Francesco biss sich verzweifelt in den Handballen. Er musste Angelina finden, koste es, was es wolle! Doch wo sollte er noch suchen? Die Weinkeller in der Umgebung hatten sich als Fehlschlag erwiesen. Mutter Elisa war ins Kloster zurückgekehrt. Sie stand am Tor, zusammen mit ihren Nonnen, und segnete ihn zum Abschied. »Gott möge Euch beschützen und Euch das Glück geben, Angelina zu finden«, sagte sie.
Francesco ritt durch das Örtchen Fiesole. Dabei kam er am Haus von Fra Angelico vorbei. Dieser große Maler und Mönch hatte doch die Zellen in San Marco mit Fresken verziert. In Gedanken versunken ritt er weiter. Hühner gackerten, Hunde streunten durch die Gassen, und Kinder spielten mit Murmeln. Francesco erreichte das Landgut der Girondos. Hier hatte vor einem Jahr das Frühlingsfest der Familie Angelinas stattgefunden. Er ließ sein Pferd anhalten, stieg ab und band es an einen Baum. Da war der Garten mit dem Brunnen, neben dem man Fredi erstochen aufgefunden hatte. Francesco überlegte, wer damals an der Gesellschaft teilgenommen hatte. Außer Angelinas Eltern und Geschwistern waren es Leute gewesen, die er nicht kannte. Doch einen hatte er gekannt: Tomasio. Wer verbarg sich eigentlich hinter diesem Kaufmann, der Angelinas Bildnis so bereitwillig in Verwahrung genommen und sich nun damit davongemacht hatte? Hatte er etwas mit den Morden und mit Angelinas Verschwinden zu tun?
»Buongiorno«, ertönte eine Stimme. Francesco fuhr herum. Es war Angelo Nicolini, der Wachtmeister aus dem Dorf. Schweiß glänzte auf seiner Stirn, er schnaufte heftig. »Was treibt Ihr hier am helllichten Tag? Die Herrschaften sind nicht anwesend.«
»Das weiß ich, Signor Nicolini«, entgegnete Francesco. »Vielleicht |408|könnt Ihr mir helfen. Vor einem Jahr wurdet Ihr doch von der Signoria in Florenz zu der Familie Girondo gerufen, weil es einen Todesfall gegeben hatte.«
»Woher wisst Ihr das?« Der Mann wirkte verlegen.
»Ich war selber dabei. Ist Euch irgendetwas aufgefallen?«
»Ich kann mich nicht mehr erinnern«, gab der Mann zurück.
»Was sagte Signor Girondo zu Euch?«, fragte Francesco.
»Er sagte, es seien Wegelagerer gewesen, die Signor Fredi erstochen hätten. Der Tote lag auf dem Weg zum Haus.«
»Dann habt Ihr keinen von den Gästen gesehen?«
»Nein, ich kam ja erst am nächsten Tag. Doch wartet.« Er kratzte sich am Kopf. »Meine Frau sagte mir, jemand habe am selben Abend, bevor die Teilnehmer des Festes abreisten, sein Gewand im Bach gewaschen. Sie war noch einmal hinausgegangen, um nach dem Wetter zu sehen.«
»Warum habt Ihr das nicht gemeldet?«
»Ich maß dem keine Bedeutung bei. Und jetzt muss ich weiter. Buongiorno.«
Francesco kehrte zu seinem Pferd zurück, stieg auf und machte sich auf den Rückweg nach Florenz. Je näher er der Stadt kam, desto mehr trieb er sein Pferd an. Angenommen, es war dieser Mönch gewesen, der Fredi erstochen hatte. Er musste unbedingt mit den Mönchen von San Marco sprechen.
So schnell es ging, ritt er zum Kloster hin. Der neue Prior, ein untersetzter Mann, empfing ihn, nachdem Francesco an der Pforte ein dringendes Anliegen gemeldet hatte.
»Herr Prior, gab oder gibt es bei Euch einen Mönch, der häufig abwesend war?«, fragte er geradeheraus.
