ihr unsere Notvorräte gefunden.«
Das, was sie zusammen mit Francesco erlebt hatte, erschien Angelina schon jetzt wie ein Traum.
»Gott sei es gedankt, dass Ihr so klug gehandelt habt«, sagte Botticelli anerkennend. »Aber jetzt wird es Zeit, das wir hier fortkommen.«
Bevor sie abfuhren, verschloss der Maler sorgfältig seine Werkstatt. Mit Wehmut blickte er zurück, als sie zum Wagen gingen. »Solange der schwarze Tod in der Stadt wütet, wird hier niemand mehr arbeiten«, verkündete er.
Unterwegs kaufte Botticelli noch einige Lebensmittel ein. Sie beluden den Wagen mit Säcken und Körben, und Angelina setzte sich hinten zu den Waren, die beiden anderen nach vorn auf den Kutschbock. Francesco wurde auf eine Decke gebettet, ein Kissen stützte seinen Kopf. Während sie das bebaute Gebiet verließen und sich dem Fluss näherten, folgten ihnen die Klagen der Angehörigen von Sterbenden. Wenig später war die kleine Schar wieder auf dem Weg nach Grassina. Im Schutz der Dämmerung hatten sie die Stadt verlassen.
Das Zirpen der Grillen wirkte beruhigend auf Angelina. Ab und zu schwirrte eine Fledermaus an ihnen vorüber. Sie horchte auf den Atem Francescos; er war bald nach ihrer Abreise eingeschlafen. |92|Spät in der Nacht erreichten sie das Anwesen der Scroffas. Die Bediensteten waren schon zu Bett gegangen, aber das Ehepaar Scroffa wachte noch und wartete auf die Gäste. Zwei schnell geweckte Diener trugen Francesco hinauf in eines der Zimmer. Angelina überzeugte sich davon, dass er gut versorgt wurde. Todmüde ging sie schließlich schlafen. Wie gut das Bett duftete! Wie weich es war und wie sauber!
In den nächsten Tagen wich Angelina kaum von Francescos Seite. Sie legte ihm weiterhin Verbände mit zerdrückter Schafgarbe an und brachte ihm die besten Bissen von der Tafel. Bald waren die Wunden vollständig vernarbt, die blauen und grünen Flecken hatten sich zurückgebildet. Er konnte bereits kleinere Spaziergänge machen und an den gemeinsamen Mahlzeiten teilnehmen.
Es wurde immer heißer. An jedem Morgen stieg die Sonne höher über die Weinberge und Wälder. Gegen Mittag bildeten sich Quellwolken, die sich allmählich verdunkelten und den ganzen Himmel verfinsterten. Am frühen Abend gingen heftige Gewitter nieder, doch der folgende Tag begann jeweils so klar und schön wie der vorige.
An einem Mittag, kurz nach dem Essen, versammelte Matteo seine Familie und Gäste um sich. Sie saßen im Garten unter dem Lindenbaum, der seine Blüten schon abzuwerfen begann. Bienen summten in den Blumenbeeten. Bisher hatten die anderen nicht von dem Überfall auf Francesco gesprochen, um ihn zu schonen. Nun aber ergriff Matteo das Wort.
»Was ist eigentlich genau geschehen an diesem Abend, Francesco?«, fragte er.
»Ich kam von der Abendandacht im Dom«, erwiderte der Maler. »Es war schon dämmerig. Plötzlich standen einige Burschen wie aus dem Nichts vor mir und bedrohten mich mit Worten.«
»Was sagten sie?«, wollte Eleonore wissen.
»Sie beschimpften mich als Diener des Teufels, weil ich solche schmutzigen Bilder male. Ich erwiderte, dass meine Bilder jederzeit |93|den Blicken der Öffentlichkeit standhalten könnten. Und überhaupt ginge sie das nichts an.«
Botticelli schnaufte, sein dicker rötlicher Schnurrbart zitterte.
»Wer hat sich erdreistet, einen Maler meiner Werkstatt so übel zu verleumden? Das fällt auf mich zurück! Meine Werkstatt stellt ausschließlich gottgefällige Werke her!«
Savonarola-gefällige, dachte Angelina, doch sie sprach es nicht aus.
»Sandro, du widersprichst dir selbst«, warf Francesco ein. »Vorher hast du noch behauptet, die Fanciulli seien im Recht.«
»Wer sagt denn, dass es Fanciulli waren?«, gab Botticelli zurück.
