Angelina ging ihrer Tante Bergitta bei allen Arbeiten zur Hand. Sie grub mit dem Sauzahn den Boden um, zog Unkraut und brach die unfruchtbaren Schösslinge aus. Während Bergitta Seitentriebe einkürzte, befestigte Angelina Fruchttriebe für das nächste Jahr, sammelte Schädlinge von den Blättern ab und stellte Vogelscheuchen auf. Der Schwindel und die Übelkeit traten nicht mehr auf. Innerlich kam Angelina bei der harten Arbeit zur Ruhe, aber anfangs schmerzten abends alle Glieder. Allmählich nahm die Kraft der Sonne ein wenig ab. Die Trauben begannen sich zu runden, und das Laub verfärbte sich rot und gelb. Angelina hatte an ihre Eltern geschrieben und Grüße an ihre Geschwister ausrichten lassen, jedoch keine Antwort erhalten. Wenn sie abends beieinandersaßen, nachdem die Tante ihre einzige Kuh, ihre Hühner und den Esel versorgt hatte, erzählte Bergitta aus ihrem Leben.
»Mit meiner Schwester Lukrezia, deiner Mutter, war ich immer herzlich verbunden«, sagte sie. »Doch unsere Auffassung vom Leben war und ist sehr verschieden. Lukrezia wollte immer hoch hinaus. Das Weinbauerndorf gefiel ihr nicht mehr, als sie größer wurde. Sie wollte in der Stadt leben, wollte Kinder haben, am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, gut essen und trinken.«
»Das hat sie auch erreicht«, warf Angelina dazwischen.
»So ist es«, meinte Bergitta. »Und sie hat noch mehr erreicht, als sie es sich in den schönsten Träumen hätte ausmalen können: Der Reichtum ihrer Familie wuchs, auch, da dein Vater mit den Medici befreundet war. So konnte er zu dem Landsitz bald auch noch das Stadthaus kaufen.«
»Wie haben sich meine Eltern eigentlich kennengelernt?«, fragte Angelina. »Sie haben nie darüber gesprochen.«
|169|Ihre Tante schaute sie nachdenklich an.
»Lukrezia wollte höher hinaus, wie ich schon sagte. Ich selbst habe es vorgezogen, hierzubleiben, einen Mann aus dem Nachbardorf zu heiraten und mein Leben einfach, aber glücklich zu leben. Leider ist mein Mann früh verstorben. Danach wollte ich keinen mehr. Lukrezia also ging nach Florenz, um ihr Glück zu machen. Unsere Eltern wollten sie nicht ziehen lassen, aber Lukrezia war halsstarrig und bestand auf ihrem Plan. Da gaben unsere Eltern nach und versahen sie mit dem Nötigsten. Später hörten wir, dass sie sich als Näherin verdingt hatte, jedoch war ihr Verdienst zu gering, als dass sie davon hätte leben können. Sie landete schließlich in einem Dirnenhaus.«
Angelina erschrak heftig. Ihre Mutter war eine Dirne gewesen?
»Das glaube ich nicht«, sagte sie. »So eine ist meine Mutter nicht! Das sind gewiss bösartige Verleumdungen.«
»Wenn ich es doch sage, Angelina … Viele Mädchen vom Land sind dort gelandet.«
»Warum ist sie nicht nach Hause zurückgekehrt?«, fragte Angelina.
»Lukrezia war zu stolz, glaube ich. Glücklicherweise kam ein Mann namens Lorenzo Girondo häufig in das Haus und wollte bald keine andere mehr bei sich liegen haben. Sie ging nach einigen Monaten mit einem Kind schwanger.«
»Das Kind war … ich?«
Angelina wusste nicht, was sie von dieser Enthüllung halten sollte. Einerseits schämte sie sich, andererseits war sie froh, dass ihre Mutter dem selbstverschuldeten Schicksal entronnen war.