Der Prior legte die Stirn in Falten.
»Ich darf Euch über meine Brüder keine Auskunft geben«, meinte er.
»Es geht um Leben und Tod, Herr Prior«, rief Francesco. »Jemand wird sterben, wenn ich diesen Mönch nicht finde!«
»Gott wird mir verzeihen, wenn ich eine Sünde begehe«, sagte |409|der Prior. »Der Priester Domenian Brenetto war häufig abwesend, um die Fanciulli zu beaufsichtigen und im Dom die Beichte abzunehmen.«
»Habt Dank«, meinte Francesco, »das hilft mir schon ein ganzes Stück weiter. Kann ich auch noch die Zelle dieses Priesters sehen?«
Der Prior verdrehte die Augen zum Himmel.
»Auch diese Bitte werde ich Euch noch gewähren, dann geht mit Gott und rettet, was noch zu retten ist.«
Francesco folgte ihm durch den Kreuzgang. Aus der Kirche drang der Gesang der Mönche. Der Prior öffnete eine der Zellentüren und ließ Francesco eintreten. In dem Raum befanden sich nur eine Matratze und ein Kruzifix. An der Wand war das Fresko ›Noli me tangere‹ von Fra Angelico angebracht. Hier also hatte Domenian gelebt, mit diesem Bild vor Augen. Was mochte in dem Priester vorgegangen sein? Wenn er die Beichte im Dom abgenommen hatte, dann hatte auch Angelina ihm gebeichtet. Francesco erinnerte sich genau, dass sie ihm davon berichtet hatte. Und dieser Mann war mit Gewissheit der Mörder und hatte nun Angelina in seiner Gewalt!
»Wie stand Domenian zu Savonarola?«, fragte Francesco den Prior.
Der Prior räusperte sich.
»Er war ihm sehr ergeben. Vielleicht zu sehr. Immer wieder sprach er davon, dass er die Sünde bekämpfen und ausrotten müsse.«
Francesco beugte sich vor und musterte das Bild genauer. Das Gesicht Maria Magdalenas war zerkratzt! Noli me tangere, Maria Magdalena war eine Sünderin gewesen, doch Christus hatte sie zu sich genommen. Domenian in seiner Verblendung dagegen wollte alles, was er für sündig hielt, vernichten.
»Wir machen uns große Sorgen um Domenian«, hörte er den Prior sagen.
»Nachdem unser Herr Savonarola … dem Feuer übergeben worden war, haben wir ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen. Hoffentlich hat er sich nicht etwas angetan!« Er bekreuzigte sich.
|410|»Ich bin Euch zu großem Dank verpflichtet«, antwortete Francesco. »Ich werde Domenian suchen, und ich werde ihn finden, das verspreche ich Euch.« Er küsste den Ring des Priors und ließ sich von einem Novizen hinausgeleiten.
Auf der Piazza San Marco ging das Leben seinen Gang.
Francesco lief erneut grübelnd durch die Straßen, bis er zum Laden von Lucas und Sonia gelangte. Beide bedienten gerade Kunden und warfen ihm einen sorgenvollen Blick zu. Als der letzte Kunde den Laden verlassen hatte, bestürmten sie ihn sogleich mit Fragen.
»Du hast sie nicht gefunden, nicht wahr?«, fragte Sonia mit schmerzlich verzogenem Gesicht.
»Hast du wenigstens eine Spur entdeckt?«, folgte Lucas und zwirbelte seinen Schnurrbart.