»Offensichtlich hatte jemand beobachtet, dass Angelina mir Modell steht«, fuhr er fort. »Ich glaube fest, dass es Fanciulli waren, die ihre Aufgabe ein wenig zu ernst nahmen.«
»Ein wenig zu ernst?«, fiel Lucas ein. »Francesco, du untertreibst fürchterlich. Sie hätten dich totschlagen können!«
Francesco zuckte mit den Schultern.
»Ja, du hast recht. Vielleicht waren es auch keine Fanciulli, die sind nicht als gewalttätig bekannt.«
»Es geht auf jeden Fall jemand um, der bestimmten Menschen nach dem Leben trachtet«, meinte Matteo. »Wer war bei dem Fest Eures Vaters anwesend, Angelina?«
Sie überlegte einen Augenblick lang.
»Meine Eltern und Geschwister, Francesco, Signor Tomasio, Signor Fredi, mein zukünftiger Gatte, die Diener und die übrigen Gäste, die ich nicht alle kannte.«
»Dann könnte es also jeder von ihnen gewesen sein, der Signor Fredi umbrachte?«
»Ja, so ist es«, erwiderte sie. »Doch halt … kurz bevor der Mord geschah, hämmerte eine Schar von Fanciulli an die Tür. Alle Gäste liefen dorthin, um zu sehen, was geschah.«
»Wirklich alle?«, fragte Matteo nach. »Wo war Fredi, als er gefunden wurde?«
»Hinten im Garten, neben dem Brunnen.«
|94|»Es könnte sich also einer von den Fanciulli hereingeschlichen haben?«
»Schon möglich«, erwiderte Angelina. »Aber warum hätte er ihn töten sollen?«
Matteo wechselte einen raschen Blick mit seiner Frau.
»Signor Fredi war bekannt als jemand, der sein Leben in großen Zügen genoss. Er räusperte sich. »Es tut mir leid, dir das zu sagen, aber nun muss ich es. Er frönte nicht nur dem guten Essen und Trinken, sondern ging auch regelmäßig zu Huren. Zwar versuchte er das zu vertuschen, aber es war ein offenes Geheimnis in der Florentiner Gesellschaft.«
Und mit dem hatten ihre Eltern sie verheiraten wollen? Guter Gott!
»Ihr meint also, dass möglicherweise Savonarola die Jungen beauftragt hat, Fredi zu töten?«, fragte Lucas.
»Entweder handelten sie auf seinen Befehl hin oder sie haben es aus freien Stücken gemacht«, beschied Matteo.
»Das geht zu weit!« rief Lucas. »Es wird Zeit, dass diese Schreckensherrschaft ein Ende findet!«
Botticelli war blass geworden.
»Ich dulde es nicht, dass derartig über den Frate gesprochen, dass er verdächtigt wird, schwere Straftaten zu begehen. Er ist das Lamm Gottes, das keiner Fliege etwas zuleide tun würde! Ich verbürge mich für seinen Ruf.«
»Es wurde auch nicht gesagt, dass er Straftaten begangen hätte«, besänftigte Matteo. »Es können auch seine Helfer gewesen ein. Aber es ist immer die Saat, die aufgeht und Böses gebiert.«
Francesco hatte derweil nachdenklich vor sich hin geschaut.
»Ich verstehe nicht«, begann er, »warum die Bürger der Stadt Florenz gezwungen werden, ihre ›Eitelkeiten‹ herauszugeben, warum Frauen auf der Straße angepöbelt werden, wenn sie ihre Haare nicht bedeckt halten. Und dass man mich beschimpft und zusammenschlägt wegen eines Bildes, das etwas anderes zeigt als fromme Szenen aus der Bibel. Es ist weniger fragwürdig, wenn die |95|Leute ihre Sachen freiwillig ins Feuer werfen, wie im letzten Karneval. Für mich ist das kein Gottesstaat, der seine Kinder vergewaltigt!«
»Du hast aber schon ganz anders gesprochen«, meinte Botticelli und schob die Unterlippe vor.
»Ich habe die Geschehnisse genau beobachtet«, erklärte Francesco. »Als Savonarola das ›Fegefeuer der Eitelkeiten‹ veranstaltete, wurde ich hellhörig. Das kann nicht sein, sagte ich mir, dass Kunstwerke den Flammen übergeben werden, die in mühsamer, hingebungsvoller Arbeit geschaffen wurden.«
»Es ist aber vonnöten, wenn der Teufel die Hand des Malers geführt hat.«
Botticelli stützte seinen Kopf schwer in die Hand.