»Bevor es zu offensichtlich wurde«, fuhr Bergitta fort, »heiratete Lorenzo sie und nahm sie in seinem Stadthaus auf. Es hat also ein gutes Ende genommen für meine Lukrezia.«
»Was meinen Vater aber nicht daran hinderte, ständig jungen Mädchen nachzustellen«, fügte Angelina hinzu. »Ich glaube, deshalb hat meine Mutter ständig so viel Süßes gegessen.«
»Das Kochen und Essen liegt uns im Blut«, sagte Bergitta lächelnd. |170|»Im Herbst, wenn die Weinlese eingebracht wird, verdiene ich mir nicht nur mit der Beherbergung der Landarbeiter etwas hinzu, sondern ich koche auch leidenschaftlich gern für sie. Meine Ravioli Ignuti sind weit und breit bekannt!«
»Die nackten Ravioli?«
»Ja, aber auf Wunsch fülle ich sie auch mit einer Fleischsoße. Dazu Stücke von halbjährigen Lämmern, Rindskoteletts …«
Angelina vergaß für einen Augenblick lang ihren Kummer, das Wasser lief ihr im Mund zusammen.
»Das müsst Ihr mir einmal servieren, Tante Bergitta, bevor ich zurück nach Florenz gehe!«
»Ich vermisse dich jetzt schon bei dem Gedanken, dass du gehst«, meinte Bergitta. Ihre Augen waren feucht. »Du bist mir in der kurzen Zeit sehr ans Herz gewachsen. Ich selber habe ja leider nie Kinder gehabt. Hör zu, ich werde ebenfalls einen Brief an Lukrezia schreiben, und dann sehen wir, ob sich ihr und deines Vaters Herz nicht doch noch erweichen lassen.«
In den folgenden Tagen dachte Angelina viel über das nach, was die Tante ihr erzählt hatte. Wann immer sie eine Pause einlegte oder allein war, nachts in ihrem Bett, standen die Bilder und Ereignisse ihr vor Augen. Warum hatte ihre Mutter ihr nie davon erzählt, dass sie, Angelina, eigentlich ein Bastard war, der nur durch die nachträgliche Heirat legitimiert wurde? Und ihre Lebensgier, ihr Streben nach Reichtum und Ansehen. Trotzdem konnte Angelina sie nicht verachten. Wer unter solchen Verhältnissen leben musste, der durfte auch von etwas Besserem träumen.
Die Predigten Savonarolas kamen Angelina in den Sinn. Nicht nur von der Sünde hatte er geredet und von den Höllenstrafen, die den Sünder erwarteten, sondern auch von der Sünde des Reichtums. Wer reich war, hatte eine Verpflichtung gegenüber den Armen. Angelina dachte an ihr früheres Leben. Reich war sie gewesen, aber nicht glücklich. Was für ein Geheimnis gab es hier, dem sie nicht auf die Spur kam? Sollte sie ihre Tante fragen? Aber wollte sie es denn überhaupt wissen?
|171|Wie immer fühlte sie sich unwohl bei dem Gedanken. Sie war doch noch ein Kind gewesen, vielleicht neun oder zehn Jahre alt. Was sollte schon gewesen sein? Wahrscheinlich hatte Eleonore recht, und all das würde sich sowieso eines Tages von selber aufklären. Eleonore! Angelina fiel der Augenblick wieder ein, in dem sie Francesco und Eleonore in so vertraulicher Pose miteinander gesehen hatte. Nein, sie würde niemals dorthin zurückkehren, wollte sie nicht mehr sehen! Von ihr aus konnten sie bleiben, wo der Pfeffer wuchs! Was wäre gewesen, wenn sie ihrer Verliebtheit noch mehr nachgegeben hätte? Es wäre ihr womöglich ergangen wie Sonia, die vom Vater ihres Kindes im Stich gelassen worden war. Und sie würde heute, statt bei ihrer Tante zu sein, in einem Dirnenhaus leben. Lieber tot sein, als eine solche Schande zu ertragen! Den Männern war einfach nicht zu trauen. Kaum fühlten sie sich einer Frau sicher oder heirateten sie, gingen sie zu anderen Frauen. Den Ehefrauen blieb nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden, denn schließlich konnten sie nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. Oder wenn sie es taten, war es in den Augen der anderen ein viel schwererer Frevel, als wenn ein Mann so handelte. Oh nein, ihr würde so etwas nicht passieren.