»Mutter Elisa und ihre Nonnen haben mit mir die Weinberge abgesucht, ohne Ergebnis. Von dem Wachtmeister, der damals von der Signoria geschickt wurde, erfuhr ich, dass ein Mann am Abend von Fredis Ermordung seine Kleidung im Fluss gewaschen habe. Und eben war ich noch beim neuen Prior von San Marco. Er berichtete, einer ihrer Priester sei Savonarola sehr ergeben gewesen. Vielleicht zu sehr, hat er gesagt. Das war dieser Domenian, den wir in die Kanäle verfolgt hatten.«
»Und du meinst, dieser Domenian hat all die Morde begangen?«, fragte Sonia mit geweiteten Augen. »Aber warum?«
»Ich kann es mir nur so erklären, dass er alle aus dem Weg räumen wollte, die zwischen ihm und Angelina standen. Mich hat es ja auch schon zweimal fast erwischt.«
»Wenn Domenian Angelina entführt hat, musste er einen Helfershelfer gehabt haben«, gab Lucas zu bedenken. »Denn wer sollte dich sonst niedergeschlagen und ins Wasser geworfen haben?«
Francesco fiel es wie Schuppen von den Augen
»Dass ich darauf nicht gleich gekommen bin! Ja, es muss noch jemanden geben, der gemeinsame Sache mit Domenian macht.«
»Wer könnte das gewesen sein?«, meinte Lucas.
»Vielleicht ein Mönch aus dem Kloster?«, warf Sonia ein.
|411|»Wir wissen es nicht«, beschied Francesco. »Aber wir müssen dringend handeln. Ich weiß nur nicht, wo wir die Suche fortsetzen sollen.«
»In den Kanälen?«, schlug Lucas vor. »Ich komme mit dir.«
Sonia warf ihm einen ängstlichen Blick zu, sagte aber nichts.
»Dann müssen wir aber gut ausgerüstet sein«, stimmte Francesco zu.
»Mit Fackeln, warmer Kleidung und Waffen. Ich trage mein Schwert immer bei mir, und mein Messer steckt im Gürtel. Hast du auch ein Schwert, Lucas?«
Lucas nickte zustimmend, und Sonia beeilte sich, das Gewünschte herbeizuschaffen. Bald machten sich die beiden Männer auf den Weg, während Sonia im Laden blieb. Der Prior von San Marco war zwar erstaunt, Francesco schon wieder zu sehen, doch er gestattete den beiden, noch einmal in die Kanäle hinabzusteigen.
Der Weg bis zu dem Raum, in dem Francesco Angelinas Benediktuspfennig gefunden hatte, war ihm schon vertraut. Bis zum späten Abend suchten sie die Gänge ab. Fast hätten sie sich verirrt, es wäre nicht auszudenken gewesen, wenn das geschehen wäre! Schließlich ließ Francesco mutlos die Fackel sinken.
»Ich weiß nicht mehr weiter«, sagte er.
Lucas starrte in die Dunkelheit des Ganges, der vor ihnen lag.
»Ich glaube, wir haben uns geirrt«, meinte er.
»Wie meinst du das?«
»Wir suchen Angelina in den Kanälen oder in einem Weinkeller. Mag sein, dass sie als Kind in einem solchen Keller war. Aber es könnte doch ein ganz anderer Raum sein.«
»Woher wissen wir denn, ob es überhaupt ein Raum ist?«, fragte Francesco. »Domenian könnte Angelina genauso gut auf eine Reise mitgenommen haben.«
»Da wäre aber die Gefahr der Entdeckung zu groß«, gab Lucas zur Antwort. Niedergeschlagen traten sie den Rückweg an. Als sie den Laden betraten, kam ihnen Botticelli mit aufgeregter Miene entgegen.
|412|»Seht einmal, was mir ein Bote soeben gebracht hat«, sagte er und hielt ihnen ein Stück Papier hin. Francesco ergriff es und las die Worte vor:
»In Initium Finis est.
In Caelum Infernum.
Im Anfang ist das Ende enthalten, im Himmel die Hölle. Wer hat das gebracht, Sandro?«
»Ein Bote, ein kleiner Junge, der wohl einmal zu den Fanciulli gehört hat. Er konnte mir nicht sagen, wer sein Auftraggeber war. Ein Mönch in einer schwarzen Kutte, sagte er.«
Lucas und Francesco wechselten einen Blick.