»Das kannst du mir doch nicht erzählen«, fuhr Francesco auf. »Dann hat der Teufel auch deine Hand geführt! Du hast die Gefilde des Antiken, die dich immer so sehr inspiriert haben, verlassen und bist für immer zu den düsteren Visionen des Savonarola übergegangen!«
Die Gesichtsfarbe des Meisters wechselte von rot nach blass.
»Ist nicht der Einzug des schwarzen Todes ein Beweis für die Prophezeiungen Savonarolas? Hat er nicht gesagt, Gottes Reich komme mit der Wende des Jahrhunderts, und dann werde Gott die Spreu vom Weizen trennen?« Seine Augen verengten sich. »Wehe dem, der nicht Buße getan und sich von seinen Sünden gereinigt hat, wenn das Weltgericht kommt!«, rief er aus.
»Wir sind fromme Christen, wie Ihr auch einer seid«, warf Matteo ein.
»Wir gehen in die Kirche, beten und beichten unsere Sünden, so wir welche begehen. Ich glaube nicht, dass der schwarze Tod die Strafe Gottes für unsere Frevel ist.«
»Wir geben auch den Armen, wo immer wir können«, ließ sich Eleonore vernehmen.
»Ich kenne Euch als gottesfürchtige Familie«, meinte Botticelli einlenkend. »Ich sage nur, habt acht bei allem, was Ihr tut!«
|96|Angelina, die Francesco gegenübersaß, sah, dass dessen Augen wütend funkelten.
»Du willst dich über uns alle stellen, Sandro«, rief er. »Dabei bist du ein Pharisäer! Savonarola hat dich mit seinen Predigten verführt, und jetzt willst du dich bei ihm einschmeicheln!«
Botticelli wurde noch bleicher, wie eine Wand. Er warf seinen Löffel auf den Tisch.
»Dass du mir jetzt auch noch in den Rücken fällst, hätte ich nie von dir gedacht, Francesco!«, sagte er laut. »Wenn es darum geht, einen vorbildlichen Lebenswandel zu führen, wärest du der Letzte, der darüber sein Maul aufreißen könnte!«
Alle anderen schwiegen betreten. Francesco stand auf und stieß seinen Stuhl zurück. Mit zusammengepresstem Mund verließ er den Kreis. Angelina hielt die Spannung, die durch diesen Streit entstanden war, nicht aus. Sie erhob sich ebenfalls.
Francesco stand in der Sonne im Garten und blickte hinüber zu den Bergen. Als er Angelina herankommen hörte, drehte er sich nicht um, sondern setzte sich langsam in Bewegung. Sie folgte ihm. Die Wärme des Nachmittags tat ihr wohl. Die Grillen zirpten so laut, dass es ihr wie ein Orchester erschien. Ein Geruch nach Thymian wehte ihr entgegen. Sie spürte die Anwesenheit Francescos stärker als je zuvor, auch wenn er beharrlich schwieg. Die Sonne blendete sie beim Steigen auf dem schmalen Pfad. Über den Weinreben sah sie zwei Libellen, deren Hinterteile miteinander verbunden waren und die einen anmutigen Tanz miteinander aufführten. Sie wagte nicht, Francesco darauf aufmerksam zu machen, weil sie fürchtete, rot zu werden. Plötzlich blieb er abrupt stehen. »Habt Ihr keine Angst, was die anderen denken, dass Ihr mir einfach nachgeht?«, fragte er.
»Ich hatte auch keine Angst, was die Leute denken, als ich Euch in Florenz ganz allein gepflegt habe«, erwiderte sie nur.
»Stimmt«, sagte er. »Das ist eine Zeit, an die ich mich kaum erinnere.«
»Es war ein Traum, der vorübergegangen ist«, entgegnete Angelina mit einem Anflug von Wehmut in der Stimme.
|97|»Ihr seid ein Dickkopf, Angelina. Ihr wirkt immer so gehorsam, aber Ihr gehorcht niemandem.«
Warum war er nur so wütend?
»Es wäre Euch wohl recht, wenn ich Euch, dem großen Francesco, gehorchen würde!«, gab sie zurück.
Seine Züge wurden mit einem Mal weich.