Vielleicht hatten ihre Eltern doch recht gehabt: Sie wussten besser als ihre Tochter, was gut für sie war. Nein, sie wollte endgültig abschließen mit diesem Leben. Von ihr aus sollte das Bild, das Francesco von ihr gemalt hatte, im hintersten Winkel des Hauses am Lago verschimmeln! Sie wollte nichts mehr davon wissen. Wenn die Erntearbeiter kamen, würde sie in die Stadt zurückgehen und bei ihrer Familie anklopfen. Angelina zählte die Tage, bis der September endlich herum war und fragte jeden, der etwas darüber wissen konnte, wie die Lage in der Stadt sei.
Es war still geworden in der kleinen Gemeinschaft am Lago Trasimeno.
Anfangs hatten die Dorfbewohner noch Lebensmittel gebracht, die sie gegen Geld vor dem Haus ablegten. Lucas schaffte die Vorräte |172|hinein und die beiden Frauen zündeten Feuer mit Myrte und anderen Kräutern an, damit sich niemand ansteckte. Doch die Pest hatte das Dorf bald fest im Griff. Bisweilen wurden Eleonore und Sonia auch zu einem Kranken gerufen, weil der Bader nicht mehr nachkam mit der Versorgung. Doch es half alles nichts. Bald war das Dorf ausgestorben, wen die Seuche nicht dahingerafft hatte, war geflohen. Mit den Früchten der Felder und dem Schlachten des Viehs, das übriggeblieben war, überlebten sie bis in den September hinein. Oft fuhren die Männer mit einem der verwaisten Boote hinaus, um Fische zu fangen. Die Stimmung war jedoch mehr als gedrückt. Keiner spielte mehr auf der Laute, es wurde weder gescherzt, gelacht, noch wurden Ausflüge gemacht. Dumpf brütete das Leben unter der sengenden Sonne dahin.
Endlich wurden die Tage kühler, nach den letzten Gewittern, die mit großer Heftigkeit niedergegangen waren, schien dem Sommer das Genick gebrochen zu sein. Fahrende Händler kamen durch das Dorf und verkauften frische Waren. Einige berichteten, dass die Pest in Florenz zum Erliegen komme und schon einige Familien vom Land zurückgekehrt seien. An einem milden Abend, die Blätter der Linde im Garten hatten sich schon gelb verfärbt, bat Francesco die anderen, sich mit ihm zusammenzusetzen.
»Der Sommer neigt sich seinem Ende zu, liebe Freunde«, begann er, als alle versammelt waren. »Die Pest scheint überwunden zu sein. Zwei Monate ist es her, dass wir hier beieinandersaßen und unsere Lebensgeschichten erzählten. Seitdem ist nichts mehr, wie es vorher war, bei allen hat sich das Leben zwangsläufig verändert. Sagt, habt ihr schon neue Pläne für eure Zukunft gemacht?«
Vom See her kam ein kühler Hauch.
»Das kann man wohl sagen«, meldete Lucas sich zu Wort. »Mit meiner verstorbenen Frau bin ich ins Reine gekommen. Sonia und ich möchten heiraten und in Florenz gemeinsam den Laden betreiben.« Er schaute Sonia zärtlich in die Augen. »Aber mir graut vor dem, was wir dort vorfinden könnten! Die Worte der Fanciulli habe |173|ich nie vergessen. Ich bin mir keiner Sünde bewusst, aber ich wurde von dem Jungen schwer bezichtigt.«
»Wenn ihr heiratet, ist ja der Vorwurf der Sünde entkräftet!«, meinte Eleonore.