»Das war der Mörder«, sagte Francesco. »Kannst du mir den Jungen beschreiben, Sandro?«
»Er war klein, schmal, mit einem langen Gesicht, das irgendwie an ein Fohlen erinnerte. Die Haare schwarz. Gekleidet war er in ziemlich armselige Lumpen.«
»Wenn du ihn noch einmal siehst, frage ihn, wie der Mönch aussah und wohin er ging«, wies Francesco seinen ehemaligen Meister an.
»Das werde ich tun, Francesco«, antwortete Botticelli. »Ich bin ja froh, wenn ich mich nützlich machen kann.«
»Was könnten diese Worte bedeuten?«, schaltete sich Sonia ein. Es würden heute keine weiteren Kunden mehr kommen, sie schloss die Tür ab.
»Himmel und Hölle sind eins«, erklärte Botticelli. »Jedes Ding hat auch sein Gegenteil in sich. Niemand ist nur gut oder ausschließlich böse. Luzifer ist ein gefallener Engel, der von Gott verstoßen wurde. Du kannst ein Messer benutzen, um damit Gemüse zu schneiden oder Farbe von der Leinwand zu kratzen, aber auch, um jemanden zu töten.«
Sonia blickte ihn erstaunt an.
»In Bezug auf Angelina hilft uns das aber nicht weiter«, meinte Lucas.
»Was war denn am Anfang?«
|413|»Am Anfang, bevor alles begann, war das Frühlingsfest von Angelinas Vater«, sagte Francesco schnell, als fürchtete er, den Faden zu verlieren.
»Es könnte heißen, dass er an den Schauplatz des ersten Mordes zurückgegangen ist.«
»Auf das Landgut der Girondos?«, fragte Sonia.
»Ja, eben das.« Francesco zitterte innerlich bei dem Gedanken, dass er gerade erst dort gewesen war. Vielleicht wurde Angelina ganz in der Nähe der Stelle, an der er mit Nicolini gesprochen hatte, gefangengehalten.
Angelina hatte den ganzen Tag auf Domenian gewartet. Die Zunge klebte ihr trocken am Gaumen, sie hatte großen Durst, der es ihr schwer machte, nicht das Bier zu trinken, das Domenian ihr hingestellt hatte. Als sie anfing, geisterhafte Gestalten zu sehen, beugte sie sich zu dem Krug hinab und trank. Ein Teil des Bieres verschüttete sie, weil es ihr nicht gelang, den Krug mit ihren gefesselten Händen zu ergreifen. Weil sie nichts gegessen hatte, wurde ihr ein wenig übel. Doch dann breitete sich eine wohlige Wärme in ihrem Magen aus. Sie lehnte sich zurück. Wieder hatte sie das Gefühl, vom Boden abzuheben. Doch sie wehrte sich dagegen. Angelina begann zu beten.
Immer wieder begannen Bilder in ihr aufzusteigen. Eine Gruppe von Teufeln stellte sich zusammen und begann zu musizieren. Einer schlug die Laute, ein anderer eine riesige Trommel. Ein Dritter blies in eine Querflöte, in deren Ende Teufelshörner geschnitzt waren. Männer, Frauen, Kinder und Teufel fassten sich an den Händen und begannen zu tanzen. Immer wilder wurde die Musik. Angelina betete lauter. Sie griff nach ihrem Benediktuspfennig. Vade retro, Satanas!, wollte sie rufen, doch der Pfennig befand sich nicht an seinem Platz an ihrem Hals. Sie musste ihn verloren haben. Die Gestalt des Obersten richtete sich vor ihr auf, drehte sich langsam um. Das erste Mal konnte Angelina ihm ins Gesicht sehen. Seine Lippen bewegten sich schmatzend, seine Augen glühten wie Kohlen. |414|Seine Züge veränderten sich und erinnerten sie an jemanden, aber an wen? Ein Feuer leckte an der Gestalt empor, hüllte sie bald ganz ein, schlug über ihr zusammen, so dass Angelina erschrocken zurückwich. Das Gesicht begann zu schmelzen, verzerrte sich und verschwand.