»Es wäre mir recht, Angelina, wenn wir nicht mehr miteinander Versteck spielen würden. Du weißt, dass ich dich liebe! Du musst es gewusst haben, von Anfang an. Ich erinnere mich nämlich sehr wohl an unsere Zeit in Botticellis Haus, auch wenn ich immer wieder wegdämmerte.«
Angelina verschlug es die Sprache. Francescos Worte klangen warm in ihr nach.
Er trat einen Schritt auf sie zu, legte seine Arme um ihre Schultern und zog sie an sich. Seine Augen waren ganz nah. Sie öffnete leicht die Lippen, ohne es zu wollen, und spürte seinen Mund auf ihrem. Ihre Knie wurden weich, sie hatte das Verlangen, auf den Boden zu sinken, sich ihm ganz hinzugeben. Sein Kuss wurde fordernder, ein süßes, nie gekanntes Gefühl durchströmte sie. Langsam lösten sie sich voneinander, nahmen sich wortlos bei den Händen und liefen weiter. Es war, als zirpten die Zikaden nur deswegen, um ihnen eine Freude zu machen, als gieße die Sonne nur für sie goldenes Licht über die Wiesen.
Auf der Höhe angekommen, nahm der kühle Wald sie auf. Angelina dachte an die Zigeunerin. Fast erwartete sie, die Frau wieder anzutreffen. Als sie auf der anderen Seite den Berg herabstiegen, sahen sie, dass die Zigeuner am Fuß des Hügels ihr Lager aufgeschlagen hatten. Ihre Wagen und Zelte standen im Kreis um ein Feuer herum, über dem ein Ferkel am Spieß briet. Angelina glaubte die alte Frau unter ihnen zu sehen. Die Zigeunerin bewegte die Hand vor ihrer Brust hin und her, als wolle sie ihr einen Gruß zukommen lassen.
Ängstlich drehte sie sich weg.
»Wovor hast du Angst?«, meinte Francesco. »Die haben niemandem |98|was getan. Sie haben keinen Besitz und sind somit in Gottes Liebe.« Angelina erzählte ihm nichts von der Weissagung. Was Francesco anging, hatte sie sich erfüllt.
An diesem Abend stieg der Mond über den Horizont wie eine blutige Scheibe.
Am folgenden Tag baute Francesco seine Staffelei im Garten auf, mischte die Farben und wies Angelina an, ihm in ihrem neuen Kleid Modell zu sitzen. Bevor er mit der Arbeit begann, spannte er einen großen weißen Schirm auf, um einen für das Bild günstigen Lichteinfall zu erreichen. Das Gewand hatte Angelina in der Zwischenzeit reinigen lassen und fühlte sich fast nackt mit dem tiefen Ausschnitt. Sie band sich ihren Schal darum.
»Es nützt dir wenig, dich zu verhüllen, ich habe deinen Körper genau studiert«, scherzte er und lachte. Angelina lachte ebenfalls und dachte an den Kuss in der Nachmittagssonne. So saß sie etwa zwei Stunden in gespannter Aufmerksamkeit. Ob Francesco alle seine Modelle gleich behandelte? Mochte er einige lieber als die anderen? Liebte er sie, Angelina, wirklich? Angelina bewegte sich nicht, lauschte dem Singen einer Amsel und spürte den Schweiß in feinen Perlen den Rücken herabrinnen. Francescos Augen waren abwechselnd auf sie selbst und auf seine Staffelei gerichtet. Eine Weile schaute er ihr tief in die Augen, aber als er sich abwandte, merkte Angelina, dass er nur deren Ausdruck genau studiert hatte, um ihn möglichst lebensnah auf die Leinwand zu bringen. Gegen Ende der Sitzung strich er sich die Haare aus der Stirn.
»Für heute können wir Schluss machen«, meinte er erschöpft. »Das wird ein Bild, Angelina, ich sage dir, das sollten deine Eltern nicht im eigenen Haus hängen lassen, sondern es vielen Menschen zeigen!«
Angelina senkte beschämt die Augen, als sie das Porträt sah. War sie wirklich so schön wie auf diesem Bild? Ach, wenn sie doch wüsste, ob Francesco seine Worte ernst meinte!
Den Rest des Tages verbrachte sie damit, den Kindern der Scroffas |99|Gedichte beizubringen. Giacomo und Lisetta stellten sich recht gelehrig an und brachten Angelina immer wieder mit Albernheiten zum Lachen. Fern der Krankheit, fern aller Pein und Tortur in der Stadt hatte sie hier ein Nest gefunden, in dem sie annähernd glücklich sein konnte.