Die Glocken von San Marco läuteten die Messe ein. Domenian bewegte sich im Schatten Savonarolas, der gerade, von einer Gruppe Fanciulli umringt, das Portal der Kirche betrat. Außer den Mönchen des Klosters war niemand anwesend. Gewiss kamen die Menschen nur deshalb nicht mehr, weil die Pest in der Stadt herrschte. Oder hatten sie doch wegen der Exkommunikation Savonarolas Angst bekommen? Nach den einleitenden Gebeten und Gesängen betrat Savonarola die Kanzel und begann mit seiner Predigt.
»So lasst euch nun noch einmal beschwören, meine Brüder und Schwestern in Christo: Die Sünden des Papstes schreien zum Himmel! Früher nannten die Priester ihre Söhne Neffen, jetzt nicht mehr, sondern Söhne, schlichtweg Söhne. Im Jahre des Herrn 1495 versuchte Alexander IV., mich auf seine Seite zu ziehen: Er bot mir den Kardinalshut an. Doch ich lehnte ab: Ich wollte keinen roten Hut, lieber wollte ich das Martyrium! Seine Einladung nach Rom befolgte ich ebenfalls nicht, denn ich weiß um die folgenschweren Speisen im Hause Borgia. Gestern nun, am 18. des Juni, hat er meine Exkommunikation bekannt gegeben. Niemand darf mehr mit mir reden, mir zuhören oder mir auf irgendeine Art helfen. Diese Exkommunikation ist ungültig! Denn wer etwas gegen die christliche Liebe gebietet, die das A und O unseres Gesetzes ist, der sei von Gott exkommuniziert. Einem Befehl, der dem Gebot der christlichen Liebe widerspricht, darf ein Christ gar nicht gehorchen. Habt keine Angst vor dem Wolf, der als Hirte verkleidet ist!«
Die Mönche senkten demütig die Köpfe, beteten und sangen, wie er es ihnen gebot. Der Papst wird die Exkommunikation zurücknehmen müssen, dachte Domenian. Ein Weihrauchfass wurde geschwenkt. |71|Savonarola schlug mit dem Handrücken auf die Brüstung seiner Kanzel.
Es war, als wären für ihn Tausende von Florentinern anwesend.
»Jeder möge also sein eigenes Bewusstsein erneuern«, fuhr er fort, »von den Herrschenden angefangen. Jeder möge aus seiner Eigenheit herauskommen und dem Gemeinwohl zustreben – der Egoismus ist ein Zeichen des Verlorenseins. Und solche, die kein Gefühl für ihren Nächsten haben, stehen außerhalb des göttlichen Kreislaufs. Gebt den Luxus und das Wohlleben auf, gebt stattdessen den Armen! Die Priester und Mönche, die doch Vorbilder für ein christliches Leben sein sollten, treiben sich in den Wirtschaften herum und huldigen dem Glücksspiel. Sie nehmen Mädchen zum Tanz auf ihr Zimmer mit, verbringen die Nächte mit schlechten Weibern und Buben, treten aber am Morgen gleichwohl zum Altare des Herrn. Sie sind dem sodomitischen Laster ergeben, sie pflegen der gleichgeschlechtlichen Liebe, vergewaltigen Frauen und Mägde, ja sogar Kinder! Die Zeremonien, die man heute in der Kirche feiert, finden nicht mehr zu Ehren Gottes statt, sondern um des Geldes willen. Alle in der Kirche wollen Einkünfte und Pfründe … Es gibt keine Gnade des heiligen Geistes, die man nicht mit Geld erkaufen könnte. Nur die Armen, sie werden ausgepresst! Gott hat uns schon seine Strafe geschickt, den schwarzen Tod, er ist die Antwort auf ihr sündiges Leben, und es wird noch viel furchtbarer kommen, seht es bei Johannes, die Pest und der Tod werden über uns alle kommen, so ihr nicht einhaltet und in euch geht. Schmelzt all die überflüssigen Kelche und Monstranzen ein und verteilt den Erlös an die Armen! Gott muss man suchen, nicht prächtige Tempel. Der wahre Tempel ist des Christen Herz!«
Domenian war es während der Predigt immer heißer geworden. Das war es, wofür er lebte, wofür er kämpfte! Und doch wurde sein Fleisch immer wieder schwach. Die Rede des Mönchs hatte wollüstige Gefühle bei ihm geweckt. Ach, wenn er sich doch geißeln könnte! Sich mit eiskaltem Wasser übergießen, immer wieder!
»Es soll ein Staat aufgebaut werden«, Savonarola schrie es heraus, |72|»der das Gute bewahrt, wenn die Stadt Florenz gut sein will! Viele Bürger in Florenz und in den Städten der Umgebung änderten schon ihr Leben, wurden friedvoller, lebten bescheidener, gaben das Trinken oder Spielen auf. Der Herrscher unserer Stadt ist nur einer allein, und das ist …«
»Christus!«, riefen die Mönche wie mit einer Stimme. Die Chorjungen begannen mit ihren hellen Stimmen zu singen. Domenians Gedanken flogen wieder einmal weit fort, in eine andere Zeit. Er lief auf seine Mutter zu, die im Garten grub. Sie breitete die Arme aus, die Finger voller Erde, ließ sie jedoch wieder sinken, als er näher kam.
Es war Zeit, seinem Auftrag nachzukommen.