»Das stimmt«, entgegnete Lucas. »Aber wie, wenn Savonarola wieder erstarkt? Gewiss weiß man darum, dass wir eng mit Matteo verbunden waren. Und er musste sicher sterben, weil er sich gegen Savonarola gestellt hat. Wie, wenn uns das gleiche Schicksal bei der Rückkehr droht? Auf der anderen Seite ist es meine Heimat, und was auch immer mit dem Laden geschehen ist, wir können ihn wieder herrichten, wir haben ja nichts anderes.«
»Ich kann euch unterstützen, mit Geld und Rat«, bemerkte Eleonore.
»Das werden wir brauchen können«, antwortete Lucas. »Ich hatte vor, spätestens Anfang Oktober nach Florenz zurückzugehen. Einen der Eselskarren könnten wir mit Vorräten beladen.«
»Das sind Pläne, die mir gut gefallen«, sagte Francesco. »Hast du dir das auch so vorgestellt, Sonia?«
In Sonias Gesicht erschienen Grübchen.
»Das haben wir uns zusammen ausgedacht«, meinte sie. »Und dann können wir auch meine Perpita zu uns holen.«
Eleonore lächelte wehmütig.
»Ich habe hier meinen Mann und damit einen Teil meines Lebensglückes begraben. Aber ich trage Verantwortung für meine Kinder, und deshalb klage und verzage ich nicht, sondern richte meinen Blick nach vorn. Auch ich habe Angst vor dem, was in Florenz geschehen könnte. Ich glaube fest daran, dass Savonarola befohlen hat, Matteo zu töten.«
»Aber woher hätte er wissen sollen, wo er sich befand?«, fragte Francesco.
»Die Fanciulli haben ihre Augen und Ohren überall », bemerkte Lucas.
»Ich werde dennoch nach Florenz zurückkehren«, fuhr Eleonore fort. »Meine Kinder werde ich zu meiner Schwester in Sicherheit |174|bringen und das Erbe Matteos verwalten. Ich werde neue Diener nehmen, und ich werde sie gut aussuchen. Eines aber schwöre ich euch.«
Gespannt blickten die anderen sie an. Ihre Augen blitzten.
»Ich werde nicht ruhen, bis diesem Teufel, der all das verschuldet hat, das Handwerk gelegt wird! Diejenigen, die gegen ihn sind, werde ich mit aller Kraft unterstützen. Ich werde Matteos Werk fortführen.«
»Damit bringst du dich in große Gefahr, Eleonore«, warnte Francesco.
»Das ist mir einerlei. Savonarola hat mein Leben zerstört, er ist es nicht wert, weiterzuleben und seine falschen Heilslehren auch künftig zu verbreiten.«
Francesco seufzte.
»Was mich betrifft, so bin ich ein Geselle ohne Meister. Leider habe ich nichts anderes gelernt als das Gerber- und das Malerhandwerk. Um mir eine Werkstatt zu mieten oder zu kaufen, fehlt es mir an Mitteln.«
»Ich könnte …«, fing Eleonore an.
»Nein, liebe Cousine, dann würde ich auf ewig in deiner Schuld stehen. Ich werde versuchen, zu Botticelli zurückzukehren. Vielleicht hat sich sein Zorn inzwischen abgekühlt. Du weißt, ihm verdanke ich alles!«
»Aber er ist ein Anhänger Savonarolas!«, rief Eleonore.
»Nicht alles, was Savonarola gepredigt hat, ist falsch«, gab Francesco zu bedenken und zuckte die Achseln. »Er hat die Simonie angeprangert, die Käuflichkeit von Ämtern, die Verderbtheit der Sitten, die Scheinheiligkeit des Papstes. Das war und ist gut. Hast du dich nicht ebenfalls bereit erklärt, den Armen zu geben, Eleonore? Du bist doch die Großzügigkeit selbst, ohne dich hätten wir diesen Sommer nicht überlebt. Und du bist ein Vorbild an Eleganz und Lebensfreude. Diese Dinge schließen sich nicht aus, für mich nicht. Ich muss zurückkehren und versuchen, Botticelli davon zu überzeugen, dass die Kunst nicht nur düstere, religiöse Themen zum Inhalt haben muss. Wenn einer das schaffen kann, dann ich.«